SOL 8

Jamie und Wosnesenski waren aufgebrochen, sobald sie im morgendlichen Sonnenlicht ihre Umgebung sehen konnten.

Den gesamten vorherigen Tag hatten sie den Rover abwechselnd mit halsbrecherischem Tempo durch die unebenen, zerklüfteten Badlands gejagt, Richtung Nordosten, weg von den Verwerfungsschluchten von Noctis Labyrinthus, weg von ihrem Basislager. Halsbrecherisches Tempo hieß bei dem Rover nicht ganz vierzig Stundenkilometer – etwa soviel wie die Höchstgeschwindigkeit im Bereich einer Schule.

Trotzdem waren sie erschöpft, als die Sonne schließlich hinter dem zerklüfteten Horizont in ihrem Rücken untergegangen war und die dunklen, kalten Schatten der Nacht ihr Fahrzeug eingeholt hatten. Zwei Tage ununterbrochenen Fahrens mit häufigen Umwegen um Gebirgskämme oder Spalten, die zu steil oder zu tief waren, als daß man sie auf direktem Wege hätte überwinden können, hatten sie körperlich und emotional entkräftet. In mürrischem Schweigen nahmen sie ein spärliches Abendessen ein; dann setzte sich Wosnesenski mit Dr. Li und dem Basislager in Verbindung. In der Basis lief alles reibungslos, und zu Jamies fortgesetzter Überraschung und Freude gab Li ihnen immer noch nicht die Anweisung, umzukehren und zum Lager mit der Kuppel zurückzufahren.

»Die Flugkontrolleure haben kein Veto gegen unsere Exkursion eingelegt«, sagte Jamie und lehnte sich auf der Bank zurück, die sich später zu seiner Liege ausklappen lassen würde.

Wosnesenski saß ihm an dem schmalen Klapptisch gegenüber.


»Noch nicht«, sagte der Kosmonaut wie ein Delinquent, der darauf wartet, daß das Beil herabsaust.

Jamie verspürte ein Gefühl zwischen Schuldbewußtsein und Verlegenheit. »Tut mir leid, daß ich in der Sache über Ihren Kopf hinweggehen mußte«, sagte er.

Wosnesenski hob die massigen Schultern. »Es war Ihr Recht, das zu tun.« Er schaute Jamie in die Augen und fügte hinzu:

»Meine Aufgabe war es, am Missionsplan festzuhalten, bis man ihn höheren Ortes ändern würde. Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich habe mich nicht aus persönlichen Gründen dagegen ausgesprochen.«

Eine Ranke der Erleichterung schlängelte sich an Jamies Rückgrat empor. »Dann sind Sie nicht verärgert?«

»Warum sollte ich? Glauben Sie, ihr Wissenschaftler habt ein Monopol auf Neugier?«

Jamie lächelte breit. »Na prima! Ich hatte schon Angst, ich hätte es mir mit Ihnen verdorben.«

Der Russe grinste zurück. »Nein. Als Doktor Li die Verantwortung übernommen und diese Änderung der Exkursion genehmigt hat, waren meine Einwände vom Tisch. Ich möchte diesen Grand Canyon auch gern sehen.«

Jamie schlief tief und fest, träumte von Mesa Verde und seinem Großvater.

Nach ihrer dritten Nacht im Rover erwachten sie im ersten gespenstischen Morgengrauen, einer ganz schwachen, blaßrosa Aufhellung des Himmels über dem flachen östlichen Horizont. Jamie zog den Overall über seinen Slip, baute dann den Klapptisch zwischen ihren Liegen auf und stellte zwei Portionen Fertigfrühstück in die Mikrowelle, während Wosnesenski auf dem Klo saß. Der Russe, der schon seinen braunen Overall und die weichen Pantoffelsocken trug, löffelte den dampfenden Haferschleim in sich hinein, während Jamie in die Toilettenzelle ging.

Als Jamie sich gerade wusch, hörte er Wosnesenski rufen:

»Jamie! Schauen Sie sich das an!«

Er tauchte gebückt aus dem kleinen Raum und sah, daß Wosnesenski vorn im Cockpit war. Er zwängte sich am Tisch vorbei und gesellte sich zu ihm.

Wosnesenski hatte den Thermovorhang zurückgezogen. Das gewölbte Dach der Plastglas-Kanzel funkelte von glitzernden kleinen Lichtpunkten, die wie Glühwürmchen aufleuchteten und erloschen.

»Tautropfen«, sagte Wosnesenski. »Morgentau.«

»Er kondensiert am Glas.« Jamie streckte die Finger aus und berührte die Kuppel. Innen war sie kalt, aber trocken. Noch während er hinsah, erschienen weitere winzige Tröpfchen und vergingen sofort wieder, verdunsteten vor seinen Augen, verschwanden so schnell, daß er sie gar nicht gesehen hätte, wenn andere nicht kurz aufgeschimmert wären. Wie winzige Diamanten funkelten sie einen Herzschlag lang und waren dann wieder verschwunden. Nach ein paar Minuten hörte es auf. Jamie wurde bewußt, daß er nie etwas von ihren Existenz geahnt hätte, hätte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen. Mikhail hatte sie genau im richtigen Moment erblickt.

»Hier ist Feuchtigkeit in der Luft«, sagte der Russe. »Zumindest ein bißchen.«

»Frost«, murmelte Jamie. »Müssen Eispartikel sein, die sich nachts in der Luft bilden. Sie sind auf der warmen Fläche geschmolzen…«

»Und sofort verdunstet.«


»Woher kommt die Feuchtigkeit?« fragte Jamie. Er wandte sich an den Russen. »Mikhail, wie weit sind wir noch vom Canyon entfernt?«

»Eine Stunde Fahrtzeit, vielleicht ein bißchen mehr.«

Wosnesenski glitt auf den Fahrersitz und rief eine Karte auf, die sofort auf dem Bildschirm in der Mitte der Kontrolltafel erschien. »Ja, ungefähr eine Stunde.«

»Dann lassen Sie uns aufbrechen! Sofort! Ich fahre.«

» Ich fahre«, sagte Wosnesenski fest. »Sie sind zu aufgeregt.

Sie würden wie ein Cowboy fahren, nicht wie ein Indianer.«

Dann kicherte er tief in der Kehle über seinen eigenen Witz.

Jamie sah den Russen mit zusammengekniffenen Augen an.

Humor bei Mikhail? Das ist noch seltener als Morgentau auf dem Mars.

Jetzt schwankte und schlingerte der Rover zwischen Felsbrocken hindurch und über Bodenwellen hinweg; Wosnesenski konzentrierte sich voll und ganz aufs Fahren. Er gab Vollgas, und das segmentierte Fahrzeug raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die rostige Wüste. Für Jamie, der rechts neben Wosnesenski saß, war der Rover eine große Raupe aus Metall, die langsam durch die Marslandschaft kroch. Der staubige rote Boden war wie überall mit Steinen übersät, obwohl es hier viel weniger Krater zu geben schien als weiter westlich. Hier und dort lagen hausgroße Felsblöcke, und Jamie juckte es in den Fingern, auszusteigen und sie zu untersuchen.

Aber sie blieben in ihren bequemen Overalls im Rover und setzten ihren langsamen Vorstoß zum Grand Canyon des Mars fort. Jamie schloß die Hand um den Steinfetisch in seiner Tasche. Morgens liegt Feuchtigkeit in der Luft, wiederholte er immer wieder im stillen. Sie kommt bestimmt vom Canyon.

Bestimmt.

Insgeheim hatte er Angst, Dr. Lis Zustimmung könnte von jemandem in der Befehlshierarchie auf der Erde rückgängig gemacht werden. Er wollte am Ziel sein, wenn ein solches Signal kam – oder zumindest so nah am Ziel, daß sie noch ein paar Untersuchungen vornehmen konnten, bevor sie dem Rückkehrbefehl zur Basis gehorchen mußten. Mikhail scheint das auch zu wollen, dachte Jamie. Auf seine Weise ist er genauso aufgeregt wie ich.

»Ich bin vor Ihnen noch nie einem Indianer begegnet«, sagte Wosnesenski abrupt, ohne den Blick von dem Gelände vor sich abzuwenden.

»Ich bin kein richtiger Indianer«, erwiderte Jamie. »Ich bin zu einem Weißen erzogen worden.«

»Aber Sie sind kein Weißer.«

»Nein, nicht ganz.« Der Rover holperte über eine kleine Rinne, und Jamie hüpfte in seinem Sitz. »In den Staaten haben wir Menschen aus allen Teilen der Welt – aus sämtlichen europäischen Staaten, Asiaten, Afrikaner…«

»Ich habe von den Problemen eurer Schwarzen gehört. Wir haben in der Schule gelernt, daß sie von eurem rassistischen System unterdrückt werden.«

Jamie merkte, wie er zornig wurde. »Wieso ist dann der einzige Schwarze auf dem Mars ein Amerikaner? Warum haben die afrikanischen Staaten sich nicht an dieser Expedition beteiligt?«

»Weil sie arm sind«, antwortete der Russe und manövrierte den Rover geschickt um einen neu aussehenden Krater herum, der ungefähr die Größe eines Swimmingpools hatte. »Sie können sich einen solchen Luxus wie die Raumforschung nicht leisten. Sie können ja kaum ihre Einwohner ernähren.«

»Ist das wirklich ein Luxus, Mikhail? Glauben Sie, daß es Geldverschwendung ist, die Hand nach dem Weltraum auszustrecken?«

»Nein«, antwortete Wosnesenski sofort und bestimmt. In seinem Ton lag nicht der geringste Zweifel.

Jamie dachte an die heruntergekommenen Pueblos und zerbröckelnden alten Adobehäuser in New Mexico. »Ich weiß nicht«, sagte er nachdenklich. »Manchmal glaube ich, das Geld hätte besser angelegt werden können, um den Armen zu helfen.«

Der Russe warf ihm einen raschen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder aufs Fahren. Er schwieg geraume Zeit, und Jamie schaute in das staubige rote Land hinaus, das an ihnen vorbeizog – Felsen, abbröckelnde alte Rinnen, Krater, kleine Dünen, deren Sand vom Wind aufgeweht wurde. Weiter weg, in Richtung zum Horizont, sah er einen Staubwirbel, der sich wie eine rote Windhose in den rosafarbenen Morgenhimmel schraubte.

»Was wir tun, hilft den Armen«, sagte Wosnesenski. »Wir nehmen ihnen kein Brot weg. Wir erweitern den Lebensraum der menschlichen Spezies. Die Geschichte hat gezeigt, daß jede Erweiterung des menschlichen Lebensraums einen Zuwachs an Reichtum und eine Steigerung des Lebensstandards mit sich gebracht hat. Das ist eine objektive Tatsache.«

»Aber es gibt immer noch Arme«, entgegnete Jamie.

Die Stimme des Russen nahm einen leicht gereizten Ton an.

»Allein schon der russische Staatenbund hat den armen Ländern Hilfsgelder in Höhe von mehreren tausend Milliarden gewährt. Die Vereinigten Staaten noch mehr. Diese Expedition zum Mars hat den Armen nicht geschadet. Was wir hier ausgeben, ist ein Trinkgeld im Vergleich zu dem, was sie bereits erhalten haben. Und was hat es ihnen gebracht? Sie setzen nur noch mehr Babies in die Welt, bringen eine weitere Generation von Armen hervor. Eine noch größere Generation. Es nimmt kein Ende.«

»Also leiden sie keinen Hunger, weil wir hier auf dem Mars sind.«

»Ganz sicher nicht. Es fehlt ihnen an Disziplin, das ist ihr Problem. In der russischen Föderation haben wir uns innerhalb einer einzigen Generation von einer rückständigen Agrargesellschaft zu einem mächtigen Industriestaat entwickelt.«

Ja, erwiderte Jamie im stillen, mit Stalin als großem Steuermann. Dem war es egal, wie viele Millionen verhungert sind, während er seine Fabriken und Kraftwerke gebaut hat.

»Aber sagen Sie mir, wie war es, in New Mexico aufzuwachsen? Das ist doch in der Nähe von Texas, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Jamie. »Zwischen Arizona und Texas.«

»Ich war dort. In Houston.«

»New Mexico ist ganz anders als Houston.« Jamie lachte.

Dann sagte er: »In Wirklichkeit bin ich größtenteils in Kalifornien aufgewachsen. In Berkeley. Dort haben meine Eltern an der Universität unterrichtet. Ich war noch klein, als wir dorthin gezogen sind. Aber ich habe viele Sommer in Santa Fe verbracht, bei meinem Großvater.«

Es war ein anstrengender Tag gewesen. Jamie war fast siebzehn und schloß gerade die Highschool ab. Seine Eltern waren schwer enttäuscht von ihm, weil er keine klare Vorstellung hatte, was er auf dem College studieren wollte.

Sie waren mit ihn nach Santa Fe geflogen, wo er den Sommer verbringen sollte. Sein Großvater hatte erklärt, daß er Jamie ein Vollstipendium an der Universität von Albuquerque besorgt hatte – falls er es haben wollte.

Das Abendessen war längst beendet, und sie saßen im Eßzimmer von Als Haus oben in den Hügeln nördlich von Santa Fe um den großen Eichentisch herum, auf dem noch die Reste des gebratenen Zickleins standen, und unterhielten sich.

Das Eßzimmer war groß und kühl, mit einer schrägen, hohen Balkendecke und einem Fußboden aus glänzenden, ockerfarbenen Fliesen. Durch das große Fenster konnte Jamie Wohnhäuser im Adobestil sehen, die die Hänge über der Stadt sprenkelten. Die meisten gehörten Al; es waren Ferienhäuser für die Skifahrer im Winter und die Touristen, die das ganze Jahr über kamen und echte indianische Artefakte kaufen wollten. Die Sonne ging über den dunkler werdenden Bergen unter. Bald würde ein weiterer spektakulärer New-Mexico-Sonnenuntergang den Himmel färben.

Jamie hatte sein cabrito bis zum letzten Stück aufgegessen und sich die Gewürze schmecken lassen, die Als Koch so großzügig benutzt hatte. Seine Mutter, die bedenkenlos lapin und Froschschenkel essen würde, hatte ihren Teller kaum angerührt. Jamies Vater hatte seine Portion locker geschafft, aber jetzt rieb er sich unbewußt die Brust, als wären die Gewürze zuviel für ihn gewesen.

»Ich bin sicher, du meinst es gut, Al«, sagte Lucille mit ihrem süßesten, überzeugendsten Kleinmädchenlächeln, »aber wir hatten nun einmal angenommen, daß Jamie zu Hause bleiben und auf die Universität in Berkeley gehen würde.«

»Wird dem Jungen guttun, wenn er die Dinge mal aus einem anderen Blickwinkel sieht«, sagte Al und zog eine Packung dünner, dunkler Zigarillos aus seiner Hemdtasche. »Dazu ist das Schulwesen doch angeblich da, stimmt’s: für die Bildung.

Und das ist mehr als Bücher und Seminare, oder?«

Lucille runzelte die Stirn, als ihr Schwiegervater seinen Zigarillo ansteckte und eine dünne graue Wolke zur Balkendecke blies. Sie warf ihrem Mann einen scharfen Blick zu.

Jerome Waterman hüstelte leise und sagte: »Dad, der Junge hat sich noch nicht mal entschieden, was er studieren will, geschweige denn, auf welche Uni er gehen möchte.«

Die reden, als ob ich diese Entscheidungen treffen würde, dachte Jamie. Aber sie fragen mich nicht mal nach meiner Meinung.

Sein Vater fuhr fort: »Angesichts seiner Noten und der Ergebnisse seiner Eignungstests…«

»Ach, hört mir auf mit diesem Quatsch!« entfuhr es Al. Dann schenkte er seiner Schwiegertochter sein schmeichlerischstes Lächeln. »Entschuldige meine Ausdrucksweise, Lucille. Aber diese Pfeifen von Psychologen würden doch nicht mal einen Skunk in ihrem eigenen Wäscheschrank finden, geschweige denn, daß sie einem Siebzehnjährigen helfen könnten herauszufinden, welche Richtung er in seinem Leben einschlagen will.«

»Ich werde nicht zulassen, daß Jamie zu einem Indianer gemacht wird«, sagte Lucille fest.

Al lachte schallend los, eine Reaktion, die Jamie oft bei ihm gesehen hatte – in seinem Laden, wenn er einen Moment brauchte, um seine Gedanken zu sortieren, bevor er eine schwierige Frage beantwortete.

»Was denkst du denn, Lucy? Glaubst du, ich will, daß er in einem Laden arbeitet und Touristen aus Beverly Hills oder New York bedient? Glaubst du, ich will, daß er sein Leben in einem albernen Pueblo vergeudet, Schafe züchtet und für den Rest seines Lebens Bier trinkt?«

»Der Junge hat eine wissenschaftliche Begabung«, sagte Jerry.

»Dann soll er ein naturwissenschaftliches Fach studieren! In Albuquerque gibt es hervorragende Wissenschaftler. Alle Arten von Geologen und was weiß ich nicht alles.«

Geologie. Jamie hatte lange Stunden damit verbracht, in den trockenen Hügeln und Arroyos Steine zu sammeln. Al hatte ihn nach Colorado mitgenommen und ihm die Felsenbauten auf der Mesa Verde gezeigt, er war mit ihm nach Arizona zum Grand Canyon und dem großen Meteoritenkrater gefahren.

»Einige der besten Wissenschaftler der Welt sind in Berkeley«, sagte Lucille steif. »Allein im Fachbereich Physik…«

Al unterbrach sie. »Zum Teufel, wir reden hier über die Zukunft des Jungen, als ob er gar nicht anwesend wäre. Jamie!

Was meinst du zu all dem? Was hast du dazu zu sagen?«

Jamie erinnerte sich an den Grand Canyon. Diese gewaltige Schlucht, die sich in die Erde gefressen hatte. Die Farben der verschiedenen Felsschichten, eine nach der anderen. Die ganze Weltgeschichte war auf diese Felsen gemalt, eine Geschichte, die viel, viel weiter zurückreichte als bis zu den Anfängen menschlichen Lebens.


»Geologie finde ich gut«, sagte er. »Ich würde gern Geologie studieren, glaube ich.«

Über eine Stunde war vergangen, seit sie losgefahren waren.

Jamie betastete den Bärenfetisch in der Tasche seines Overalls, während der Rover eine Bodenwelle hinaufkletterte. Mühsam arbeitete er sich den immer steiler werdenden Hang empor, der mit kleinen Steinbrocken und Kieseln übersät war. Der rote Boden wirkte sandig und bröckelig. Jamie lauschte dem gequälten Wimmern der Elektromotoren, die jedes Rad einzeln antrieben.

Wosnesenski bremste das Fahrzeug ab, bis es nur noch dahinkroch. Jamie schaute nach vorn. Er sah nur den herannahenden Kamm und den rosafarbenen Himmel dahinter. Keine Wolke an diesem Himmel; er war so klar und leer wie der tiefblaue Himmel von New Mexico.

»Können wir nicht schneller fahren?« drängte Jamie.

»Die Feuchtigkeit wird schon ganz aus der Luft weggebrannt sein, wenn wir…«

Wosnesenski trat abrupt auf die Bremse. Jamie flog nach vorn und streckte reflexartig die Hände zur Kontrolltafel aus.

Er setzte dazu an, sich zu beschweren, dann starrte er mit offenem Mund auf die Szenerie draußen vor der Plastglaskanzel.

»Wir sind da«, sagte Wosnesenski.

Was Jamie für den Kamm einer Bodenwelle gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Rand des Canyons. Dahinter tat sich eine gewaltige, endlose, gähnende Leere auf. Sie standen hart am Rand einer Klippe, die Kilometer um Kilometer senkrecht abfiel. Noch ein oder zwei Meter, und der Rover wäre über die Kante gekippt und in die Tiefe gestürzt.


»Jesus Christus«, hauchte Jamie.

Wosnesenski grunzte.

Jamie erhob sich aus seinem Sitz und schaute so weit in diesen ungeheuerlichen Abgrund namens Tithonium Chasma hinunter, wie er konnte. Er war schwindelerregend, und bei dem Gedanken, daß diese gigantische Spalte nur ein Arm der Valles Marineris war, das Talsystem, das sich über mehr als dreitausend Kilometer nach Osten erstreckte, wurde ihm noch schwummriger zumute.

Dann spürte er, wie sich das Herz in seiner Brust zusammenkrampfte. »Mikhail – er ist da. Der Nebel…«

Zarte, federartige graue Wolken wehten durch die riesige Schlucht, wie ein geisterhafter Fluß, der lautlos unter ihnen vorbeiströmte.

»Das Sonnenlicht reicht noch nicht so tief in die Schlucht hinunter«, sagte Wosnesenski.

»Ja.« Jamie schob sich aus seinem Sitz hoch und machte sich auf den Weg zur Luftschleuse und zu den Raumanzügen.

»Kommen Sie, wir müssen das auf Band kriegen, bevor die Wolken verdunsten. Da unten gibt es Feuchtigkeit, Mikhail!

Wasser!«

»Eispartikel«, sagte der Russe. Er folgte Jamie zum Spind mit den Anzügen.

»Sie schmelzen zu flüssigem Wasser.«

»Und verdunsten.«

»Und bilden sich in der nächsten Nacht von neuem.« Jamie zwängte sich in die untere Hälfte seines Anzugs. »Die Feuchtigkeit verschwindet nicht. Sie bleibt im Tal – zumindest für eine Weile.«


Er hatte seinen Anzug noch nie so schnell angezogen. Nach der unteren Hälfte kamen die Stiefel (so war es viel einfacher), dann das Oberteil, zum Schluß der Helm. Wosnesenski half ihm, seinen Tornister anzulegen, und überprüfte alle Verschlüsse und Verbindungen, während Jamie herumzappelte wie ein Hühnerhund, der die Fährte aufgenommen hat.

Als er sich die Videokamera schnappte, sagte Wosnesenski streng: »Handschuhe! Schalten Sie Ihren Kopf ein, bevor Sie nach draußen gehen. Ganz gleich, wie aufgeregt Sie sind – gehen Sie erst die Checkliste durch.«

»Danke«, sagte Jamie. Er kam sich töricht vor.

Wosnesenski stülpte sich den Helm über den Kopf und arretierte die Halsverschlüsse. »Je aufgeregter Sie sind, um so mehr müssen Sie sich zwingen, innezuhalten und die Checkliste Punkt für Punkt durchzugehen.«

»Sie haben recht«, sagte Jamie ungeduldig.

Der Russe grinste ihn an wie ein vierschrötiger Bär, der die Zähne fletscht. »Wenn Sie sich hier umbringen, bekomme ich große Schwierigkeiten mit Doktor Li und den Flugkontrolleuren in Kaliningrad.«

Jamie merkte, daß er das Grinsen erwiderte. »Das möchte ich Ihnen wirklich nicht antun, Mikhail.«

»Gut. Jetzt können wir rausgehen.«

›Canyon‹ war keine angemessene Bezeichnung. Jamie konnte die andere Seite nicht sehen; sie lag hinter dem Horizont. Der Abgrund namens Tithonium Chasma war so gewaltig, so eindrucksvoll, daß Jamie anfangs nur durch sein getöntes Visier hinausstarrte, benommen vor Erregung und einem überwältigenden Gefühl der Ehrfurcht.


Unwillkürlich formten sich Worte aus seiner längst vergessenen Kindheit in seinem Kopf: Dies sind die Worte der sich wandelnden Frau, Weisheit schenkte sie den Heiligen Leuten: Das einzige Ziel für einen Menschen ist Schönheit und Schönheit ist nur in der Harmonie zu finden.

»Die Kamera.« Er hörte Wosnesenskis Stimme in seinem Helmkopfhörer. »Das Sonnenlicht beginnt den Nebel aufzulösen.«

Jamie schüttelte sich in seinem Raumanzug und machte sich an die Arbeit. Er schwenkte die Videokamera über das Tal hin und her, dann vom Rand der Klippe, auf der sie standen, hinaus zu dem nebelverhangenen Horizont. Überall, wo die Wolken von der Sonne berührt wurden, verdunsteten sie und lösten sich auf. Wie in den alten Mythen von Geistern, die verschwinden, wenn die Sonne aufgeht, sagte sich Jamie.

»Wenn das hier ein ›Tal‹ ist«, murmelte er, während er die Kamera bediente, »dann ist der Pazifik wirklich nicht mehr als ein großer Teich.«

Wosnesenski sagte: »Wenn Sie hier eine Weile ohne mich zurechtkommen, stelle ich eine Sensor-Einheit auf.«

»Ich komme schon klar«, antwortete Jamie. »Bei mir ist alles okay.«

Stundenlang sah er zu, wie die Nebelschleier sich auflösten, als die blasse Sonne am rosafarbenen Himmel höher stieg. Unten in den tiefsten Winkeln der Felsen muß es Stellen geben, wo der Nebel haftenbleibt, wohin das Sonnenlicht nicht gelangt, sagte sich Jamie. Kleine Oasen, wo es Tröpfchen flüssigen Wassers gibt und die Sonnenwärme die Felsen aufheizt.

Kleine Taschen, wo sich das Leben halten könnte.

Gegen Mittag hatte er drei Videokassetten verbraucht und steckte eine vierte in die Kamera. Die Nebelschleier waren nun beinahe vollständig verschwunden, und die Felsformationen erstreckten sich von seinem Standort aus wie stolze alte Festungen nach links und rechts. Die Talsohle war so tief unten, daß er nur ihren fernen Teil sehen konnte, der sich über den Horizont hinaus krümmte. In den Felsen dort unten hingen immer noch neblige Schatten.

»Sie sind differenziert, Mikhail«, sagte Jamie in sein Helmmikrofon. »Die Felswände hier sind geschichtet. Hier hat es einmal ein Meer oder vielleicht auch einen gewaltigen Fluß gegeben. Schauen Sie sich die Schichten an.«

Wosnesenski, der wieder neben ihm stand, sagte: »Die Felsen sind alle rot.«

Jamie lachte. »Und auf der Erde sind alle Bäume grün. Aber es gibt verschiedene Schattierungen, Mikhail.«

Er zeigte mit einer behandschuhten Hand an der Linie der Klippen entlang. »Schauen Sie, dort. Sehen Sie, die oberste Schicht ist vertikal frakturiert und ziemlich stark verwittert.

Aber die Schicht darunter ist glatter und viel dunkler gefärbt.«

»Ah ja«, sagte Wosnesenski. »Jetzt sehe ich’s.«

»Und die Schicht unter dieser ist mit gelblichen Intrusionen gestreift. Vielleicht Bauxit oder so etwas. Dieses Gebiet muß vor langer Zeit einmal viel wärmer gewesen sein.«

»Meinen Sie? Warum?«

Jamie setzte zu einer Antwort an und merkte dann, daß er sich dem Wunschdenken hingab. »Gute Frage, Mikhail. Ich mache noch einen Wissenschaftler aus ihnen.«


Er hörte das tiefe Glucksen des Russen. »Das wohl kaum.«

Jamie blinzelte in die Sonne. »Bauen wir die Winde auf. Ich möchte…«

»Nicht da hinunter!«

»Nur die ersten drei Schichten«, sagte Jamie. »Ich weiß, daß wir nicht bis zum Boden hinunterkommen, nicht einmal annähernd. Aber ich kann zumindest die Schicht mit den gelblichen Intrusionen erreichen. Kommen Sie, die Sonne fängt schon an, diese Seite zu bescheinen.«

»Kein Mittagessen?«

»Sie können essen, wenn die Winde aufgebaut ist. Ich bin zu aufgeregt zum Essen.«

Auf seine phlegmatische, unbewegliche Weise bestand Wosnesenski darauf, daß sie beide aßen, bevor sie die Winde und das Klettergeschirr herausholten.

»Ernährung ist wichtig«, beharrte der Russe. »Viele Fehler werden aufgrund von Hunger begangen.«

Jamie mußte unwillkürlich grinsen. »Sie klingen wie ein Werbespot für Bran Flakes, Mikhail.«

»Bran Flakes? Soll das was zum Essen sein? Babynahrung oder was?«

Jamie lachte.

Keiner von beiden machte sich die Mühe, mehr als Helm und Handschuhe abzulegen, als sie im Rover waren. Sie hockten sich in ihren schwerfälligen Anzügen auf den Rand ihrer einander gegenüberstehenden, halb eingeklappten Liegen und aßen jeder eine warme Mahlzeit. Wosnesenski holte dann die Flasche mit Vitaminpräparaten aus ihrem kleinen Arzneischränkchen.


»Haben wir beim Frühstück vergessen«, sagte er und reichte Jamie die Flasche.

»Stimmt.« Jamie schüttelte eine der orangefarbenen Pillen heraus. »Darf ich dann auch Familie Feuerstein sehen?«

Wosnesenski runzelte verblüfft die Stirn. »Das ist kein Scherz. In unserer Kost sind viel zu wenig Vitamine; wir bekommen kein Sonnenlicht auf die Haut. Die Ergänzungspräparate sind notwendig.«

»Außerdem steht es in den Missionsvorschriften«, scherzte Jamie.

Er steckte die Pille in den Mund und spülte sie mit dem letzten Schluck Kaffee in seinem Becher hinunter. Gott, was gäbe ich für eine Tasse echten Kaffee statt dieser Pulverplörre!

Dann sah er, daß das Sonnenlicht bereits schräg durch das Kanzeldach des Cockpits in den Rover fiel.

»Kommen Sie, Mikhail, wir verschwenden Zeit.«

Sie brauchten alle vier Hände, um das Gurtgeschirr über Jamies Tornister und durch seinen Schritt zu ziehen und es dann über der Brust festzuzurren. Während der Russe an der Winde Wache hielt, ließ Jamie sich vorsichtig an der steilen Felswand der Klippe hinab. Tief, tief unten hingen noch ein paar hartnäckige Nebelfäden an den Felsen, grau und geisterhaft, hoben und senkten sich langsam wie lange Meereswellen oder die Brust eines schlafenden Riesen.

Die gegenüberliegende Wand des Canyons war nicht zu sehen, lag hinter dem Horizont. Statt des Gefühls, in einer Falle zu sitzen, das ihm im Noctis Labyrinthus zu schaffen gemacht hatte, kam es Jamie nun so vor, als stiege er an der Felswand einer heimatlichen Mesa ab. Der größten Mesa, die je ein Mensch gesehen hat, sagte er sich, als er zwischen seinen frei in der Luft hängenden Füßen hindurch zu dem kilometerweit unter ihm liegenden Boden hinunterschaute.

Wenn wir hier in New Mexico wären, läge die andere Seite dieses Canyons in Neufundland.

Jamie mußte sich bewußt zwingen, seine Aufmerksamkeit auf das Abschlagen von Steinproben zu konzentrieren. Trotzdem dachte er über die Welt auf dem Grund der größten Schlucht des Sonnensystems nach, während er im Geschirr baumelnd mit seiner Arbeit begann. Wir haben nicht damit gerechnet, daß es im Sommer Nebel geben würde, haben nicht geglaubt, daß dafür genug Feuchtigkeit in der Luft wäre. Unten im Hellas-Becken, ja. Aber hier nicht. Ich wünschte, wir hätten Proben von dem Zeug nehmen können. Vielleicht sind es Eiskristalle. Aber es sieht nicht wie Eisnebel aus. Andererseits, woran soll man das erkennen? Hier herrschen andere Gesetze, oder zumindest andere Bedingungen. Im Bodenbereich des Canyons muß es ein ganz anderes Ökosystem geben als jenes, das wir an der Oberfläche sehen. Vielleicht ist die Luft da unten dichter. Feuchter. Wärmer. Vielleicht gibt es da unten Leben, das sich in warmen kleinen Nischen verbirgt –

wie unsere Vorfahren, die in Höhlen gehaust haben.

Hier hätten wir unser Basislager aufschlagen sollen, nicht auf dieser langweiligen Ebene. Dann hätten wir unsere Zeit damit verbringen können, den Canyon zu erforschen. Diese alte Furche im Boden hat uns mehr zu erzählen als jeder andere Ort auf dem Mars.

Jamie, der in seinem Geschirr ein paar Meter unterhalb des Randes der Schlucht und viele Kilometer über ihrem dunstigen Grund schwebte, war froh darüber, daß diese Felswände sich grundlegend von denen in den Badlands von Noctis Labyrinthus unterschieden. Dort hatten sie aus einem einheitlichen Stück eisenroten Steins bestanden. Hier waren sie geschichtet, Lage um Lage, so verwittert und gefurcht wie die Mesas daheim, informative Seiten eines versteinerten Buches, das demjenigen, der die Fähigkeit und die Geduld besaß, es zu lesen, die ganze Geschichte dieser Welt erzählte.

Die oberste Schicht der Felswand, unmittelbar unter der überlagernden Gesteinsschicht, war beinahe weich gewesen, das Gestein bröckelig, leicht loszubrechen. Auf der Erde wäre es von Wind und Regen im geologischen Handumdrehen abgetragen worden. Aber hier auf dem trockenen, ruhigen, sanften Mars konnte es äonenlang ungestört bleiben, wo es war; nur die langsame Erosion durch die Sonnenwärme und die nächtliche Kälte würde es irgendwann zerbrechen. Trotzdem gab es kein Wasser in dieser Schicht, darauf wäre Jamie jede Wette eingegangen. Nicht einmal Permafrost. Sonst hätte die Ausdehnung und Kontraktion des Wassers im Verlauf des Tag-und-Nacht-Zyklus einen solch krümeligen Stein sehr rasch zerbröselt.

Die nächste Schicht bestand aus viel härterem Gestein von dunklerem Rot. Mehr Eisen, vermutete Jamie. Shergottit, wie der Meteorit, den ich in der Antarktis gefunden habe.

Jamie machte sich mit seinem Handpickel ans Werk, bis er mehrere lose Steinchen in der freien Hand hatte. Splitter und abgeschlagene Stücke fielen rasselnd in die Tiefe, fielen außer Sicht und außer Hörweite, hinunter zum Grund des Canyons so weit unten. Als Jamie die Gesteinsproben in einen Sammelbeutel gleiten ließ, merkte er, daß er von der Anstrengung schweißüberströmt war. Das Gebläse des Anzugs zischte; es klang, als wäre es wütend auf ihn, weil er ihm derart zusetzte.


Er atmete die Konservenluft tief ein, steckte den Pickel sorgfältig in die Schlinge an seinem Gürtel, zog dann den Kugelschreiber heraus (der garantiert auch in der Schwerelosigkeit funktionierte) und beschriftete den Probenbeutel präzise: Datum, Uhrzeit, genaue Entfernung vom Rand. Die erfuhr er, indem er sich von Wosnesenski die Längenangaben am Seil der Winde durchgeben ließ.

»Nicht mehr viel Tageslicht übrig.« Wosnesenskis Stimme klag so kalt und emotionslos wie die eines Computers.

Jamie schaute nach oben und stemmte dann einen Stiefel gegen die Felswand, um sich in dem Geschirr zu drehen. Im selben Moment war es, als ob eine Million Nadeln in sein Bein stächen. Vom Hängen im Gurtgeschirr waren ihm beide Beine eingeschlafen. Jamie schimpfte und fluchte vor sich hin, während er mit den Beinen schlenkerte und mit den Zehen wackelte, um den Kreislauf wieder einigermaßen in Gang zu bringen.

Es fühlte sich an, als ob eine ganze Kolonie von Ameisen an seinen Beinen knabbern würde.

»Was ist los?« Wosnesenskis Stimme hatte auf einmal einen eindringlichen Klang. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Die Beine sind mir eingeschlafen«, antwortete Jamie.

»Ich ziehe Sie herauf.«

»Nein… das ist gleich wieder okay. Ich möchte zu dieser dritten Schicht hinunter, wo das gelbe Zeug ist.«

»Die Zeit wird knapp.«

»Ist sie das nicht immer?« Jamie schaute über den gewaltigen Abgrund hinaus und sah, wie die Schatten auf ihn zukrochen.

»Wir haben mindestens noch eine Stunde.«

»Eine Stunde«, sagte Wosnesenski mit unerbittlicher Endgültigkeit.


»Ja. Okay.«

Jamie steckte den Probenbeutel in den Sack, der gleich neben dem Fetisch um seinen rechten Oberschenkel geschnallt war, hob die Hand dann zu dem Tastenfeld an seiner Brust, mit dem er die Winde kontrollierte. Und erstarrte.

Sein Blick war auf eine dunkle Kerbe in der Felswand einen Kilometer oder noch weiter links von ihm gefallen, eine horizontale Spalte mit ebenem Boden und einem leicht vorgewölbten Felsüberhang darüber. Wie bei der Spalte auf der Mesa Verde, in der die Alten ihr Dorf aus getrockneten Lehmziegeln erbaut hatten.

Und in der Spalte waren Gebäude!

Jamie fühlte, wie ihm der Atem abrupt aus den Lungen entwich; er bekam ein hohles Gefühl im Bauch, und seine Eingeweide sackten weg, als wäre er plötzlich vom Rand des höchsten Berges im Universum gestoßen worden.

Das können keine Gebäude sein, beharrte ein Teil von ihm.

Doch er konnte quadratische Umrisse erkennen, Mauern und Türme. Kein Dunst trübte die Sicht; in dieser Höhe war die Luft so klar wie ein polierter Spiegel.

Jamie tastete an seinem Gürtel herum, ohne die Augen von dem phantastischen Anblick abzuwenden, fand die Videokamera, die dort festgeklemmt war, und riß sie los. Er schlug damit an sein Visier, und sein Kopf ruckte überrascht nach hinten, aber dann hielt er sie ruhig und justierte das Teleobjektiv.

Seine Hände zitterten so heftig, daß er zuerst nur ein verschwommenes, wackliges Bild sah. Er fletschte die Zähne und zwang sich mit aller Macht verzweifelt zur Ruhe, wie ein angsterfüllter Mensch, der weiß, daß er mit seiner Waffe genau zielen muß, weil er sonst getötet wird.


Die dunkle Spalte im Gestein hörte auf zu wackeln und wurde scharf. Tief in ihrem Innern, ein gutes Stück im Schatten des Überhangs, sah Jamie die ebenen Flächen und mit Zinnen versehenen Umrisse weißlicher Felsen.

Er war jetzt eiskalt. Das sind Felsen, sagte er sich. Keine Gebäude. Nur eine Gesteinsformation, die gewisse Ähnlichkeit mit von intelligenten Wesen geschaffenen Wänden und Türmen hat.

Und dennoch.

Jamie stellte das Objektiv auf höchste Vergrößerung und drückte dann auf den Auslöser der Kamera, bis ihm das leise Piepen sagte, daß die Kassette voll war. Erst dann nahm er die Videokamera von den Augen.

»Ich komme rauf«, sagte oder vielmehr rief er, obwohl das in seinen Helm eingebaute Mikrofon nur ein paar knappe Zentimeter von seinen Lippen entfernt war.

Wosnesenskis Stimme klang überrascht. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Kann man wohl sagen, Mikhail. Es ist sogar absolut außerordentlich.«

»Was? Was sagen Sie?«

Es dauerte über eine Viertelstunde, bis die Winde ihn wieder zum Rand des Canyons hinaufgezogen hatte. Jamie hatte gar nicht gemerkt, daß er so weit hinuntergegangen war. Er verbrachte die Zeit mit dem Versuch, mehr in der Spalte zu erkennen, seine Phantasie an die Kandare zu nehmen, ruhig zu bleiben und nicht gleich loszuplappern, wenn er wieder oben bei dem Russen war.

Vom Rand aus konnte er die Spalte nicht sehen. Als er sich aus dem Geschirr befreite, sagte er hastig zu Wosnesenski:


»Legen Sie das Geschirr an, Mikhail. Schnell! Da unten ist etwas, das Sie sich anschauen müssen.«

»Ich? Warum…?«

»Keine Zeit für Diskussionen«, drängte Jamie, als er dem Russen das Geschirr über den Tornister zog und es vorne auf der Brust festschnallte.

Verwirrt und widerstrebend zurrte Wosnesenski die Beingurte fest und klickte sie in den Schließmechanismus auf seiner Brust ein, während Jamie eine neue Kassette in die Kamera einlegte.

»Was ist?« fragte er. »Was haben Sie entdeckt?«

»Eine Fata Morgana, glaube ich«, sagte Jamie. »Aber vielleicht…«

Er beschrieb rasch die Spalte und die Gebilde darin. Wosnesenski sagte nichts, trat rückwärts an den Rand des Abgrunds und stieg darüber hinweg.

»Moment!« rief Jamie. Er drückte Wosnesenski die Kamera in die behandschuhten Hände und befestigte ihr Band an seinem Gerätegürtel. »Benutzen Sie sie als Fernrohr. Aber verfilmen Sie die ganze verdammte Kassette. Filmen Sie, bis sie voll ist.«

»Wo muß ich suchen?« fragte Wosnesenski, während er sich hinabließ. Für Jamie sah er wie ein altmodischer Tiefseetaucher aus, der langsam in den Abgrund sank.

Jamie rasselte einen Strom von Anweisungen herunter, während der Motor der Winde dünn summte und Wosnesenski weiter abstieg.

»Ich sehe sie!« Zum ersten Mal, seit er den Russen kannte, klang dessen Stimme erregt. »Ja, interessante Gesteinsformationen darin…« Er verstummte.


»Was meinen Sie?« fragte Jamie.

Mehrere Minuten lang keine Antwort. Dann: »Es kann keine Stadt sein. Es sieht wie Gesteinsformationen aus.«

»Ja.« Jamie marschierte am Rand des Canyons nervös auf und ab. Der Russe unten blieb stumm.

Schließlich sagte er: »Das Band ist zu Ende. Ich komme herauf.«

»Ist es real?« fragte Jamie, während die Winde wimmernd arbeitete.

»Real, ja. Aber nicht künstlich. Das kann nicht sein.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, was sein kann oder nicht. Was ist es?«

»Ungewöhnliche Gesteinsformationen. Aber natürlich, nicht von Menschen erschaffen.«

»Von Marsianern.«

»Auch nicht.«

Jamie wußte, daß er ihm beipflichten sollte. Es konnte nicht künstlich sein. Es konnte kein Dorf sein, das von intelligenten Marsianern erbaut worden war. Es konnten nicht die Vorfahren seiner Vorfahren sein, die Vorläufer von Mesa Verde und den anderen Felsenbehausungen der Anasazi. Er wußte, daß es nicht sein konnte.

Doch als Wosnesenski wieder neben ihm stand und sich aus dem Geschirr befreite, plapperte Jamie: »Wir müssen den Rover zu dieser Stelle am Rand bringen, genau oben drüber, damit wir uns runterlassen und selbst hineinschauen können.

Wir sind zu weit weg, als daß wir irgendwas mit Sicherheit sagen könnten, und wenn es eine Chance gibt, auch nur eine klitzekleine Chance, daß wir die Überreste intelligenten Lebens gefunden haben, heiliger Jesus Christus, Mikhail, das wäre die größte Entdeckung der Weltgeschichte!«

Wosnesenski war sonderbar schweigsam, wie ein gleichmütiger Schulmeister, der plötzliche Begeisterungsausbrüche seiner jungen Schüler gewohnt ist. Während sie die Winde auseinandernahmen, im Ausrüstungsmodul des Rovers verstauten und sich dann in die Luftschleuse zwängten, plapperte Jamie weiter, und der Russe blieb stumm.

Im Wohnbereich nahmen sie sofort die Helme ab. Jamie sah, daß Wosnesenski ein ernstes, beinahe gequältes Gesicht machte. Sein massiger Unterkiefer war von mehrtägigen Stoppeln bedeckt, die ihm ein noch grimmigeres Aussehen verliehen als gewöhnlich.

Jamie merkte, daß er geradezu wie im Fieberwahn geredet hatte. »Also, wir können morgen früh gleich bei Tagesanbruch dorthin fahren. Richtig?«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Nicht richtig. Wir haben Anweisung bekommen, zur Basis zurückzukehren.«

»Anweisung? Von wem? Wann?«

»Heute nachmittag, während Sie im Klettergeschirr unten waren. Die Anweisung kam über die Kommandofrequenz; ich habe sie in meinem Anzug gehört. Doktor Li persönlich hat uns ausdrücklich befohlen, zum Basislager zurückzukehren.

Es hat einen Unfall gegeben.«


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