ERDE

KALININGRAD: In einem fensterlosen Konferenzraum im Komplex des Kontrollzentrums diskutierten zwanzig Männer und Frauen aus sechs Nationen das Problem aus, das sich ihnen über eine Entfernung von fast zweihundert Millionen Kilometern hinweg stellte.

Der rechteckige Konferenztisch war mit vollgekritzeltem Papier, vertrockneten Sandwichresten, Schaubildern und Diagrammen, Styroporbechern und Aschenbechern voller glimmender Zigarettenstummel übersät. Manche der um den Tisch Versammelten hockten krumm und unglücklich da, den Kopf in die Hände gestützt; sie hatten längst ihre Jacketts ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Andere schlenderten in dem stickigen, verräucherten Raum ziellos auf und ab.

Sie hatten sich schon längst heiser geschrien, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Am Kopfende des Tisches saß der Chef des Kontrollzentrums, ein hagerer, rothaariger Russe mit einem finsteren Spitzbart und roten Augenbrauen, die wie Spitzgiebel aussahen. Er tippte mit einem langen Fingernagel auf das Holzimitat der Tischplatte. In dem erschöpften Schweigen im Raum drehten sich alle Köpfe abrupt zu ihm.

»Wir können nicht einfach hier herumsitzen, ohne eine Entscheidung zu treffen. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel.

Der Erfolg der gesamten Mission steht auf dem Spiel!«

Eine der Frauen, eine Schwedin, hüstelte leicht, räusperte sich und sagte dann: »Unsere Alternativen sind klar. Entweder wir lassen das Exkursionsteam sterben, oder wir gehen das Risiko ein, daß noch mehr Mitglieder der Expedition bei einem Rettungsversuch ums Leben kommen.«

»Wir können sie doch nicht einfach sterben lassen!« sagte eine andere Frau.

»Aber ein Rettungsversuch könnte fehlschlagen, und dann gibt es noch mehr Töte«, konterte ein Japaner.

»Die Hälfte aller Reporter der Welt klopft an unsere Türen«, bemerkte jemand verdrießlich. »Wir müssen irgend etwas unternehmen, und zwar sofort!«

»Wir hätten die Exkursion in den Canyon niemals genehmigen dürfen«, beklagte sich ein Franzose. »Nicht bei der allerersten Mission. In unserem ursprünglichen Plan war sie nicht vorgesehen. Wir haben uns dem offenen politischen Druck der Amerikaner gebeugt. Das hat uns in diese Bredouille gebracht.«

»Aber Brumados Tochter gehört zu den Gestrandeten. Wir können sie doch nicht aufgeben! Wer wird vor ihn hintreten und ihm sagen, daß wir beschlossen haben, seine Tochter sterben zu lassen?«

»Ich bin davon überzeugt«, sagte ein pausbäckiger Russe mit schütterem Haar, »daß wir nur eins tun können, nämlich die Leute in der Kuppel sofort heraufholen, sie in den Schiffen in der Umlaufbahn in Sicherheit bringen und dann den letzten Lander in den Canyon hinunterschicken, um die vier im Rover zu holen.«

»Und die Expedition zwei Wochen früher abbrechen, als es der Plan vorsieht?«

»Der Plan?« rief ein Amerikaner. »Der Plan? Wen, zum Teufel, interessiert schon der verdammte Plan? Wir reden hier über Menschenleben!«


Der oberste Flugleiter preßte die Hände zusammen, fast so, als würde er beten. »Ich fürchte, Ihr Vorschlag ist das einzig Vernünftige, was wir tun können. Obwohl er mit hohem Risiko behaftet ist.«

»Das bedeutet, daß die Leute im Rover mindestens noch zwei Tage warten müssen, bis der Lander zu ihnen geschickt werden kann.«

»Ich bezweifle, daß wir innerhalb von nur zwei Tagen die Operationen in der Kuppel abschließen und all diese Leute samt ihrer Ausrüstung und ihren Proben heraufholen können.

Der Plan sieht eine volle Woche für die Stillegung der Kuppel vor.«

»Das ist ein Notfall! Lassen Sie die Ausrüstung und die Proben dort, wo sie sind. Holen Sie die Leute herauf und beginnen Sie mit der Rettungsaktion, um Himmels willen!«

»Alles dortlassen?«

»Wir können es bei der nächsten Mission abholen.«

»Es wird keine nächste Mission geben. Nicht, wenn wir diese abbrechen und wie Diebe in der Nacht vom Mars fliehen müssen.«

»Das ist die dümmste Metapher, die ich je gehört habe!«

»Nur weil Sie eine Frau sind, gibt Ihnen das noch lange nicht das Recht…«

» Ruhe! « brüllte der oberste Flugleiter. »Ich werde nicht dulden, daß wir uns wie Kinder auf dem Schulhof zanken. Wir brechen die Mission ab. Wir holen die Leute in der Kuppel so schnell wie möglich herauf und schicken dann den letzten Lander in den Canyon, um das Exkursionsteam aufzulesen.

Wer offiziell gegen diese Entscheidung stimmen will, soll seine Hand heben. Jetzt sofort.«


Keine einzige Hand ging hoch.

»Und wir sind uns ebenfalls einig«, fügte der oberste Flugleiter hinzu, »daß kein Mitglied der Expedition zur Erde zurückkehren darf, bis dieses medizinische Problem gelöst ist – sofern das überhaupt jemals gelingt. Sie werden in der Erdumlaufbahn unter Quarantäne gestellt.«

»Wenn sie so weit kommen«, flüsterte jemand hörbar.

WASHINGTON: Edith sah Albertos Miene an, daß etwas Schlimmes passiert war.

»Was ist los?« fragte sie.

Sie saßen in der Küche des Hauses in Georgetown und waren gerade dabei, zu frühstücken, bevor sie zum Capitol Hill aufbrachen. Brumado hatte einen Termin vor einem Unterausschuß des Kongresses, der Anhörungen über das Raumfahrtbudget im nächsten Haushaltsjahr durchführte. Von der Küche ging der Blick in einen hübschen Garten, der von einer roten Ziegelmauer eingefaßt war. Die meisten Blumen waren so spät im Sommer schon verwelkt, nur das unverwüstliche kleine Springkraut säumte den gebogenen Ziegelweg mit rosa-weißen Blüten, die in der sanften Morgenbrise nickten.

»Was ist?« wiederholte Edith.

Brumado stand am Telefon beim Spülbecken. Sein Gesicht war aschfahl. »Meine Tochter… das Exkursionsteam… sie sind im Canyon gestrandet. Ihr Rover-Fahrzeug ist steckengeblieben.«

Edith hatte ihr Frühstück auf der Stelle vergessen. Sie stand von dem Glastisch auf. »Sie haben doch den Ersatzrover, oder?

Damit können sie sie abholen…«


Aber Brumado schüttelte den Kopf. »Sie sind krank. Das gesamte Bodenteam. Etwas hat sie alle sehr krank gemacht und stark geschwächt.«

»Jamie auch?«

»Ja. Ihn auch.«

Edith merkte, daß sie auf einmal keine Luft mehr bekam. Sie schluckte schwer, dann fragte sie: »Was wird man unternehmen?«

»Die NASA hat angeboten, mich nach Houston zu fliegen, zum dortigen Kontrollzentrum.«

»Aber was ist mit Jamie und Ihrer Tochter?«

»Ich muß vor dem Unterausschuß aussagen«, murmelte Brumado geistesabwesend, als hätte er einen Schock. »Sie haben mich gebeten, nichts darüber verlauten zu lassen. Noch nicht.«

»Aber Jamie?«

Er schien erst jetzt zu bemerken, daß sie vor ihm stand.

»Edith, du mußt mir dein Wort geben, daß du deinem Network nichts davon sagst.«

»He, ich habe kein Network mehr. Ich bin arbeitslos, erinnerst du dich? Aber was ist mit Jamie? Ist er…«

»Ich weiß es nicht!« fauchte Brumado. Edith sah, daß er um seine Selbstbeherrschung rang. Sie sah Tränen in seinen Augenwinkeln schimmern.

»Vielleicht solltest du den Auftritt vor dem Unterausschuß absagen«, schlug sie vor.

»Nein«, sagte er sanfter. »Nein, das geht nicht. Es würde Verdacht erregen.«

»Himmel noch mal, du könntest eine Erkältung haben!«


»Und dann nach Houston fliegen?« Er lächelte humorlos.

»Die Hälfte der Mitglieder des Unterausschusses säße in der nächsten Maschine. Oder zumindest ihre Berater.«

»Ja, kann sein«, gab Edith zu.

»Versprichst du mir, daß du niemanden anrufst und die Geschichte nicht veröffentlichst?«

»Kann ich mit dir nach Houston fliegen?«

»Ja. Natürlich.«

»Okay.«

»Du versprichst mir, daß du mit niemandem in dieser Sache Kontakt aufnimmst, während ich heute vormittag aussage?«

»Wir haben eine Abmachung, oder nicht?«

Aber Edith dachte: In Houston kann ich sehen, wie schlimm es wirklich ist, wie übel die Lage ist, in die sie Jamie gebracht haben. Ein Augenzeugenbericht über Alberto Brumado, der zusieht, wie das Team auf dem Mars seine Tochter zu retten versucht, die tausend Kilometer von ihrer Basis entfernt festsitzt. Und krank ist. Das würde mir alle Türen öffnen.

Woran sind sie erkrankt? Was ist mit ihnen passiert? Mit Jamie?

Sie beschloß insgeheim, das Schweigen nur solange zu wahren, bis sie sicher war, daß man für Jamie und die anderen alles tat, was man konnte. Ich muß herausfinden, wie sie in dieses Schlamassel hineingeraten sind. In dem Moment, in dem ich herausfinde, wer daran schuld ist, sind alle Abmachungen ungültig.

Das könnte eine noch größere Story sein als die vom Leben auf dem Mars: vier kranke Forscher, die tausend Kilometer vom sicheren Zufluchtsort entfernt in der Falle sitzen. Das ist eine echte Story! Man muß kein Wissenschaftler sein, um das aufregend zu finden.


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