Eine Eiche und ein gutes Stück Fleisch

Endlich tauchte er zwischen den Bäumen auf. Orgrim hatte über eine Stunde auf den Kundschafter gewartet. Sofort führte er Brud an Dumgars Feuer.

»Und?«, fragte der Herzog vom Mordstein. »Hast du den Weg gefunden?« Brud klopfte sich den Schnee aus seinem Umhang. »Es gibt keinen Weg. Diese verfluchten Menschlinge haben den Ort klug gewählt. Man muss durch das Tal, um zum Dorf hinaufzukommen. Sie haben noch zwei weitere Wälle. Einen am Ende des Tals und einen dicht bei den Hütten.«

»Wie viele sind es?«, fragte Orgrim.

»Nicht einmal zweihundert, die kämpfen können.« Dumgar sprang vom Feuer auf. »Dann kommen ja zwei von unseren Kriegern auf einen Menschling. Und wir schaffen es nicht, sie in Stücke zu reißen? Verdammte Weichlinge! Was seid ihr? Krieger oder lauwarme Mäusefürze?« Der Herzog griff sich ein paar Rippchen, die neben dem Feuer auf einem Holzbrett lagen, und nagte das magere Fleisch von den Knochen. Orgrim hatte den Kerl gesehen, der für das Festmahl ausgesucht worden war. Ein hagerer Mann mit narbigem Gesicht. Er hatte wie ein Welpe gewimmert. Von diesem Fleisch würde er nicht essen, dachte der Herzog der Nachtzinne. Der Menschling hatte ungesund ausgesehen.

»Vielleicht würde es ja die Laune unserer Krieger verbessern, wenn sie dich auch einmal in der ersten Reihe kämpfen sähen.« Orgrim hielt Dumgar mit Blicken gefangen. Er verachtete seinen Feldherrn. Der einzige lauwarme Mäusefurz in diesem Lager war er.

»Ich durchschaue dich, Orgrim. Du wünschst dir, dass mich die Menschlinge töten, damit du hier den Befehl hast. Aber so wird es nicht kommen! Ich bin zu wichtig. Ich darf dem Heer nicht verloren gehen.«

Orgrim strich über die Kruste der frischen Pfeilwunde an seiner Schulter. Er war unter den Kriegern gewesen, die versucht hatten, die Bresche zu erweitern, während Dumgar sich auf einem Hügel außer Schussweite gehalten hatte. »Ich kann dich beruhigen, Feldherr. Solange du dich dem Schlachtfeld nicht näherst, ist die größte Gefahr, der du dich aussetzt, diejenige, an einem Rippchen zu ersticken.«

Dumgar warf einen der Knochen ins Feuer. Er lächelte säuerlich. »Mach dir keine Sorgen deshalb. Ich bin ein sehr erfahrener Esser.«

Du bist ein Pickel auf dem Hintern des Königs, dachte Orgrim wütend, hielt aber den Mund. Eines Tages werde ich dich ausquetschen!

Dumgar wandte sich an Birga. Die Schamanin saß etwas abseits des Feuers. Mit einem dürren Zweig malte sie ein verschlungenes Muster in den Schnee.

»Bist du dir ganz sicher, dass Emerelle dort oben in dem Dorf der Menschlinge ist?«

Die Schamanin hielt inne. Die Lederhaut, die sie vor ihr Gesicht gespannt hatte, glitt ein wenig zur Seite, als sie ruckartig den Kopf hob. Es war zu kurz, um in der Dunkelheit etwas von ihrem Gesicht erkennen zu können. »Glaub mir, Dumgar, wen ich befrage, der ist froh, mir so schnell wie möglich all seine Geheimnisse anvertrauen zu dürfen. Emerelle steckt dort oben in dem Bergdorf!«

Der Herzog vom Mordstein leckte sich nervös über die Lippen. »Ich wollte dein Wissen nicht infrage stellen. Es wäre nur... Wie lange wird es noch dauern, bis wir das Dorf erobern?«

»Ich kann nicht in die Zukunft sehen«, entgegnete sie gereizt.

»Es ist dieses verfluchte goldhaarige Weib, das sie immer wieder aufstachelt. Ich habe sie lange beobachtet. Sie trägt ein Kind. Die Gefangenen sagen, sie sei das Weib des Elfenjarls. Sie müssen wir töten! Dann werden wir siegen. Wie schnell das gelingt, das hängt ganz davon ab, wer bei den nächsten Angriffen den Befehl führt.« Sie sah zu Orgrim. »Ich bin sicher, du würdest anders vorgehen, als wir es bisher getan haben. Oder irre ich mich?«

Orgrim wusste, dass er sich nicht gegen Dumgar stellen konnte. Er würde am einfachsten sein Ziel erreichen, wenn er dem Herzog vom Mordstein schmeichelte. »Ich finde, dass Dumgar den richtigen Weg eingeschlagen hat. Aber wir sollten mehr Kraft einsetzen. Unsere Rammböcke sind zu schwach. Das liegt an der Eile, mit der wir angegriffen haben. Wir sollten die Menschen einen Tag lang in Frieden lassen. Selbst wenn wir nicht angreifen, werden sie uns so sehr fürchten, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Wir nutzen die Zeit, um eine große Eiche zu suchen. Einen wahrhaft gewaltigen Baum! Und daraus fertigen wir einen Rammbock, wie nur Trolle ihn heben können. Die nächste Palisade der Menschenkinder werden wir in einem einzigen Sturmlauf nehmen.«

»Ja, genau daran hatte ich auch schon gedacht«, behauptete Dumgar. »Du hast es nur schneller ausgesprochen, Orgrim. Ich erlaube dir, meinen Einfall auszuführen. Aber beeile dich! Du weißt, dass wir nur noch für ein paar Tage zu essen haben. Wir müssen das Dorf erstürmen, um wieder an Fleisch zu kommen!«

»Natürlich.« Orgrim erhob sich. »Ich werde mich sofort um alles Notwendige kümmern.« Erleichtert, das Feuer des Herzogs vom Mordstein verlassen zu können, zog er sich zurück. Brud folgte ihm.

»Willst du ihm demnächst auch noch die Füße küssen?«, fragte der Kundschafter leise. »Schneid ihm den Bauch auf und erdrossle ihn mit seinen Eingeweiden. Diese jämmerliche Made hat es nicht verdient, hier das Kommando zu führen!«

»Lass ihn nur machen. Ich bin zuversichtlich, dass er einen Weg finden wird, sich selbst ins Verderben zu reiten.«

»Und wie viele gute Krieger wird er dabei mitnehmen? Das kann dir doch nicht gleichgültig sein.«

»Hast du schon von Boltans neuem Gericht gekostet? In Lehm gebackenes Fleisch – köstlich, sage ich dir. Komm an mein Feuer und sei mein Gast.«

»Du schuldest mir eine Antwort«, beharrte der Kundschafter.

»Er hat nicht auf dich gehört, als du ihm geraten hast, die gefangenen Menschlinge zurück in ihre großen Hütten zu schicken, damit sie sich warme Pelze holen. Und was ist geschehen? Sie sind auf dem Eis jämmerlich zu Grunde gegangen, und wir haben fast keine Vorräte mehr. Was muss er noch tun, damit du uns von ihm erlöst? Wenn dir der Mut dazu fehlt, dann gehe ich hin und schneide ihm die Kehle durch.«

»Dann kannst du auch gleich mich ermorden. Wenn Dumgar etwas geschieht und es nur die geringste Möglichkeit gibt, mich für sein Ableben zur Verantwortung zu ziehen, dann wird Branbart mich hinrichten lassen. Versteh doch, ich kann nichts gegen diesen Narren unternehmen. Der König wartet nur darauf! Deshalb hat er uns diesen Trottel als Befehlshaber ausgesucht. Branbart war sich sicher, dass ich die Unsinnsbefehle von Dumgar nicht lange ertragen könnte. Wenn ich aber etwas gegen Dumgar unternehme, liefere ich mich der Willkür des Königs aus.«

»Ich hasse die Machtspiele von euch Fürsten!«, fluchte Brud.

»Sobald das hier vorbei ist, gehe ich in die Wälder, und man wird mich für lange, lange Zeit nicht mehr zu sehen bekommen. Mit euch zusammen zu sein, vergiftet meine Seele!«

»Hilf mir morgen, eine gute Eiche zu finden, und ich verspreche dir, wir werden die Menschlinge übermorgen hinwegfegen. Sobald wir Emerelle gefangen haben, kehren wir zurück nach Albenmark. Und vielleicht haben wir ja Glück, und Dumgar verirrt sich auf dem Weg durch das Nichts.«

»Du hast die Gabe, dass alles, wovon du sprichst, sich so einfach anhört.«

Orgrim legte dem Kundschafter die Hand auf die Schulter.

»Es ist so einfach, Brud. Und nun vergiss deinen Ärger und lass uns ein gutes Stück Fleisch essen.«

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