SOL 3 VORMITTAG

»Heute ist der große Tag, hm?«

Obwohl Pete Connors Düsenjägerpilot war und als Astronaut über zwanzig Shuttle-Einsätze vorzuweisen hatte, erinnerte er Jamie an einen Highschool-Footballspieler Sekunden vor dem Kickoff. Seine dunklen braunen Augen, die normalerweise besorgt dreinblickten, zeigten jetzt eine Erregung, die die meisten Menschen nach ihrer Jugendzeit verlieren, eine kaum zu bändigende Abenteuerlust.

Connors, Jamie und die meisten anderen zogen sich für ihren ersten Tag richtiger wissenschaftlicher Arbeit auf dem Mars an. Heller Sonnenschein fiel durch den transparenten, doppelwandigen Kunststoff im unteren Teil der aufgeblasenen Kuppel herein; die Wettervorhersage versprach einen typischen Spätsommertag: klarer Himmel, leichter Wind, hohe Temperatur, die nach nächtlichen minus achtzig Grad Celsius bis auf rund minus fünfzehn Grad ansteigen würde.

»Der große Tag«, pflichtete ihm Jamie bei und zerrte an der himmelblauen Hose seines Raumanzugs.

Ihre Kleidung bestand aus mehreren Schichten. Zuerst kam der enganliegende Unteranzug, der von dünnen, biegsamen Wasserschläuchen durchzogen war. Das Wasser führte die Körperwärme ab und sorgte dafür, daß die Temperatur in dem stark isolierten Raumanzug für den Träger akzeptabel blieb. Als nächstes kam ein Stoff-Overall und dann der harte Anzug selbst, der so konstruiert war, daß in seinem Innern ein normaler erdähnlicher Luftdruck von etwa neunhundert Millibar herrschte, selbst wenn sich nichts als reines Vakuum au

ßerhalb seiner Metall- und Kunststoffhülle befand.

Man lehnte sich an einen Spind und zog sich mühsam die Hose des harten Anzugs über die Hüften. Das Oberteil ruhte auf einem Gestell, so daß man geduckt daruntertreten und die Arme in die Ärmel stecken konnte, während man gleichzeitig den Kopf durch den glänzenden Metallring des Halsverschlusses steckte. Wenn man den Anzug erst einmal angelegt hatte, war es praktisch unmöglich, sich zu bücken und die Stiefel anzuziehen. Die Forscher kleideten sich immer paarweise an und halfen einander mit den Stiefeln und den Tornistern, die den Luftaufbereiter, die Heizung sowie die Batterien, Pumpen und das Gebläse des Lebenserhaltungssystems enthielten.

Als Jamie auf der Erde zum ersten Mal versucht hatte, einen harten Anzug anzulegen, hatte er mehr als eine Stunde dafür gebraucht, und es war ihm wie eine besonders ausgeklügelte Kombination von Folter und Demütigung erschienen. Als er es zum ersten Mal bei marsianischer Schwerkraft versucht hatte, während ihr Raumschiff sich im Anflug auf den roten Planeten befand, war es viel leichter gewesen. Jetzt jedoch gewöhnte er sich allmählich an die geringe Marsschwerkraft, und es wurde wieder eine schwierige Aufgabe, in den Anzug zu steigen.

Acht Mitglieder des Teams bereiteten sich darauf vor, die Kuppel zu verlassen. Sie zwängten sich in ihre Anzüge wie eine nicht ganz vollständige Football-Mannschaft, die ihre Polster und Trikots anzog. Oder wie Ritter, die ihre Rüstung anlegten. Jamie fragte sich, ob König Artus’ Männer gemurrt und geflucht hatten, wenn sie sich rüsteten.


Der Ankleidebereich bestand aus einer Reihe von Gestellen und Spinden, an und in denen die Anzüge untergebracht waren, mit zwei langen Plastikbänken davor. Die Bänke waren für die Marsschwerkraft gebaut und sahen für Jamie zu dünn aus, als daß man sich gefahrlos daraufsetzen konnte; ihre zierlichen Beine standen zu weit auseinander.

Connors ließ sich jedoch mit Anzug und allem auf eine fallen, um sich von Jamie in seine dicksohligen Stiefel helfen zu lassen. Die anderen taten das gleiche, sah Jamie. Die Bänke sackten unter ihrem Gewicht ein wenig durch, aber nur geringfügig.

Nachdem Jamie die Reißverschlüsse an den Stiefeln zugezogen hatte, stand Connors auf und stampfte auf dem Kunststoffboden herum.

»Gut«, sagte er und nickte in seinem Anzug. »Jetzt Ihre.«

Jamie setzte sich vorsichtig hin. Er bemerkte, daß Ilona Malater neben Joanna stand. Sie waren beide bis auf die Helme voll angekleidet und unterhielten sich leise. Biochemikerin und Mikrobiologin. Von allen Wissenschaftlern, die man zum Mars gebracht hatte, dachte Jamie, hatten die beiden das meiste zu gewinnen. Oder zu verlieren. Wenn sie auch nur einen klitzekleinen Beweis für Leben fanden, würden sie internationale Berühmtheiten werden. Aber wenn sie gar nichts fanden, würde sich die ganze Welt und vielleicht sogar die wissenschaftliche Gemeinde immer fragen, ob ihnen nicht etwas entgangen war.

Hatte die Kommission deshalb nur Frauen für die Biowissenschaften ausgewählt? Das dritte Mitglied des Bio-Teams war Monique Bonnet, die französische Geochemikerin, die einen Schnellkurs in Paläontologie gemacht hatte – nur für den Fall, daß sie in dem roten Sand oder den roten Steinen Fossilien finden sollten.

Die hochgewachsene Israeli beugte sich näher zu Joanna und sagte etwas, das diese zum Lächeln brachte; dann legte sie eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Sie schauen mich an, stellte Jamie fest. Alle anderen haben bereits ihre Anzüge an und warten darauf, daß wir gehen können. Ich bin der Nachzügler.

Er saß auf der Bank, die Hände um deren Hinterkante geklammert, ein Bein erhoben, so daß sein Fuß ungefähr in Connors Leistengegend ruhte. Die Frauen finden das komisch, dachte Jamie. Er wurde rot.

»Das war’s, Kamerad«, sagte Connors.

Jamie stellte das Bein auf den Boden und stand auf. Der Anzug fühlte sich schwerfällig und steif an. Jamie stapfte an dem Gestell vorbei, an dem der Anzug gehangen hatte und das jetzt wie ein kläglicher toter Plastikbaum aussah, und nahm dabei seinen Helm von der Ablage. Er setzte ihn auf, hauptsächlich, um sein rotes Gesicht zu verbergen.

»Handschuhe«, sagte Connors. »Sie wollen doch wohl nicht ohne Ihre Handschuhe rausgehen, Mann.«

Völlig durcheinander riß Jamie seine Handschuhe von der Klammer am Gestell und stopfte sie in die Tasche an seinem rechten Oberschenkel. Er hatte den Fetisch, den sein Großvater ihm geschenkt hatte, sorgfältig in der Tasche am linken Oberschenkel verstaut. Das Ding war so klein, daß niemand es bemerkt hatte. Er folgte Connors und den anderen zur Luftschleuse und der nächsten Reihe von Gestellen, wo die Tornister warteten.


»Denken Sie dran, sich genau an die Vorschriften zu halten«, erklärte ihm Connors, während er Jamie half, den Tornister anzulegen.

»Okay.«

»Jetzt ist es noch nicht weiter schlimm, alles ist neu und wir sind mit den Gedanken noch voll bei dem, was wir tun. Aber später, in ein paar Tagen oder ein paar Wochen, wenn es so eine Routine geworden ist, daß wir nicht mal mehr drüber nachdenken – dann machen Sie vielleicht einen Fehler, der Sie umbringen kann. Oder jemand anderen.«

Jamie nickte. Er wußte, daß Connors recht hatte. Die Missionsvorschriften verlangten, daß immer ein Astronaut dabei war, wenn jemand die Kuppel verließ. Der Astronaut fungierte als Sicherheitsoffizier; es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß alle Sicherheitsvorschriften strikt befolgt wurden. Seine Autorität war absolut.

»Was haben Sie heute zu tun?« fragte Jamie, während er sich umdrehte, um Connors zu helfen. »Oder gehen Sie nur raus, um uns im Auge zu behalten?«

Connors warf Jamie über die Schulter hinweg einen Blick zu und sagte: »Klar hab ich was zu tun. Dekontaminierung und Reinigung. Ich muß dafür sorgen, daß jeder von uns den Staub entfernt, der sich auf unseren Anzügen gesammelt hat, bevor wir wieder reingehen.«

Bevor Jamie etwas sagen konnte, fügte Connors hinzu: »Ist doch wohl sonnenklar, daß sie den Schwarzen zum Hausmeister gemacht haben, oder?«

Jamie war einen Moment lang überrascht und verwirrt.

Dann bleckte Connors grinsend die Zähne. »Meine Hauptaufgabe heute vormittag besteht darin, eine Fernsehshow für die Kids daheim auf der Erde aufzuzeichnen.«

Jamie war erleichtert. Connors hatte nie auch nur andeutungsweise schlechte Laune an den Tag gelegt; er schien immer guter Dinge zu sein, als würde er so etwas wie Ärger überhaupt nicht kennen.

»Ich werde der Doktor Science vom Mars. Ich zeige den Leuten, wie es hier aussieht, und führe ein paar simple Demonstrationen des niedrigen Luftdrucks und der geringen Schwerkraft durch. Fürs Bildungsfernsehen. Ich werde ein richtiger Weltstar!«

Lachend sagte Jamie: »Schön für Sie.«

Endlich waren sie alle fertig. Jamie vergaß nicht, seine Handschuhe anzuziehen und sie um die Metallmanschetten seines Anzugs zu schließen. Die Rückseiten der Handschuhe waren gerippt wie ein Außenskelett aus dünnen Plastik-›Knochen‹; die Handflächen und Fingerspitzen bestanden aus durchsichtigem Kunststoff, kaum dicker als Frischhaltefolie.

Wie die anderen nahm Jamie das Werkzeug, das er für die Arbeit dieses Vormittags brauchte, und befestigte es an dem Stoffgurt um seine Taille. Steinhammer. Klappspaten. Kernbohrer. Probenbeutel. In einer Hand hielt er die lange, ausziehbare Titanstange, die als Hebel oder verlängerter Arm dienen konnte.

»Ein echter Speerträger.«

Jamie drehte sich um und sah Joanna neben ihm stehen, ein hübscher Schmetterling in einem leuchtend orangefarbenen Kokon. Sie hatte sperrige, silberne Behälter in beiden Händen.

»Und du siehst wie eine Vertreterin für Enzyklopädien aus«, sagte er.


Sie blinzelte verwirrt.

»Okay, hört zu«, rief Connors. »Wir gehen durch die Luftschleuse wie bei Noahs Arche: immer zu zweit. Klappt eure Visiere runter.«

Joanna mußte ihre Behälter abstellen, bevor sie sich um ihr Helmvisier kümmern konnte.

»Checkt die Verschlüsse und die Luftzufuhr.« Connors’ melodische Stimme kam jetzt leise über Helmkopfhörer.

Der Astronaut überprüfte sämtliche Wissenschaftler noch einmal persönlich, bevor er sie durch die Luftschleuse schickte. Er und Monique Bonnet – makelloses Weiß und Trikolorenblau – gingen zusammen durch. Dann kamen Patel in seinem buttergelben Anzug und der irischgrüne Naguib. Ilona und Toshima waren als nächste an der Reihe; das Grün von Ilonas Anzug war ein oder zwei Schattierungen dunkler als das des Ägypters, während der in einem gedämpften Pfirsichton gehaltene Anzug des japanischen Meteorologen von Instrumente und Geräten starrte, die an allen erdenklichen Gürteln und Schlaufen hingen. Jamie dachte, daß Toshima kaum imstande sein würde, seinen gestiefelten Fuß über den Rand der Luftschleusenluke zu heben. Wenn er mal stolpert und hinfällt, dann müssen ihm zwei von uns wieder auf die Beine helfen.

Schließlich war Jamie zusammen mit Joanna an der Reihe.

Die beiden Russen, Abell und Tony Reed blieben drinnen. Mironow und Reed war die Aufgabe zugewiesen worden, die Wissenschaftler draußen zu überwachen; in die Raumanzüge waren Instrumente eingebaut, die automatisch die Körpertemperatur, den Herzschlag und die Atemfrequenz sowie das Verhältnis von Sauerstoff und Kohlendioxid im Anzug durchgaben. Astronaut Abell saß an der Kommunikationskonsole und hielt den Kontakt mit der Expeditionsleitung im Orbit aufrecht, während Wosnesenski alles und jeden mit den Augen eines russischen Adlers beobachtete.

Mit dem heruntergeklappten Visier war Jamies Raumanzug eine Hülle, die ihn vor den Blicken der anderen schützte. Er war froh darüber. Noch vor ein paar Minuten war er verlegen und verwirrt gewesen, aber jetzt bekam er Schmetterlinge im Bauch, und seine Handflächen wurden feucht. Es war weniger Angst als vielmehr gespannte Erwartung. Er war im Begriff, auf die Oberfläche des Mars hinauszutreten und mit der Arbeit zu beginnen, von der er so viele Jahre geträumt hatte.

Laß mich in Schönheit gehen, dachte er unwillkürlich. Laß mich da draußen Harmonie und Schönheit finden.

Das Geräusch der Luftschleusenpumpen wurde immer leiser, bis Jamie nur noch ihre Vibration durch seine Stiefel spürte. Das verräterische Lämpchen an der winzigen Kontrolltafel sprang auf Rot und zeigte damit an, daß in der Kammer nun der gleiche Luftdruck wie draußen herrschte. Er drückte auf die Kontrolltaste, und die Außenluke öffnete sich ächzend einen Spaltbreit.

Jamie stieß sie ganz auf, ließ Joanna vorgehen und trat dann in die sandige, rote, von Felsbrocken übersäte Wüste hinaus, um mit seiner vormittäglichen Arbeit zu beginnen.

Wie fast alles andere bei der Mission auch war die Auswahl ihres Ladeplatzes ein politischer Kompromiß gewesen.

Die Biologen hatten in der Nähe der Polarkappen landen wollen, wo unter den Schichten aus Eis und gefrorenem Kohlendioxid möglicherweise versteckte Vorkommen flüssigen Wassers zu finden waren – und einige Lebensformen. Experimente, die von unbemannten Landesonden durchgeführt worden waren, angefangen mit den ursprünglichen beiden Viking-Sonden im Jahr 1976, hatten gezeigt, daß es im Marsboden ungewöhnliche chemische Aktivitäten gab. Konnte Leben in diesem Boden existieren, wenn flüssiges Wasser verfügbar war?


Die Geologen hatten sich nicht entscheiden können, wo sie landen wollten; da war eine vollständige neue Welt, der sie mit ihren Spitzhacken zu Leibe rücken konnten. Es gab große Vulkane zu untersuchen, einen Grabenbruch, der länger war als die Strecke von New York bis San Francisco, Regionen, in denen Meteoritenkrater die Landschaft übersäten, daß sie so zernarbt aussahen wie der Mond. Es gab Gebiete, die den Eindruck erweckten, als lägen Permafrostschichten unter dem Boden, Meere aus gefrorenem Grundwasser. Es gab Bergklippen und Hochebenen, die von Milliarden Jahren Verwitterung zeugten, und das riesige Hellas-Becken, ein fast fünf Kilometer tiefe Senke mit einem Durchmesser von eintausendsechshundert Kilometern.

Die Physiker wollten untersuchen, was geschah, wenn die energiereiche Strahlung und die subatomaren Partikel, die in einem stetigen Strom von der Sonne und den Sternen kamen, auf die dünne Marsatmosphäre trafen. Sie wollten auch das Innere des Planeten erkunden, um herauszufinden, weshalb der Mars kein den gesamten Planeten umspannendes Magnetfeld besaß wie die Erde.

Insbesondere die Russen wollten die beiden winzigen Monde des Mars untersuchen und Techniken zur Gewinnung von Raketentreibstoffen aus ihren felsigen Körpern testen. Die Amerikaner wollten den alten Viking-Lander besuchen und zu Ehren eines toten Wissenschaftlers eine Plakette an ihm anbringen.


Das Resultat dieser unvereinbaren Wünsche war ein Kompromiß, der niemanden zufriedenstellte. Der ausgewählte Landeplatz lag knapp nördlich des Äquators bei hundert Grad westlicher Breite, am Rand einer massiven Aufwölbung der Marskruste, die Tharsis-Buckel genannt wurde. Im Süden lag das Noctis Labyrinthus, sogenannte ›Badlands‹, ein Gewirr kleiner Schluchten und niedriger Kämme; im Westen befanden sich die gewaltigen Schildvulkane von Tharsis. Der eigentliche Landeplatz war jedoch eine ganz normale, leicht abschüssige Ebene, auf der die Landung als relativ unproblematisch eingeschätzt worden war, ungefähr gleich weit vom westlichen Ende des monumentalen Grabenbruchs namens Valles Marineris und der Kette von Vulkanen entfernt, welche die Tharsis-Hochebene krönten.

Ein Spezialteam im Raumschiff in der Marsumlaufbahn würde Deimos und Phobos einen Besuch abstatten, den beiden Monden des Mars, wo die Russen ihre Ideen realisieren konnten. Einer der amerikanischen Astronauten konnte mit dem Schwebegleiter zum Viking I-Landeplatz fliegen, wenn es die Umstände erlaubten. Die Entscheidung darüber lag beim Kommandanten des Bodenteams, Kosmonaut Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski. Und der Flug würde nur stattfinden, wenn der Expeditionskommandant, Dr. Li Chengdu, seine Zustimmung gab.

Die Forscher verfügten über zwei ziemliche große Bodenfahrzeuge für Fahrten über Land und zwei Schwebegleiter mit hauchdünnen Flügeln für größere Entfernungen.

Die Missionspläne waren präzise und detailliert. Sie sahen kurze Exkursionen zu den Badlands von Noctis Labyrinthus und zu einem der Tharsis-Vulkane vor, des weiteren umfangreiche chemische Untersuchungen des Marsbodens, Bohrungen nach unterirdischem Wasser und natürlich die kontinuierliche Suche nach irgendeinem Anzeichen, daß es auf dem Mars früher einmal Leben gegeben hatte.

Von allen Landeplätzen in sämtlichen Regionen auf dem gesamten Planeten Mars mußten sie sich ausgerechnet den hier aussuchen, murrte Jamie in sich hinein. Wahrscheinlich der langweiligste Ort, den sie finden konnten. Eine Ebene mit nicht allzu vielen Kratern auf einem Hochlandbuckel, so weit von der interessanten Linie der Vulkane entfernt, daß man nicht einmal ihre fünfundzwanzig Kilometer hohen Gipfel über dem Horizont sehen konnte. Weiter westlich ein paar Sanddünen, und überall die gleichen alten Felsbrocken, wohin man auch schaute. Das Interessanteste in diesem Gebiet dürften die durch Bruchbildung entstandenen Höhenzüge in den wilden Badlands im Süden sein, aber die lagen mindestens dreihundert Kilometer entfernt.

Ach, was soll’s, seufzte er innerlich. Sie haben sich diese Stelle ausgesucht, weil man hier gefahrlos landen konnte, nicht weil sie geologisch interessant ist. An die Arbeit.

Jamie begann damit, Gesteinsproben zu sammeln. Die weite, freie Fläche, auf der sie gelandet waren, war mit Steinen von Kieselgröße bis zu mannshohen Felsblöcken übersät. Wahrscheinlich bei dem Einschlag eines großen Meteoriten hochgeschleudert. Oder vielleicht bei dem Ausbruch eines Tharsis-Vulkans, obwohl die nicht so aussahen, als ob sie derart heftig ausgebrochen wären. Jamies Ausrüstung in der Kuppel würde ihm sicherlich sagen, woher die Steine stammten.

»Bitte achtet auf alle merkwürdigen Farben«, drang Joannas Stimme über Kopfhörer an sein Ohr.


Jamie drehte den Kopf und sah nur die Innenseite seines Helms. Er drehte den ganzen Körper um neunzig Grad, und da war sie in ihrem leuchtenden Anzug, ein Dutzend Meter entfernt. Monique Bonnet war immer noch dicht neben ihr.

»Irgendeine bestimmte Farbe?« fragte er halb scherzhaft.

»Wir haben hier eine breite Palette von Rot- und Rosatönen.«

»Grün wäre nett«, zirpte Moniques helle, angenehme Stimme.

»Jede Farbe, die ungewöhnlich erscheint«, sagte Joanna. »Wir sind nicht wählerisch. Noch nicht.«

Gleich vor der Luftschleuse baute Connors eine der Fernsehkameras für sein Bildungsprogramm auf. Eine kleine Kiste mit Requisiten stand zu seinen Füßen. Die anderen hatten sich so weit vorgebeugt, wie es die Anzüge erlaubten, und suchten den sandigen Boden aufmerksam ab, wie ein Trupp Platzwarte, die nach Abfall Ausschau hielten. Oder wie die Frauen auf diesem berühmten Gemälde, dachte Jamie. Ährenleserinnen -

Genau das tun wir hier, wir lesen Dinge auf, versuchen, in dieser eisigen Wüste kleine Bröckchen Nahrung für unseren Geist zu finden.

Verdammt schwierig, in dem Anzug den Boden zu sehen, grummelte Jamie im stillen. Biegsam ist das Ding so gut wie gar nicht. Wer immer diese Aluminiumdosen entworfen hat, an die Arbeiten, die wir in ihnen ausführen müssen, hat er nicht gedacht.

Toshima war rund zwanzig Meter von der Kuppel entfernt emsig damit beschäftigt, auf der von den beiden Landefahrzeugen abgewandten Seite eine Wetterstation aufzubauen.

Sein pfirsichfarbener Anzug verschmolz viel besser mit dem rostroten Hintergrund, als Jamie gedacht hätte. Er ist richtiggehend getarnt. Das könnte ein Problem werden. Die Anzugfarben waren unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden, daß sie sich deutlich gegen die Marslandschaft abhoben. Wer, zum Teufel, hatte das Pfirsich genehmigt?

Ilona nahm das lockere, sandige Erdreich mit einer kleinen Schaufel auf und kippte es in eine Schachtel. Sie, Joanna und Monique wollten versuchen, im Innern der Kuppel ein Sortiment von Bohnen, Kürbissen, Erbsen und Gurken anzubauen und dabei so viele einheimische marsianische Ressourcen zu benutzen wie möglich – einschließlich Wasser, wenn sie welches entdeckten. Unter anderem wollten sie damit herausfinden, wie sich die geringere Marsschwerkraft auf das Wachstum und die Größe der Pflanzen auswirken würde. Sie hatten vor, ihre kleine agrikulturelle Versuchseinrichtung zum Raumschiff in der Umlaufbahn mitzunehmen und das Experiment auf dem Rückflug zur Erde weiterzuführen.

Zuerst werden sie das Erdreich erhitzen müssen, damit sich die Oxide darin verflüchtigen, dachte Jamie. Sonst wäre es so, als würde man Samen in Bleichmittel anpflanzen.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den Steinen zu.

An denen herrschte kein Mangel. Große Blöcke von über einem Meter Durchmesser, jede Menge kleinere bis hinab zur Größe von Kieselsteinen. Viele sahen zernarbt aus, von der Verwitterung gezeichnet. Regen konnte es nicht gewesen sein, dachte Jamie. Hat hier bestimmt seit einer Milliarde Jahren nicht mehr geregnet. Aber an Wintermorgen gab es Frost. Die Steine dehnten sich in der Tageswärme aus, sofern man von Wärme sprechen konnte, und zogen sich in den bitterkalten Nächten wieder zusammen.


Aber das würde keine Vertiefungen in ihnen hinterlassen, dachte Jamie. Sie müßten lateral zerbrechen und abblättern, statt Dellen zu bekommen wie Golfbälle. Wenn sie vulkanischen Ursprungs waren, dann stammten die Narben möglicherweise von in den Steinen gefangenen Gasen, die ausgetreten waren und sich verflüchtigt hatten. Konnten die Steine von den sechs- bis siebenhundert Kilometer entfernten Vulkanen bis hierher geschleudert worden sein? Oder waren sie durch lange zurückliegende Meteoriteneinschläge aus dem Boden gesprengt und aus der Atmosphäre herausgeschleudert worden, so daß sie hinterher wie Raketengeschosse wieder eingetreten waren?

Er füllte die beiden mitgebrachten Beutel mit Steinen verschiedener Größe, dann stellte er überrascht fest, daß er bereits seit über drei Stunden draußen war. Die Sonne stand beinahe senkrecht über ihm – eine sonderbar dünne und blasse Imitation der Sonne, die er kannte – und schien matt aus dem lachsfarbenen Himmel.

Als er sich umdrehte, konnte er die Kuppel nicht mehr sehen, wohl aber die stumpfen, zylindrischen Spitzen der beiden Lander. In der Ferne erblickte er eins der unbemannten Raumfahrzeuge, dessen leere Ladeluke gähnend offenstand.

Der Horizont ist hier viel näher, rief er sich in Erinnerung.

Dreh dich um, orientiere dich richtig.

»Waterman, Sie sind außerhalb des Bereichs der Überwachungskameras.« Wosnesenskis Stimme klang eher ärgerlich als besorgt. »Können Sie mich hören?«

»Ja, laut und deutlich.«

»Sie sind fast an der Grenze der sicheren Rückkehrdistanz.

Kommen Sie zur Kuppel zurück.«


Jamie war beinahe froh über den Rückkehrbefehl. In den Bergen oder dem wüstenähnlichen Buschland daheim allein zu sein, war eine Sache. Hier draußen, auf dieser fremdartigen Welt, wo es keine Luft zum Atmen und kein Wasser zum Trinken gab, hatte Jamie beinahe Angst gehabt.

Und dennoch – es war ein gutes Gefühl, allein zu sein, fern von den anderen. In den letzten paar Jahren war er selten allein gewesen; eigentlich so gut wie nie. Jamie wandte der Kuppel und den anderen den Rücken zu, richtete sich so hoch auf, wie es sein Anzug erlaubte, und schaute zum lockenden Horizont hinaus. Selbst in der harten Hülle seines Anzugs strebte er danach, ein Gespür für diese Marslandschaft zu bekommen, ein Gefühl von Harmonie mit dieser seltsamen neuen Welt zu entwickeln.

Dann sah er einen grünen Fleck.


DREHPLAN

Während der ersten Exkursion an Sol 3 wird Pilot/ Astronaut P. Connors vor der Kamera folgendes demonstrieren: 1. Farben der Marslandschaft. Kameraschwenk, um Farbe des Bodens und des Himmels zu zeigen.

2. Einen marsianischen Stein. Einen mittelgroßen Steinbrocken aufheben, ihn der Kamera zeigen. Erklären, daß die rote Farbe von der Oxidation von Mineralien auf Eisenbasis stammt.

3. Temperatur. Thermometer auf den Boden legen, Temperatur zeigen (etwa 14-18 Grad Celsius). Thermometer auf Augenhöhe heben, zeigen, wie das Quecksilber auf weit unter null Grad fällt. Erklären, daß dieses Phänomen auf der geringen Wärmespeicherungsfähigkeit der dünnen Marsatmosphäre beruht.

4. Niedrigen Luftdruck. Gefäß mit normalem Wasser öffnen und der Kamera zeigen, daß es wegen des extrem niedrigen Luftdrucks sofort kocht, selbst bei einer Temperatur von weit unter null Grad. Erklären, daß mit dem Blut dasselbe geschehen würde, wenn es nicht durch den harten Druckanzug geschützt wäre.

5. Geringe Schwerkraft. Steinhammer fallenlassen, um zu zeigen, daß er langsamer fällt als ein ähnlicher Gegenstand auf der Erde, aber schneller als auf dem Mond (zum Vergleich Einspielung des früheren Videobandes von Astronaut Connors, der den gleichen Steinhammer auf dem Mond fallenläßt).


6. Marsmond. Falls am Tageshimmel sichtbar, inneren Mond Phobos zeigen, wie er im Westen aufgeht und den Marshimmel in vier Stunden überquert. Es ist nicht erforderlich, die gesamte vierstündige Mondbahn zu filmen. Teleobjektiv benutzen, um zu zeigen, daß Phobos die Phasen wechselt – von ›Neumond‹ zu ›Viertelmond‹ und ›Vollmond‹. Band kann der Sendezeit entsprechend geschnitten werden.


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