WASHINGTON: Harvey Todd war so klein, daß man ihn mit Alexander Hamilton hätte vergleichen können, einem der Väter der amerikanischen Verfassung. Wie Hamilton hatte er in seinem Leben nie ein öffentliches Amt bekleidet, in das man gewählt wurde. Er hatte ein jungenhaftes, freundliches Gesicht, modisch geschnittenes sandfarbenes Haar und stand im Ruf, dynamisch und rücksichtslos zu sein. Noch keine fünfunddreißig Jahre alt, arbeitete in der Regierung mit, seit er in seiner College-Zeit einer der unermüdlichen jungen Männer in der Wahlkampagne einer schrillen Lehrerin aus New Jersey gewesen war, die es damals zur Kongressabgeordneten gebracht hatte.
Nun war diese Kongressabgeordnete Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten, und Harvey Todd war ihr Berater für Wissenschaft und Technik. Er verbrachte seine Zeit bereits jetzt größtenteils damit, ihre Vorwahlen im nächsten Jahr vorzubereiten.
Todd schien sich wohlzufühlen, als er Alberto Brumado an dem kleinen Tisch gegenübersaß. Die Mittagsgäste des Restaurants im Jefferson Hotel unterhielten sich leise und gedämpft, als würde sich jeder vollbesetzte Tisch im Flüsterton über seine ganz eigenen Geheimnisse austauschen; die Menschen hockten in tiefen, luxuriösen, gepolsterten Sitznischen, so daß es nahezu unmöglich war zu sehen, wer mit wem zusammensaß.
Brumado trank einen Schluck aus seinem tulpenförmigen Glas mit portugiesischem vinho verde. Er nahm den Geschmack des Weines kaum wahr, so sehr konzentrierte er sich auf das, was Todd sagte.
»Ich habe ein Exemplar der Rede mitgebracht.« Der Berater der Vizepräsidentin zog eine winzige Computerdiskette aus der Innentasche seines Jacketts und legte sie auf das Tischtuch aus Damast. »Ich denke, sie wird Ihnen gefallen.«
»Akzeptiert die Vizepräsidentin, daß weitere Missionen zum Mars erforderlich sind?« fragte Brumado und beugte sich ein wenig vor.
»Ohne jede Einschränkung.«
»Wunderbar.« Brumado streckte die Hand nach der Diskette aus.
Todd bedeckte sie mit seiner Hand. »Hat der Indianer sein Statement zur Unterstützung der Vizepräsidentin geschrieben?«
»Noch nicht. Er hatte ziemlich viel zu tun.«
Todd zog die Diskette wieder zurück. »Nun, wenn Sie mir seine schriftliche Erklärung zeigen können, kann ich Ihnen die Rede der Vizepräsidentin zeigen.«
»Ich verstehe.«
»Ich habe die Ansprache zum NASA-Jahrestag angesetzt, wie Sie vorgeschlagen haben. Ihr Indianer hat nicht mehr viel Zeit, uns seine Erklärung zukommen zu lassen.«
»Er wird es schon tun. Sobald er von seiner Exkursion zum Tithonium Chasma zurückkommt.«
»Wohin?«
»Zum Grand Canyon des Mars.«
»Ach ja, richtig. Natürlich. Der wissenschaftliche Jargon bringt mich immer völlig durcheinander.«
Brumado produzierte ein verständnisvolles Lächeln.
In Todds jungenhaftem Gesicht saßen die suchenden, tastenden Augen eines Opportunisten. »Ihnen ist natürlich klar, daß die Sache ins Wasser fällt, wenn es bis zu dem Termin, an dem die Ansprache gehalten werden soll, irgendeine Katastrophe gibt. Ich kann nicht zulassen, daß sie auf ein totes Pferd setzt.«
»Ich weiß«, erwiderte Brumado, »daß kein Politiker mit einem Fehlschlag identifiziert werden will.«
»Falls die Mission andererseits ein großartiger Erfolg werden sollte… wenn sie da oben irgendwas Lebendiges fänden, wäre dem Projekt Unterstützung auf der ganzen Linie gewiß.«
»Im Moment suchen sie gerade nach Leben.«
»Wäre gut, wenn sie irgendwas entdecken würden. Selbst wenn es nur ein winziger Hinweis ist, sollen sie uns benachrichtigen, daß sie was gefunden haben und daß es so aussieht, als hätte es dort früher mal Leben gegeben. Das wäre vielleicht sogar noch besser, als wenn sie richtiges Leben auf dem Mars fänden.«
»Sie werden finden, was sie finden«, sagte Brumado.
Todd grinste ihn an. »Das stimmt. Ihre Leute sind Wissenschaftler, nicht wahr? Die geben ihren Berichten niemals eine bestimmte Färbung, habe ich recht?«
Die Implikation gefiel Brumado nicht, ebensowenig wie der verschlagene Gesichtsausdruck des jungen Mannes.
Todd beugte sich näher zu dem Brasilianer und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Wissen Sie, wenn die tatsächlich irgendwas Spektakuläres finden, eine alte Stadt oder so, würde das Ihrem Indianer praktisch alle Türen öffnen.«
»Er will nur, daß die Vizepräsidentin weitere Missionen unterstützt.«
»Das meine ich nicht«, sagte Todd mit einer ungeduldigen Geste. »Ich meine, er könnte mit mir zusammenarbeiten. Er könnte sogar für ein Regierungsamt kandidieren.«
»Ich bin sicher, daß ihm nichts ferner liegt als das.«
Todd lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und richtete den Blick an die Decke. »Wissen Sie, die Vizepräsidentin wird von der Partei nicht automatisch nominiert werden. Sie muß sich auf die harte Opposition von Masterson und seiner Koalition einstellen.«
»Mit der amerikanischen Politik kenne ich mich nicht sehr gut aus«, murmelte Brumado.
Der junge Mann sagte beinahe verträumt: »Sagen Sie Ihrem Indianer, wenn er da oben was richtig Gutes findet, stehen ihm bei seiner Rückkehr alle Türen offen. Er könnte beim Nominierungsparteitag sogar das Zünglein an der Waage sein, wissen Sie das?«
Brumado war nicht sicher, daß er richtig gehört hatte. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Vizepräsidentin im Stich lassen würden, wenn es Ihnen zweckdienlich erschiene?«
»O nein, natürlich nicht!« Todd lächelte wie eine Kobra.
»Aber das Wichtigste ist schließlich, daß die Partei den Mann –
ich meine, den Kandidaten oder die Kandidatin – nominiert, der oder die die Wahl im November gewinnen kann. Habe ich recht?«
Brumado wohnte nicht im Jefferson Hotel. Es war bei weitem zu teuer für ihn. Während dieser Wochen in Washington wohnte er im Haus eines Freundes in Georgetown, der im Auftrag des State Department in Südafrika weilte. Es war ein nettes altes rotes Backsteinhaus im Kolonialstil, hübsch möbliert und mit einem Koch und einem Butler ausgestattet.
Edith Elgin wohnte auch dort. Beinahe.
Als Edith in Washington aufgetaucht war, hatten bei Brumado sämtliche Alarmglocken geklingelt.
»Doktor Waterman hat doch auf Ihre Botschaft geantwortet, oder nicht?« hatte er Edith gefragt.
Sie hatte ihn bei einer Anhörung vor einem Kongressausschuß aufgespürt und ihn aus dem Capitol und die Maryland Avenue hinunter zum NASA-Hauptquartier begleitet. Die Bäume waren noch grün und standen in voller Blüte, die Sonne war warm und der Himmel strahlend blau. Doch in der Brise lag eine gewisse Schärfe, der erste Hauch der kommenden Herbstkälte.
»O ja, natürlich. Es war aber eine ziemlich unpersönliche Botschaft.« Sie lachte unbeschwert. »Eher ein wissenschaftlicher Bericht als eine Nachricht von einem Freund.«
Brumado musterte sie eingehend, während sie nebeneinander hergingen. »Sie waren mehr als Freunde, nehme ich an.«
Sie erwiderte seinen unverwandten Blick. »Ja, waren wir.
Aber wir wußten beide, daß es zu Ende sein würde, wenn er zum Mars flog.«
»Ich verstehe.«
Sie schlenderten langsam dahin. Für die Passanten sahen sie fast wie Vater und Tochter aus, obwohl Fußgänger in der Gegend um den Capitol Hill daran gewöhnt waren, ältere Männer mit gutaussehenden jungen Frauen zu sehen. Brumado trug einen konservativen, doppelreihigen grauen Nadelstreifenanzug, Edith einen dunklen, mittellangen Rock, eine grauweiße Bluse und einen scharlachroten Blazer.
»Ich wüßte gern, ob ich Sie interviewen könnte«, sagte Edith.
»Über einige Dinge nämlich, die Jamie mir erzählt hat.«
»Für Ihr Network?« fragte Brumado.
»Es würde mir helfen, einen festen Job zu ergattern.«
Sie blieben an einer Ampel stehen. Brumado hatte Jamies Botschaft an sie gesehen. Es gab keine privaten Sendungen vom Mars; alles wurde von Projektfunktionären gesichtet.
»Sie wollen eine große Story aus Watermans Wunsch machen, den Missionsplan zu ändern und eine Exkursion zum Grand Canyon zu unternehmen«, sagte er.
Sie gab es sofort zu. »Ich kann auch Jamies Band allein verwenden, wenn es sein muß. Aber es wäre mir lieber, wenn Sie und vielleicht ein paar Projektadministratoren die Geschichte aus Ihrer persönlichen Sicht erzählen würden.«
Die Ampel sprang um. Brumado packte Edith am Arm, als sie über die Straße eilten. Er dachte in rasender Eile nach. Diese Frau konnte alles zerstören. Sie konnte die Vizepräsidentin wieder auf den Kriegspfad bringen.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er, als sie sicher auf der anderen Straßenseite angelangt waren.
»Einen Vorschlag?« Edith lächelte ihn an.
»Ich schlage vor, wir treffen eine Abmachung«, sagte Brumado. »Sie können bei mir bleiben und bekommen alle Informationen über die Expedition, die Sie haben wollen – wenn Sie versprechen, nichts zu veröffentlichen, bis das Team wieder wohlbehalten auf der Erde ist.«
Edith runzelte verwirrt die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe…«
»Sie können die inoffizielle Biographin der Marsmission werden. Dorthin gehen, wohin ich gehe. Keine Türen werden Ihnen verschlossen sein. Sie werden alles sehen und jeden kennenlernen.«
»Aber ich kann nichts davon über den Sender schicken, bis die Mission beendet ist. Ist es so?«
»So ist es.«
Brumado merkte, daß er sie immer noch am Arm festhielt. Er ließ sie nicht los.
Edith dachte an Howard Francis in New York und sagte langsam: »Ich weiß nicht, ob sich das Network auf eine solche Abmachung einlassen wird.«
Brumado setzte sein wärmstes Lächeln auf. »Die haben Dutzende von Reportern, die über die Mission berichten«, beschwatzte er sie. »Aber diese betrachten das Projekt allesamt von außen. Wenn Sie bereit sind, mit mir zusammenzuarbeiten, werden Sie innen sein – kein anderer Journalist genießt ein derartiges Privileg.«
»Aber ich dürfte keine Berichte abliefern…«
»Nicht, solange die Mission nicht beendet ist. Danach können Sie die ganze Geschichte verkaufen. Die Insider-Geschichte. Sie werden Informationen und Interviews haben, die kein anderer Reporter jemals bekommen würde.«
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich werde New York fragen.«
New York hatte sich natürlich geradezu auf die Abmachung gestürzt. Howard Francis träumte sofort von Nachrichten-Sondersendungen, die keines der anderen Networks bringen konnte. »Und wenn es sein muß«, hatte er Edith erklärt, »können wir sie jederzeit linken und mit irgendeiner richtig großen Sache rauskommen, bevor die anderen Korrespondenten überhaupt wissen, was los ist!«
Daher lebte Brumado nun seit Wochen praktisch mit Edith Elgin zusammen und führte sie überall als inoffizielle Biographin des Projekts ein. Die anderen Networks beschwerten sich; die Printmedien veranstalteten ein Riesengeschrei. Aber Edith blieb bei Brumado. Sie reisten miteinander, aßen miteinander, verbrachten jeden Tag miteinander.
Außer bei seinem Lunch mit Harvey Todd. Der Berater der Vizepräsidentin hatte darauf bestanden, daß ihr Treffen strikt unter vier Augen stattfand.
Als Brumado mit dem Taxi allein nach Georgetown zurückfuhr, fragte er sich, wie lange er Edith noch einen Maulkorb umlegen konnte. Die Abmachung zwischen ihnen war sehr einfach gewesen, als er sie vorgeschlagen hatte. Aber nun wurde die Lage komplizierter. Eine der Komplikationen war die Vizepräsidentin. Eine andere war Harvey Todd und sein Ehrgeiz, trotz seiner vorgeblichen Loyalitäten hinter dem siegreichen Kandidaten zu stehen. Die brisanteste Komplikation war Edith selbst. Sie war jung, ganz reizend und sehr begehrenswert. Aber Brumado konnte sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, was sie betraf. Würde sie mit ihm ins Bett gehen oder ihn abweisen? Würde es sie enger an ihn binden oder ihre Distanz zu ihm eher vergrößern, wenn er mit ihr zu schlafen versuchte?
Er lächelte vor sich hin, während das Taxi sich durch die schmale, verstopfte Wisconsin Avenue schlängelte. Vielleicht geht sie weg, wenn ich nicht versuche, sie zu verführen. Vielleicht erwartet sie von mir, daß ich mit ihr schlafe.
Er schüttelte den Kopf. Nein. Sie ist intelligenter. Und gefährlicher.
Das Taxi fuhr vor dem roten Backsteinhaus in Georgetown an den Straßenrand. Edith hatte ein Zimmer im nahegelegenen Four Seasons Hotel und ein üppiges Spesenkonto. Tatsächlich bezahlte sie ihre Mahlzeiten meistens selbst und trug auch ihre gesamten Reisekosten.
Brumado lachte in sich hinein, als er die Treppe hinaufging und in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel suchte.
Warum soll ich nicht mit ihr schlafen? Es denken doch sowieso schon alle, daß ich es tue. Das macht den Kohl nun auch nicht mehr fett.