SOL 14 NACHMITTAG

Jamie war beim Mittagessen ungewöhnlich schweigsam und schlecht gelaunt gewesen, dachte Reed. Selbst für unseren stoischen roten Mann ist er reichlich still und in sich gekehrt.

Reed saß am Schreibtisch seines Krankenreviers und grübelte über Jamies Gespräch mit Brumado nach. Der Kerl ist wirklich unverschämt, dachte Tony beinahe bewundernd. Welche inneren Dämonen ihn auch immer treiben, er besitzt die Frechheit, Forderungen an Brumado persönlich zu stellen. Und an die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten.

Reed lächelte in sich hinein und dachte: Wenn ich auch nur ein bißchen Glück habe, wird er auf das Schiff im Orbit verbannt, und ich habe Joanna für mich. Es würde nicht einfach sein, aber er würde es schaffen, wenn der Kerl von der Bildfläche verschwunden war. Er spürte eine heftige Erregung bei dem Gedanken, die Kleine im Bett zu haben.

Tonlos vor sich hinsummend, tippte Reed auf seiner Tastatur und rief das Nachmittagsprogramm auf. Sechs der sieben Wissenschaftler sollten mit der Vermessung der Dicke und Ausdehnung der unterirdischen Permafrostschicht fortfahren.

Langweilige Arbeit. Toshima, der siebte, würde in der Kuppel bleiben und mit seinen meteorologischen Meßgeräten arbeiten.

Reed hatte keine Aufgaben draußen im Freien zu erfüllen; einer der Vorteile, wenn man Teamarzt ist, sagte er sich.

Tony holte sich sein persönliches Missionsprogramm auf den Computerbildschirm und sah, daß es an der Zeit für seine wöchentliche Inventur der pharmazeutischen Vorräte war. Mit einem kaum unterdrückten gelangweilten Stöhnen machte er sich daran, die Bestände an Schmerzmitteln und Vitaminen zu überprüfen. Danach waren die Muntermacher und die Beruhigungsmittel an der Reihe. Bei denen muß ich besonders aufpassen. Nicht daß mir die Leute noch drogenabhängig werden.

Pock!

Das Geräusch schreckte ihn auf. Was in aller Welt war das?

Reed spitzte die Ohren, hörte aber nichts mehr, nur das übliche Summen der Maschinen und die fernen, gedämpften Stimmen der anderen. Achselzuckend konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit.

Er ging die Schmerzmittel-Datei durch. Der Verbleib jeder Aspirintablette mußte erklärt werden. Niemand durfte sich selbst auch nur eine einzige nehmen; nur der Teamarzt konnte die Tabletten verteilen, und er mußte präzise Buch darüber führen, wer was bekommen hatte.

Vitamine nahmen sie natürlich alle. Reed zog den Kasten mit den Vitaminflaschen aus dem Gestell im Container und schleppte ihn zu seinem Schreibtisch. Vier große Flaschen mit jeweils fünfhundert Pillen. Schon eine deckte den gesamten täglichen Vitaminbedarf einer Person; zweitausend auf die Oberfläche mitzunehmen, war typischer Missions-Overkill.

Mit einem Lichtstift begann Reed, die Strichcodes zu überprüfen, die auf die Deckel der Gefäße gedruckt waren, so wie eine Kassiererin im Supermarkt die Lebensmittel eingibt. Verdammt alberne Beschäftigung, knurrte er in sich hinein. Aber wenn der Computer nicht anzeigte, daß das Inventar Flasche für Flasche überprüft worden war, würde Wosnesenski an die Decke gehen. Alle Missionsaufgaben mußten genauestens erfüllt werden, wenn es nach dem Russen ging, ganz gleich, wie belanglos oder langweilig sie waren.

Dann kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke. Wenn Jamie seinen Kopf durchsetzt und zum Grand Canyon zurückkehrt, dann wird er Joanna wahrscheinlich mitnehmen wollen. Sie ist immerhin die Missionsbiologin. Der Teufel soll ihn holen, fauchte Reed stumm. Es muß eine Möglichkeit geben, diese unverschämte Rothaut von der brasilianischen Prinzessin zu trennen. Hoffentlich verbannen sie den Kerl in den Orbit.

Pock! Wieder das Geräusch, nur diesmal leiser. Was konnte das sein? fragte sich Reed, als er die erste Vitaminflasche aufschraubte. Ich könnte die Kapseln auch gleich in die kleineren Flaschen umfüllen, wenn ich sie eh schon heraushole. Tony schimpfte stumm über die Effizienzexperten, die die Missionslogistik geplant hatten; es war ihnen entgangen, daß diese riesigen Flaschen nicht in die Borde der Kombüse paßten. Deshalb mußte er die Vitaminkapseln per Hand in kleinere Gefäße umfüllen. So ein Schwachsinn.

Pock! Pock!

Reed sprang auf und stieß dabei die offene Flasche um. Vitaminpillen ergossen sich über den Schreibtisch, rollten auf den Fußboden.

»Alle Mann in die Anzüge!« dröhnte Wosnesenskis schwere Stimme durch die Kuppel. »Sofort! Zieht eure Anzüge an! Auf der Stelle! «

Kosmonaut Leonid Tolbukhin, der im Kommandozentrum der Mars 2 Dienst tat, richtete sich in seinem Stuhl kerzengerade auf, als das erste Ping ertönte. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Oberlippe.


Mein Gott, das muß an mir liegen, dachte er. Ich bin verhext, ich bringe nur Unglück. Erst Konoye und nun das.

Doch obwohl seine Gedanken rasten, bewegten sich seine Hände beinahe genauso schnell. Er schaltete den Radarschirm ein und gab wie aus einem Reflex heraus fast sofort Alarm.

»Meteoriten! Wir geraten in einen Meteoritenschwarm!«

schrie er so aufgeregt ins Mikrofon der Gegensprechanlage des Schiffes, daß er dabei ins Russische verfiel.

Will Martin, der amerikanische Geophysiker, saß zufällig gerade an der Kommunikationskonsole und überspielte ein Band mit einem langen Bericht zur Erde.

»Was ist?« rief er über das Blöken des Alarms hinweg. »Sprechen Sie Englisch, verdammt!«

»Meteoriten!« rief Tolbukhin zurück. »Ziehen Sie sofort Ihren Anzug an!«

Wosnesenski war im Kommandozentrum der Kuppel in ein Gespräch mit Mironow und Abell über die Logistik der bevorstehenden Exkursion zum Pavonis Mons vertieft, obwohl er eigentlich die Wissenschaftler überwachen sollte, die mit Pete Connors draußen waren. Er hatte die ersten leisen, warnenden Geräusche nicht gehört, mit denen die Meteoriten auf die Au

ßenhülle der Kuppel geprallt waren.

Sowohl die Kuppel als auch die Raumschiffe in der Umlaufbahn besaßen doppelte Wände; bei den Schiffen bestanden sie aus Metall, bei der Kuppel aus Kunststoff. Obwohl die Marsatmosphäre so dünn war, daß sie nach irdischen Maßstäben so gut wie gar nicht vorhanden war, bot sie abstürzenden Meteoriten so viel Widerstand, daß die meisten von ihnen zu Asche verbrannten, lange bevor sie den Boden erreichten.


Den Missionsplanern zufolge drohte die größte Gefahr von Meteoriten, die fast senkrecht von oben herabstürzten: Sie hatten die meiste Energie, überstanden aller Wahrscheinlichkeit nach die flammende Hitze ihres Ritts durch die Atmosphäre und waren am Boden immer noch groß genug, um Schaden anzurichten. Meteoriten, die in flacherem Winkel herunterkamen, mußten einen längeren Weg in der Atmosphäre zurücklegen und brannten auf jedem Zentimeter dieser Strecke. Deshalb war die Doppelwand der Kuppel in der oberen Hälfte mit einem schwammartigen Plastikmaterial gefüllt, das die Energie eines Einschlags absorbieren konnte.

Tolbukhins Warnung, die überall in den Schiffen im Orbit zu hören war, plärrte auch aus den Lautsprechern der Funkanlage in der Kuppel.

Wosnesenski unterbrach sich mitten im Satz und brüllte:

»Alle Mann in die Anzüge! Sofort! Zieht eure Anzüge an! Auf der Stelle!«

Erst als er zu den Anzugspinden bei der Luftschleusensektion losgerannt war, spürte der Russe die Angst wie eine kalte Faust in seiner Brust.

Connors war der erste, der die winzige Staubwolke bemerkte, die vom Boden aufstob, als ob eine Gewehrkugel eingeschlagen wäre. Der Astronaut kniff die Augen zusammen, beobachtete, wie der Staub langsam wieder zu Boden sank, und dachte: Gut, daß er nichts getroffen hat, was…

Eine weitere Staubwolke spritzte zehn Meter entfernt auf.

»Jesus Christus!« rief er in sein Helmmikrofon. »Meteoriten!

Alle Mann zurück in die Kuppel! Sofort!«

Die sechs Geo- und Biowissenschaftler hatten sich auf der steinübersäten Ebene etliche hundert Meter weit verteilt und versuchten, die Dicke der Permafrostschicht unter der Oberfläche detailliert zu vermessen. Die Arbeit ging nur langsam voran, weil sie alles zu Fuß machen mußten. Sämtliche Exkursionen in den Rovern waren vorläufig ausgesetzt worden, bis die Flugkontrolle entschieden hatte, wohin die Rover nun genau fahren durften.

Jamie hielt eine Bohrstange in der Hand, deren gezahntes Bohrende sich in den Boden fraß. Bei Connors’ lauter Warnung richtete er sich ruckartig auf. Der Bohrer an der Stange blieb stehen, als seine behandschuhten Hände die Kontrolltaste losließen, und die Stange ragte schief aus dem Loch im Boden.

Jamie erfaßte mit einem raschen Blick, wo sich die anderen fünf Wissenschaftler befanden. Connors war rechts von ihm, auf halbem Wege zwischen ihm und der Luftschleuse der Kuppel. Joanna war weiter entfernt; sie kämpfte mit ihrem Kernbohrer.

»Los! Macht schon! Macht schon!« Connors brüllte so laut, daß Jamie die Ohren wehtaten. »Los! Los! Los! In die Kuppel!«

Jamie lief zu Joanna hinüber und sah, daß die anderen Gestalten in den Raumanzügen sich schwerfällig wie eine kleine Herde bunter Nilpferde in Bewegung setzten. Eine Staubwolke spritzte in Joannas Nähe auf, aber sie schien es nicht zu bemerken. Er lief auf sie zu, so schnell er konnte, und kam sich dabei wie eine galoppierende Schildkröte vor; gleichzeitig fummelte er an den Helmfunkreglern an seinem Handgelenk herum, um Connors’ drängende Stimme leiser zu stellen.

Er kam bei Joanna an, als diese sich endlich Richtung Kuppel in Bewegung setzte. Jamie bremste ein wenig ab, um sich ihrem Tempo anzupassen. Er wußte, daß er nicht mit ihr sprechen konnte, weil Connors die Anzug-zu-Anzug-Frequenz mit seinem Gebrüll überflutete. Statt dessen streckte er die Hand aus und berührte sie an der Schulter. Durch das getönte Visier ihres Helms konnte er ihr Gesicht nicht sehen; er konnte nicht erkennen, wieviel Angst sie hatte. Dann merkte Jamie, daß er selber Angst hatte; er war in kalten Schweiß gebadet und zitterte.

Überall um sie herum stoben Staubwolken vom Boden auf, als ob ein Trupp Gewehrschützen sie unter Feuer genommen hätte. Etwas knallte hinten gegen seinen Helm; eigentlich war es nur ein leises Klopfen, aber er erschrak so sehr, als hätte er eine Kugel abbekommen. Er blickte auf und sah, daß die Kuppel hier und dort von auftreffenden Meteoriten eingeteilt wurde. O mein Gott, wenn einer von ihnen die Wand durchschlägt…

Einer tat es. Jamie sah, wie das transparente Material im unteren Bereich der Kuppel einen Moment lang Falten warf, dann spritzte ein kleiner Geysir aus Gischt in die trockene, dünne Luft, als würde ein Wal blasen.

»Die Kuppel hat ein Loch!« schrie jemand.

Das Loch wurde größer, entwickelte sich zu einem klaffenden Riß; feuchte Luft schoß in die Marsatmosphäre hinaus, und das Kunststoffmaterial der Kuppel begann durchzusacken.

Nachdem er in diesem ersten Augenblick einer Panik nahe gewesen war, überkam Wosnesenski eine kalte Ruhe. Während die anderen zu ihren Anzügen rannten, bog er ab, lief innen an der Peripherie der Kuppel entlang und vergewisserte sich, daß die Reparaturflicken noch dort waren, wo sie hingehörten. Er hatte die Flicken erst einen Tag zuvor im Rahmen seiner regulären Routineinspektion kontrolliert. Aber nun überprüfte er sie erneut, während ein Hagel von Pock-Pock-Geräuschen sanft über seinem Kopf niederging, beinahe übertönt von den ängstlichen Stimmen von Toshima und den anderen Flüchtenden, die sich verzweifelt bemühten, in ihre Anzüge zu kommen.

Er sah nicht, wie die Kuppel ein Loch bekam. Der Meteorit, der beide Kunststoffschichten durchschlug, war ein fast mikroskopisch kleines Staubkorn. Aber Wosnesenski hörte ein anderes Geräusch, als würde jemand abrupt und heftig Atem holen – ein Laut, wie ihn ein Mensch von sich gibt, wenn er in die Brust gestochen wird.

Er spürte den Zug, als die Luft in der Kuppel zu dem Loch strömte. Bücher flatterten offen im Wind; lose Papiere flogen wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel in der Kuppel umher.

Das Zischen wurde lauter, entwickelte sich zu einem Seufzen, einem rauschenden Luftstrom.

Wosnesenski wirbelte herum und sah, wie Dutzende der leichten Reparaturflicken vom Boden abhoben und an die Kuppelwand gesaugt wurden. Dort blieben sie platt und mit wild flatternden Rändern kleben, als die Luft an ihnen vorbeirauschte und aus der Kuppel entwich. Die Kunststoffwände zwischen den steifen Stützrippen der Kuppel sackten ein. Die Wand riß wesentlich schneller auf, als die Flicken das Loch schließen konnten.

Mit knackenden Ohren und klopfendem Herzen rannte Wosnesenski zu der Stelle, bückte sich, um weitere Reparaturflicken aufzuheben, und knallte sie auf das größer werdende Loch. Sie rutschten herunter, wollten nicht haften. Sie flatterten immer noch, und Wosnesenski hörte die Luft in der Kuppel inzwischen brüllen, wie sie in das Beinahe-Vakuum drau

ßen hinausrauschte. In ein paar Minuten würde nichts mehr von ihr übrig sein. Die Kraft des entweichenden Windes zerrte an ihm, versuchte, ihn durch das Loch in der Wand ins tödliche Freie hinauszusaugen.

Ohne ein Wort zu sagen oder jemanden zu rufen, kämpfte er sich breitbeinig zum Zentrum der Kuppel zurück, stemmte sich gegen den Wind, taumelte wie ein Betrunkener, bahnte sich mühsam seinen Weg an den Arbeitsplätzen der Wissenschaftler vorbei, umging Stühle in der Messe, die achtlos irgendwo stehengelassen worden waren. Seine Ohren schrien vor Schmerz, als ob jemand Eispickel in sie hineingetrieben hätte.

Das Lebenserhaltungssystem. Pumpen, die trockene, kalte Marsluft ansaugten. Abscheider, die den spärlichen Stickstoff und den noch spärlicheren Sauerstoff aus der hiesigen Atmosphäre gewannen. Weitere Pumpen, die das Stickstoff-Sauerstoff-Gemisch so verdichteten, daß Menschen es atmen konnten. Zylinder mit Sauerstoffreserven für den Notfall.

Er mußte den Sauerstoff erreichen. Wosnesenski ging die Reihe der grünen, mannshohen Sauerstofftanks entlang, drehte ihre Ventile ganz auf, erzeugte einen Überdruck aus reinem Sauerstoff in der Kuppel, so schnell er konnte. Er mußte Sauerstoff in die Kuppel pumpen, die verlorengehende Luft ersetzen. Es war ein Wettlauf, und er durfte ihn nicht verlieren. Der höhere Druck würde vielleicht sogar die Reparaturflicken fester auf das Leck drücken. Zuallermindest würde er ihnen noch ein paar Minuten Zeit verschaffen.

Doch selbst über das zischende Rauschen des entweichenden Sauerstoffs hinweg konnte er das Pock, Pock hören.


In einem Blizzard von Papieren, die durch die Kuppel wirbelten, arbeitete er sich wieder zu dem Riß in der Wand vor.

Als er dort ankam, war Abell in seinem weißen Raumanzug zur Stelle und sprühte so gelassen wie ein Maler, der eine Wohnzimmerwand streicht, Epoxy auf die Reparaturflicken.

»Ich habe den Notsauerstoff aufgedreht«, sagte Wosnesenski atemlos. Seine Brust brannte wie Feuer.

»Gut«, sagte Abell. Es war das Standardverfahren bei einem Notfall.

Der Wind hatte sich gelegt. Das Kreischen der entweichenden Luft war leiser geworden. Wosnesenski keuchte, aber aus Furcht und Erschöpfung, nicht, weil er zuwenig Sauerstoff bekam.

»Haben die anderen ihre Anzüge an?«

Abell drehte sich zu ihm um, ein gesichtsloser Roboter in rostfleckigem Weiß. »Mhm. Sie sollten Ihren auch anziehen, Mike.«

»Ja, ja.« Wosnesenski sah, daß die Flicken nicht mehr flatterten. Sie klebten flach an der gekrümmten Wand. »Was ist mit den Leuten draußen?«

»Sie kommen durch die Luftschleuse herein. Soviel ich weiß, ist niemand verletzt worden.«

»Gut. Also, wenn wir nicht noch einmal getroffen werden…«

»Sie sollten Ihren Anzug anziehen«, mahnte Abell.

»Ja. Natürlich.«

Als Wosnesenski jedoch endlich in seinem Anzug steckte, hörte er keine Geräusche von Meteoriten mehr, die die Kuppel trafen. Er stapfte unbeholfen zur Kommunikationskonsole und sah auf dem Bildschirm, daß Tolbukhin in der Umlaufbahn immer noch Dienst tat und nach wie vor seinen Overall trug.

Seine Achselhöhlen waren dunkel vor Schweiß.

Dr. Li streckte seine langen Beine, so weit es die Schmerzen zuließen, und wackelte mit den nackten Zehen, bis der Krampf in seiner linken Wade nachließ. Zwei Stunden in einem Raumanzug, der ihm ohnehin nie richtig gepaßt hatte, waren mehr, als sein Körper ertragen konnte.

Seufzend versuchte er, sich in dem Ruhesessel zu entspannen. Er trank einen Schluck Tee aus der zarten Porzellantasse, die er mitgebracht hatte, schaute auf die Seidenmalereien an den Wänden seiner Kabine und wartete darauf, daß sie ihren beruhigenden Zauber ausübten.

Es ist niemand verletzt worden, wiederholte er in Gedanken zum hundertsten Mal. Alle Notfallprozeduren sind genauso abgelaufen, wie sie geplant waren; die gesamte Notfallausrüstung hat ordentlich funktioniert. Wir haben den Meteoritenschauer sogar ohne jeden Schaden an unserer Ausrüstung überstanden, abgesehen von einem kleinen Loch in der Kuppel, das rasch verschlossen worden ist, und dem Schlag, den die Hauptkommunikationsantenne der Mars 1 abbekommen hat, aber die Astronauten werden hinausgehen und sie reparieren.

Die Meteoritengefahr war auf der Erde sorgfältig berechnet worden; sie lag irgendwo in der Größenordnung von eins zu einer Billion. Und dieser spezielle Meteoritenschauer war ein unbekannter, nicht verzeichneter Bursche gewesen, bis er plötzlich über sie hereingebrochen war. Zumindest sollten wir jetzt für rund hundert Millionen Jahre Ruhe haben, sagte sich Li.


Er lächelte beinahe, als ihm zu Bewußtsein kam, daß er nun die Entdeckung eines neuen Meteoritenschwarms für sich reklamieren konnte, der so klein und unbedeutend war, daß man ihn auf der Erde noch nicht einmal registriert hatte. Aber hier draußen war er nicht so klein und unbedeutend. Wir sind verwundbar hier, erkannte Dr. Li. Sehr verwundbar.

Er hatte angeordnet, daß regelmäßige Radarscanning vorgenommen werden sollten, während sie um den Mars kreisten.

Wir können Meteoriten nicht ausweichen, aber wir gewinnen vielleicht ein wenig Vorwarnzeit, falls es noch so einen Schauer gibt. Und wir können Daten über die Meteoritendichte in der Umgebung des Mars sammeln; das dürfte die Astronomen zu Hause freuen.

Er rieb sich den Nacken und versuchte immer noch, sich nach diesem langen, schrecklichen, furchterregenden Tag zu entspannen. Niemand ist ums Leben gekommen, sagte er sich ein weiteres Mal. Niemand hat auch nur einen körperlichen Schaden davongetragen, abgesehen von diesem gräßlichen Krampf im Bein. Keine Ausrüstungsgegenstände beschädigt, bis auf die Antenne. Das Team auf dem Boden hat überlebt, ohne daß es irgendwelche Probleme gegeben hätte, die über ein einzelnes kleines Loch und eine verschüttete Flasche Vitaminpillen hinausgehen.

Und jetzt erstatte ich Kaliningrad über alles Bericht.

Sie hatten Stunden gebraucht, um das Durcheinander in der Kuppel aufzuräumen. Mironow und Connors waren nach draußen gegangen, um den Riß in der Außenwand zu versiegeln, während Wosnesenski und Abell jeden Quadratzentimeter der Innenwand nach Beschädigungen überprüft hatten. Sie hatten keine gefunden.

Nun saßen alle zwölf Mitglieder des Teams in der Messe, körperlich und seelisch erschöpft nach dem Adrenalinstoß des Nachmittags. Dem Plan zufolge war es Zeit für das Abendessen, aber niemand dachte ans Essen. Statt dessen hatte Wosnesenski eine Flasche Wodka aus seiner Unterkunft geholt, die er seit ihrem zweiten Abend auf dem Mars nicht mehr angerührt hatte.

»Für medizinische Zwecke«, sagte er, als Tony Reed fragend eine Augenbraue hochzog. Die anderen eilten sofort zu ihren Kabinen, um ihre eigenen versteckten Flaschen auszugraben.

Der erste Toast galt Wosnesenski.

»Auf unseren unerschrockenen Anführer«, sagte Paul Abell, die Hand hoch erhoben, »der unter Lebensgefahr die Sauerstofftanks aufgedreht und die Kuppel vor dem Kollaps bewahrt hat.«

»Ungeachtet seiner eigenen Sicherheit«, fügte Toshima hinzu.

»Und vor allem, ungeachtet seiner eigenen Sicherheitsvorschriften«, scherzte Connors.

Wosnesesnkis Miene verdüsterte sich ein wenig. »Wir müssen die Sauerstofftanks modifizieren, so daß ihre Ventile sich automatisch öffnen, wenn der Luftdruck hier drin unter einen bestimmten Wert absinkt.«

»Ich glaube nicht, daß wir die Ausrüstung haben, so etwas auch nur provisorisch hinzukriegen«, meinte Connors.

»Ich werde das Inventar überprüfen«, erbot sich Mironow freiwillig. »Vielleicht schaffen wir es mit dem überschüssigen Material, das wir hier und in den Raumschiffen oben haben.«


Wosnesenski nickte zufrieden. Aber seine Miene war nach wie vor finster.

»Haben Sie noch Schmerzen, Mikhail Andrejewitsch?« fragte Reed.

Der Russe schaute beinahe verblüfft drein. »Ich? Nein. Meine Ohren sind in Ordnung.«

»Sind Sie sicher? Ich glaube nicht, daß Ihre Trommelfelle gerissen sind, aber vielleicht sollte ich Sie noch mal durchchecken.«

»Nein. Mir geht es gut. Keine Schmerzen.«

Sie saßen müde an den Tischen in der Messe und erholten sich allmählich von dem Schrecken über die Meteoriten. Joanna hatte Jamie etwas von ihrer halben Flasche chilenischem Wein angeboten. »Das letzte, was ich habe, bis wir zum Raumschiff zurückkehren«, gestand sie. »Dort habe ich noch eine Flasche Sekt versteckt – für den Tag, an dem wir den Rückflug antreten.«

Jamie nippte dankbar von dem Wein. Er hatte seinen Helm vor sich auf den Tisch gelegt. In der gekrümmten Rückseite war eine lange, schmale Furche, als hätte ihn ein winziges Brandgeschoß gestreift. Wenn es ein bißchen größer, ein bißchen energiereicher gewesen wäre, hätte es mir den Kopf weggerissen, dachte er. Jamie starrte den beschädigten Helm an. Er hatte ein hohles Gefühl im Bauch. Nur ein kleines bißchen größer…

»Sie sind ein Glückspilz, Jamie«, rief Wosnesenski vom anderen Ende des Tisches herüber. »Ein wahrer Liebling der Götter.«


»Na ja«, sagte Pete Connors, »die Anzüge sind so konstruiert, daß sie kleine Meteoritentreffer aushalten. Jamie war nicht wirklich in Gefahr.«

Das glaubst du doch wohl selber nicht, dachte Jamie.

Wosnesenski grinste. »Ich habe nicht gemeint, daß er ein Glückspilz ist, weil er überlebt hat. Ich weiß, daß die Anzüge vor so etwas schützen können. Er hat Glück, daß er getroffen worden ist! Wissen Sie, wie klein die Chance ist, von einem Meteoriten getroffen zu werden? Phantastisch! Astronomisch!

Ich beglückwünsche Sie, Jamie.«

Und der Russe hob erneut sein Plastikglas, während die anderen nachsichtig schmunzelten.

»Vielleicht sollten Sie demnächst beim Pferderennen wetten«, schlug Reed vor.

Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ein solcher Glückstreffer reicht mir vollkommen.«

»Wenn man bedenkt, wie winzig die Chance ist«, murmelte Wosnesenski zum wiederholten Mal.

Mironow sagte: »Selbst riskante Einsätze zahlen sich manchmal aus. Was würden Sie sagen, wie groß die Chance war, daß der einzige Elefant im Leningrader Zoo von der ersten deutschen Granate getötet werden würde, die die Nazis während des Krieges in die Stadt gefeuert haben? Und doch ist genau das geschehen.«

»Sie haben den Elefanten getötet?« fragte Monique.

»Genau.«

»Nein!«

»Das ist eine historische Tatsache.«


»Wie lange werden wir reinen Sauerstoff atmen müssen?«

fragte Naguib. »Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen davon. Meine Nebenhöhlen tun weh.«

»Ein oder zwei Tage«, sagte Wosnesenski. »So gut wie unser gesamter Stickstoff ist entwichen. Wir müssen warten, bis die Pumpen soviel Stickstoff von draußen angesammelt haben, daß sie wieder ein normales Luftgemisch erzeugen können.«

»Ich würde Sie mir gern einmal ansehen«, sagte Reed.

Naguib schien plötzlich auf der Hut zu sein. »O nein, es ist nichts« wehrte er ab. »Nur ein bißchen Kopfschmerzen. Die Anspannung, wahrscheinlich.«

»Trotzdem«, sagte Reed, »wenn Sie morgen beim Aufwachen noch welche haben, untersuche ich Sie lieber mal.«

Jamie fuhr mit dem Finger über die Furche hinten an seinem Helm. Sie war nicht tief und auch nicht annähernd so schlimm, daß sie seinen Helm ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen hätte. Er konnte ihn wieder tragen, wenn es sein mußte.

Aber er würde statt dessen einen der überzähligen Helme benutzen. Katrin Diels hatte verlangt, daß dieser beiseitegelegt wurde, damit sie ihn auf dem Rückflug zur Erde untersuchen konnte. Die Flugkontrolleure hatten das ebenfalls verlangt, als sie davon erfahren hatten. Auch die Raumanzughersteller würden den Schaden untersuchen wollen, um zu sehen, wie gut der Helm seinen Träger beschützt hatte.

Du wirst berühmt, sagte Jamie im stillen zu dem Helm. Sie werden dich im Smithsonian ausstellen. Er dachte daran, wie die Innenseite des Helms ausgesehen hätte, wenn der Meteorit durchgegangen wäre. Und erschauerte.

»Aber ich bin viel zu wertvoll, als daß man mich draußen einer Gefahr aussetzen dürfte«, sagte Tony Reed gerade.


Jamie blickte auf und erkannte, daß Ilona den Engländer aufzog.

»Du hast die Kuppel seit unserem zweiten Tag hier nicht mehr verlassen, Tony«, sagte sie und lächelte ihn spitzbübisch an. »Man könnte beinahe glauben, du hättest Angst, hinauszugehen.«

»Unsinn!« fauchte Reed. »Ich bin der Arzt des Teams. Ich werde hier gebraucht, in meinem Krankenrevier.«

»Sicher hinter deinen Pillen und Instrumenten verbarrikadiert«, stichelte Ilona. »Und nun hast du auch noch alle Pillen verschüttet, stimmt’s?«

»Nur eine Flasche«, antwortete Reed steif.

»Fünfhundert Vitaminkapseln, überall auf dem Boden verstreut.«

»Es sind nur ein paar auf den Boden gefallen! Die meisten sind auf dem Tisch liegengeblieben, und der ist so sauber, das man davon essen kann, das versichere ich dir.«

»Ja«, sagte Ilona spöttisch. »Das glaube ich gern. Paß nur auf, daß du uns nicht die schmutzigen gibst.«

Die anderen grinsten, sah Jamie. Sie amüsierten sich bestens.

Normalerweise ist Tony derjenige, der andere aufzieht. Er fühlt sich verdammt unwohl, wenn er das Opfer und nicht der Angreifer ist.

Joanna schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich glaube, ich lege mich eine Weile hin.«

Dankbar für eine Chance, Ilonas Skalpell zu entrinnen, fragte Reed rasch: »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Oh, ich bin nur müde«, antwortete Joanna. »Ich glaube, ich versuche zu schlafen.«


»Ohne Abendessen?« fragte Wosnesenski vom anderen Ende des Tisches.

»Ich glaube nicht, daß ich im Moment etwas essen könnte.

Vielleicht später.«

Der Russe warf Reed einen Blick zu, sagte aber nichts weiter.

Als Joanna den Tisch verließ, drehte Reed sich zu Jamie um.

»Ich finde, wir sollten diesen Meteoritenschwarm nach Jamie hier benennen. Immerhin scheint er sich von ihm angezogen zu fühlen. Die James F. Watermaniden.«

Rava Patel sagte ernst: »Doktor Diels und Doktor Li versuchen, seine Bahn zu berechnen. Bei dem Schwarm handelt es sich augenscheinlich um die Überreste eines alten Kometen.«

»Augenscheinlich«, sagte Reed.

»Es wird jedoch ziemlich schwierig sein«, fuhr Patel fort,

»seine Bahn mit so wenigen Daten zu berechnen. Der Schwarm ist so klein, daß er die Radarsignale kaum zurückwirft.«

Reeds altes spöttisches Grinsen kehrte zurück. »Vielleicht können wir Jamie noch mal nach draußen stellen. Die Meteoriten scheinen ihn zu mögen. Vielleicht kommen sie zurück, wenn er wie ein Blitzableiter im Freien steht.«

»Oder du könntest hinausgehen«, sagte Ilona.

»O nein, ich nicht«, sagte Reed. »Das überlasse ich Jamie. Es wäre der erste Beitrag der Indianer zur astronomischen Wissenschaft.«

»Nicht der erste«, sagte Jamie.

»Ach nein?«

»Die Azteken und Inkas waren hervorragende Astronomen.

Sie haben Observatorien gebaut…«


»Die meine ich nicht«, unterbrach ihn Reed. »Die waren einigermaßen zivilisiert. Ich habe Ihre Leute gemeint, Jamie. Die nordamerikanischen Wilden.«

Nun waren alle Augen auf ihn gerichtet, erkannte Jamie.

Tony hat die Nadel aus seiner Haut gezogen, indem er sie in mich hineingesteckt hat.

»Meine Vorväter haben die Sterne beobachtet«, sagte er, wobei er seine Worte sorgfältig abwog.

»Natürlich haben sie das«, erwiderte Reed. »Was gab es denn sonst schon in der Wüste zu tun, in der sie lebten, sobald die Sonne untergegangen war? Aber was haben sie zustande gebracht, abgesehen von ein bißchen indianischem Hokuspokus?«

Jamie zögerte einen Herzschlag lang, dann antwortete er:

»Sie haben zum Beispiel die große Supernova des Jahres 1054

aufgezeichnet. Haben die Daten in Petroglyphen festgehalten, diesen in den Fels geritzten Zeichen und Bildern. Und sogar Tongefäße mit akkuraten Zeichnungen geschmückt, die zeigten, wo und wann die Supernova erschienen ist.«

»Tatsächlich?«

»Tatsächlich.« Jamie wandte sich an die anderen. »Die Supernova von 1054 ist diejenige, die den Krebsnebel hervorgebracht hat; den kann man heutzutage im Teleskop sehen. Die einzigen anderen Astronomen, die die Supernova beobachtet haben, saßen in China.«

»Und in Japan«, sagte Toshima.

Jamie nickte ihm ernst zu. »Und in Japan. In Europa hat ihr niemand Beachtung geschenkt, wie es scheint.«

»Wahrscheinlich war es in jener Nacht zu bewölkt«, sagte Reed.


»Die Supernova war für das bloße Auge dreiundzwanzig Tage lang sichtbar«, konterte Jamie. »Das beweisen die chinesischen Aufzeichnungen. Ebenso wie die Zeichnungen, die meine Vorfahren angefertigt haben. Selbst in England muß der Himmel während dieser Zeit irgendwann klar gewesen sein, aber dort hat sich niemand die Mühe gemacht, nach oben zu schauen. Entweder das, oder sie kannten sich zu wenig mit den Sternen aus, um zu merken, daß ein neuer am Himmel erschienen war.«

Ilona stieß einen leisen Pfiff aus. Naguib kicherte leise. Die anderen grinsten und nickten.

Tony Reed stand langsam auf und verbeugte sich ein wenig in Jamies Richtung. »Touche«, sagte er. »Und nun werde ich mir einen Happen zu essen machen, wenn niemand etwas dagegen hat.«

Die übrigen standen einer nach dem anderen auf und begannen, ihr Abendessen zuzubereiten. Jamie blieb allein am Tisch sitzen, starrte seinen beschädigten Helm an und fragte sich, warum Menschen einander Schmerzen zufügen mußten, um sich Respekt zu verschaffen.


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