»Du wirst ihn töten!« Aslas Augen funkelten vor Zorn. Eine kleine Falte trat zwischen ihre Brauen. Alfadas kannte diesen Blick. Es wäre sinnlos zu reden. »Gestern hat es Luth gefallen, Kadlin zu retten. Wird er sie auch heute vor dieser Bestie schützen? Bring das Vieh zum Fjord und töte es. Schaff es fort. Ich will es nie wieder in meinem Haus sehen!«
Blut richtete die Ohren auf. Sein massiger Kopf ruhte auf den Vorderpfoten. Er sah aufmerksam zu ihnen herüber.
»Komm!« Alfadas winkte dem Hund zu. Doch statt aufzustehen, knurrte die Bestie.
»Wawa!«, rief Kadlin. Sie ließ Aslas Beine los und steuerte wieder auf den Hund zu. Alfadas nahm sie auf den Arm. Er konnte sehen, wie sich Bluts Muskeln unter dem rabenschwarzen Fell spannten. »Ganz ruhig. Ich tue ihr nichts.«
Kadlin zwickte ihn in die Wange, brabbelte etwas vor sich hin und begann zu lachen. Blut schnaubte und streckte sich.
Alfadas ging zur Tür. Der Hund schüttelte sich unwillig, dann folgte er ihnen. Am Spaltblock zog der Jarl die schwere Axt aus dem Holz. Bedächtig wog er die Waffe in der Hand. Der Hund konnte nicht beim Haus bleiben, sagte er sich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Unglück geschah. Asla hatte Recht. Sie mussten ihn töten. Alfadas stieg den Hügel hinab und ging zum Fjord. Letzte Nebelbänke trieben um den Fuß des Hartungskliffs.
Der Wind wehte den Duft von etwas Gebratenem herüber. Irgendwo ertönte das eintönige Stampfen eines Butterfasses. Kadlin drückte ihren Kopf an seine Wange. »Wawa«, erklärte sie ihm und deutete auf Blut. Alfadas hatte Bratenreste vom Fest in eine Tasche gestopft. Er würde Blut das Fleisch hinwerfen, um ihn abzulenken. Eine Henkersmahlzeit. Er fühlte sich schlecht. Blut hatte niemandem etwas getan. Jedenfalls noch nicht... Er musste ihn für das töten, was Ole mit ihm angestellt hatte. Alfadas wusste, dass sich wohl kaum jemand im Dorf Gedanken darüber machen würde, ob er gerecht zu einem Hund war.
Der Himmel spannte sich klar und wolkenlos über den Fjord und die Berge. Noch war es kühl. Es würde einer der letzten sonnigen Spätsommertage werden. Es hieß, der Winter käme früh, wenn der Sommer sich in solcher Pracht verabschiedete. Schon leuchtete in den Eichenkronen am anderen Ufer das erste Rot und Gold. Alfadas hasste die Winter im Fjordland. Er war nicht für Kälte geschaffen. Die Sommer hier waren stets viel zu kurz. Wehmütig dachte er an Albenmark; unbewusst wanderte sein Blick wieder hinauf zur steinernen Krone auf dem Hartungskliff.
»Dada!« Kadlin brabbelte unablässig vor sich hin und deutete auf alles, was ihre Neugier erweckte. Ein Fels am Ufer. Ein goldenes Blatt im Gras, ein Stück Holz, das angetrieben worden war. Für sie war die Welt noch voller Wunder. Blut folgte jeder ihrer Gesten mit Blicken. Ab und an antwortete er ihr sogar mit einem kurzen Kläffen. Alfadas ging das Ufer entlang. Er wollte keinen Platz auswählen, an dem er sich gern aufhielt. Bald würden die ersten Salme den Fjord hinaufkommen. Er freute sich darauf, den ganzen Tag am Wasser zu verbringen und zu fischen.
Endlich erreichten sie einen kargen Uferstreifen. Hier gab es keinen Fels, der zum Lagern einlud, keine alte Feuerstelle zwischen rußgeschwärzten Steinen. Es war ein Platz ohne Geschichte. Beliebig. Ein Ort, den man leicht wieder vergessen konnte.
Der Jarl setzte Kadlin ab. Sofort richtete sich die Kleine auf und lief über den Kiesstreifen zum Ufer. Sie packte einen grauen Kiesel und wollte ihn ins Wasser werfen, doch er fiel zu kurz. Mit ärgerlichem Gemurmel suchte sie einen neuen Stein. Blut legte sich ganz in ihrer Nähe nieder. Der große Hund wirkte angespannt. Seine Ohren blieben aufgerichtet. Ahnte er, was kam? Alfadas holte den Braten aus seiner Tasche und warf Blut die Fleischklumpen zu. Doch der Hund regte sich nicht. Stattdessen kam Kadlin vom Ufer. Sie zupfte mit ihren kleinen Fingern Fleischfasern von den Bratenstücken und stopfte sie sich in den Mund. Erst jetzt fraß auch Blut einen der Fleischklumpen.
Plötzlich sprang der Hund auf und warf dabei die Kleine um. Kadlin schüttelte sich nur und lachte. Sie hielt es für ein Spiel. Mit steifen Beinen, den Kopf vorgestreckt, stieß Blut ein tiefes, kehliges Knurren aus. Kadlin griff in sein Fell und zog sich hoch. Sie versuchte das Knurren nachzuahmen.
Aus dem Wald über dem Uferstreifen trat eine weißhaarige Gestalt. Gundar, der Luthpriester. Er trug einen grauen Kittel und hatte eine speckige Ledertasche umgehängt.
Blut hörte auf zu knurren, ließ den Ankömmling aber nicht aus den Augen. Der Priester fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er hatte einen hochroten Kopf und atmete stoßweise. »Du hast einen strammen Schritt, Jarl«, keuchte der Alte. »Ich bin nicht mehr für Spaziergänge vor dem ersten Frühstück geschaffen.« Der Priester ließ sich auf dem Kies nieder und holte eine Flasche aus der Tasche. In langen Zügen trank er, dann hielt er Alfadas die Flasche hin. »Ein guter Tropfen. Bestes Quellwasser, vom Fuß des Hartungskliffs. Das wird dir schmecken.«
Der Jarl nahm die Flasche, setzte sie aber nicht an die Lippen.
»Warum bist du mir gefolgt?«
»Ach ... Ich hatte einen Traum. Ich glaube, der Hund taugt was. Und ich hatte so eine Ahnung, dass du einen Fehler begehen könntest.«
Alfadas schüttelte den Kopf. »Träume, Ahnungen ... Wir beide wissen, was Ole aus Blut gemacht hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Hund jemanden anfällt. Und ich möchte nicht erleben, dass es meine Frau oder meine Kinder sind. Er muss weg ...«
»Ich verstehe deine Sorgen, Jarl. Aber vertraue den Göttern! Hast du schon vergessen, was gestern Nacht geschah? Luth hat dir ein Zeichen gegeben. Achte ihn. Du bist einer der wichtigsten Fäden in dem Teppich, den er zum Schmuck für seine goldene Halle webt. Ich glaube, es wäre falsch, den Hund zu töten.« Der Priester zwinkerte. »Sei ehrlich, Jarl. Es war doch nicht deine Idee, in aller Früh mit einem Hund, einem Kind und einer Axt einen Spaziergang am Fjord zu machen.«
Alfadas musste unwillkürlich schmunzeln. Verdammter Kerl! Konnte er in sein Herz sehen? Aber er würde sich nicht gegen Asla stellen. Ihre Entscheidung war richtig. Ungerecht, aber vernünftig. »Ich habe gesehen, was jenseits der Welt liegt, Priester. Das Nichts. Ein bodenloser Abgrund. Finsternis, bevölkert von körperlosen Schrecken, die nach dem Seelenlicht der Lebenden gieren. Dort gibt es keine Götter und auch keine goldenen Hallen. Ich schätze dich, Gundar. Und ich weiß, wie viel du für das Dorf tust. Aber erwarte nicht, dass ich an deinen Gott glaube oder gar auf ihn höre.«
»Bist du sicher, dass du alles gesehen hast? Wir sind nicht wie die Elfen, die dich großgezogen haben, Jarl. Wir sind keine Albenkinder. Und die Völker der Menschen wurden nicht von den Alben erschaffen. Wir haben etwas, das ihnen fehlt. Etwas, worum sie uns beneiden. Wir können in die goldenen Hallen der Götter eingehen, wenn wir es uns verdient haben. Und dort werden wir bis in alle Ewigkeit ein Fest feiern.«
Alfadas seufzte. Er mochte den Alten und wollte dessen Gefühle nicht verletzen. Wie sollte er ihm klar machen, dass Elfen ewig leben konnten? Das, was er als wunderbare Verheißung nach dem Tod sah, war ihre Wirklichkeit. Alfadas kannte die Geschichten seines Volkes. Aber welche Götterhalle konnte sich mit Emerelles Palast messen? Die Priester erzählten von riesigen Langhäusern mit goldbeschlagenen Holzpfeilern, in denen die Götter mit ihren Auserwählten ein niemals endendes Gelage abhielten. Hallen voller Rauch und dem Grölen von Zechern.
Wie viel wunderbarer waren die Festhallen der Elfen. Hoch und mit Wänden, die aussahen, als seien sie aus Morgenlicht erschaffen. Blütenduft lag dort in der Luft. Und wenn einer ihrer Meister auf der Flöte spielte oder die Laute anschlug, dann ging einem die Musik direkt ins Herz. Alfadas strich über den glatten Schaft der Axt. Das Holz war dunkel vom Schweiß. Der Jarl dachte an die lange Reise mit seinem Vater. An ihre verfluchte Suche nach dem Bastardkind.
»Ich habe das Nichts gesehen, alter Mann. Und andere Orte, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Aber an goldene Hallen glaube ich nicht.«
»Ich sage ja nicht, dass es dieses Nichts nicht gibt«, lenkte Gundar ein. »Einen Ort der Dunkelheit und der Verzweiflung. Wir alle haben gewiss Stunden durchlebt, in denen wir uns diesem Ort sehr nahe wähnten. Ich fürchte sogar, dass die meisten von uns dorthin gehen werden, wenn die Stunde gekommen ist. Doch es liegt bei uns zu entscheiden, was unser Schicksal sein wird.«
»Tut es das?«, fragte der Jarl zynisch, obwohl er zugleich froh war, das Unausweichliche noch ein wenig hinausschieben zu können, solange er mit dem Priester sprach. »Dein Gott ist doch der Schicksalsweber. Wie kann ich über meine Zukunft entscheiden, wenn mein Weg schon vorherbestimmt ist? Bin ich dann nicht der Sklave des Luth? Eine willenlose Figur im Spiel der Götter?«
Gundar holte einen Apfel aus seiner Tasche und biss herzhaft hinein. Er sah zu Kadlin, die wieder zum Ufer gegangen war und dort mit Kieseln spielte. »Du missverstehst das Wesen von Luth, Jarl. Er ist der Schicksalsweber, ja, doch er weiß, was du tun wirst, weil er dich sehr gut kennt, denn er hat den Faden deines Lebens gesponnen. Manchmal versucht er uns zu helfen, indem er uns Zeichen gibt. Er ist ein freundlicher Gott. Er wünscht sich, dass wir alle den Weg in die goldenen Hallen finden, auch wenn er weiß, dass die meisten es nicht schaffen werden. Er hofft, dass wir mit offenen Augen für das Wirken der Götter durch das Leben gehen. Wer schon im Leben mit Luths Wirken vertraut ist, der wird im Tode leichter zu ihm finden. Leider ist die Mehrheit von uns für seine Zeichen blind. Selbst ich verstehe ihn nicht immer.«
Alfadas schüttelte den Kopf. Diesen Götterglauben würde er niemals begreifen. Allein ihn anzuerkennen, fiel ihm schon schwer. Er wollte Gundar nicht verhöhnen, und doch gingen die Pferde mit ihm durch. »Wir sollten deinem Gott Gelegenheit geben, uns gleich hier eines seiner Zeichen zu schicken. Obwohl das Wasser des Fjords bitter ist, versucht Kadlin immer wieder, davon zu trinken. Blut wird sicher auch bald durstig sein. Trinkt Kadlin zuerst, dann schenke ich dem Hund das Leben.« Er blickte zum Himmel hinauf. »Hast du gehört, Luth? So leicht mache ich es dir. Das Leben von Blut liegt in deiner Hand. Entscheide!«
Der Priester blieb erstaunlich gelassen. Alfadas hatte mit empörtem Protest gerechnet. Oder zumindest mit einem Tadel, weil er den Gott herausforderte, doch Gundar aß in aller Ruhe seinen Apfel. Erst als er fertig war und die Kerne des Gehäuses ins Gras gespuckt hatte, sprach er. »Unter den Menschen mag es vielleicht keinen geben, der es mit dem berühmten Schwertkämpfer Alfadas aufnehmen kann, mit dem Herzog des Königs, dem Schrecken aller Feinde des Nordlands. Doch ganz gleich, was für Namen und Titel man dir geben mag, einen Gott zu fordern, übersteigt die Kräfte auch des besten aller Menschen. Es ist, als fordere Kadlin dich zu einem Zweikampf.« Er lächelte.
»Aber Luth ist weise und nachsichtig. Ich bin mir sicher, er wird dir eine angemessene Antwort geben.«
Der Jarl blickte wieder zum Himmel. »Ich warte.« Schweigend saßen die beiden beieinander und beobachteten den Hund und das Kind. Es dauerte nicht lange, bis Alfadas sein Verhalten bereute. Es war albern! Und dennoch machte er keinen Rückzieher.
Gundar verspeiste grinsend einen zweiten Apfel, während Kadlin vom Wasser zurückkam. Müde rieb sich die Kleine die Augen. Blut lag lang hingestreckt im Gras und döste. Kadlin ging zu ihm hinüber und kuschelte sich an das zottelige, schwarze Fell. Bald war sie eingedöst.
Alfadas betrachtete lange den Hund. Dicke Muskelstränge verbargen sich unter dem Fell, die Blut unförmig erscheinen ließen. Die Schramme an der Schnauze war von dunklem Schorf bedeckt. Im hellen Morgenlicht sah der Jarl noch viele ältere Narben. Er dachte an die Peitsche, die Ole zurückgelassen hatte. Ein Marterinstrument, geschaffen, um tiefe Wunden zu reißen. Mistkerl! Er sollte ihm all seine Hunde abnehmen!
Gundar hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah einer einzelnen einsamen Wolke nach, die über den strahlend blauen Himmel zog. Der Priester sagte nichts, lächelte stumm in sich hinein, und doch war sein Schweigen beredter als alle Worte.
Alfadas war noch immer nicht bereit aufzugeben. Einer von beiden würde schon zum Wasser gehen! Inzwischen war ihm egal, ob es Blut oder Kadlin war. Der Jarl hing seinen Gedanken nach. Was würde er Asla sagen, wenn er mit dem Hund zurückkehrte? Würde sie ein Urteil von Luth annehmen? Vielleicht. Dass es seine Entscheidung war, den Hund nicht zu töten, würde sie sicher nicht hinnehmen. Im Grunde war es nicht schlecht, den Priester zum Zeugen zu haben. So könnte er es sich leicht machen.
Es war Gundar, der schließlich ihr Schweigen brach. »Es ist weit mehr als eine Stunde verstrichen, Jarl. Ich muss gestehen, dass ich inzwischen so durstig bin, dass ich mich versucht fühle, aus dem Fjord zu trinken. Wie lange willst du noch warten?«
»Bis wir ein Zeichen erhalten«, entgegnete Alfadas trotzig.
Der Priester seufzte. »Glaubst du nicht auch, dass Luth schon längst zu uns gesprochen hat? Wir können hier noch bis zur Abenddämmerung sitzen, und weder Kind noch Hund werden aus dem Fjord trinken. Bis heute habe ich dich immer für einen klugen Mann gehalten, Jarl. Du musst doch auch erkannt haben, was die Antwort ist. Der Schicksalsweber ist nicht bereit, dir deine Entscheidung abzunehmen.«
Alfadas hatte mit einem Spruch dieser Art gerechnet. Die wesentliche Eigenschaft, die man benötigte, um Priester zu werden, war die Gabe, alles, was geschah, zu Gunsten seines Gottes zu deuten. Gundar mochte manche Fehler haben, aber um eine gewandte Zunge war er nicht verlegen. »Was also, meinst du, teilt mir dein Gott mit?«
»Horche in dich hinein. Vergiss einen Augenblick alle anderen Menschen. Mich, dein Weib, sogar Kadlin. Mach dich frei von all den unsichtbaren Fesseln, die dich erdrücken. Nimm dir die Muße, über dein Leben und seine Zwänge nachzudenken, und dann tue das, was du für richtig hältst. Es wird auch der Wille Luths sein.« Alfadas griff nach der Axt und ging zu Blut. Dort schob er die Waffe in seinen Gürtel und nahm Kadlin auf den Arm. Einen Moment lang sah er den großen, hässlichen Hund an. »Komm, wir gehen frühstücken«, sagte er schließlich.