Der weisse Strom

Kalf blickte auf die heranstürmenden Trolle hinab. Die letzte Barrikade lag an der engsten Stelle des Rentierpfads. Dicht gedrängt stürmten die Menschenfresser den Weg hinauf. Mit grimmiger Zufriedenheit hob der Fischer sein Stangenbeil. Nur zehn Männer waren zurückgeblieben. Seine Verschwörer! Die übrigen hatte er trotz aller Proteste den Pfad hinaufgeschickt. Wer hier blieb, der hatte alles verloren. Es waren Männer, deren Weiber und Kinder nicht mehr lebten oder die nie eine Frau gehabt hatten, so wie er.

Breitbeinig stand Kalf auf der Pritsche eines Schlittens. Wagen, Schränke und Truhen, alles, was sich bewegen ließ, hatten sie auf den Rentierpfad geschleppt, um diese letzte Verteidigungslinie zu bauen. Der Fischer wusste, dass die Trolle sie fast sofort überrennen würden. Aber wenige Augenblicke würden genügen. Länger mussten sie gegen den Feind nicht aushalten.

Kalfs Mund war trocken, dafür schwitzten seine Hände. Es war jedes Mal so, kurz bevor die Kämpfe begannen. Ein Troll, der sich mit Ruß und Blut eine Spinne aufs Gesicht gemalt hatte, hatte einen kleinen Vorsprung vor den anderen. Luth wird dich dafür bestrafen, dachte Kalf. Da schleuderte der Troll einen kurzen Wurfspeer nach ihm.

Der Fischer drehte sich leicht zur Seite. Das Geschoss verfehlte ihn knapp. Ein Schlag traf den Schlitten und riss Kalf fast von den Beinen. Der Speerwerfer hatte seine Schulter gegen die Seitenwand der Pritsche gerammt, als wolle er den Schlitten einfach umwerfen.

Kalf war zu sehr damit beschäftigt, sein Gleichgewicht zu halten, um noch mit der Stangenaxt zuzuschlagen. Ein Eisklumpen verfehlte ihn um ein gutes Stück. Weitere Trolle erreichten die Barrikade. Wütendes Kriegsgeschrei erklang aus hunderten Kehlen. Ein stiller junger Mann aus der Reihe der Verteidiger wurde mit einem Lasso eingefangen und verschwand schreiend in der Menge.

Hoch über ihnen tönte ein dumpfes Grollen. Einer der Berge hatte seine Stimme erhoben, und vor seinem Zorn erschraken selbst die Trolle. Die Menschenfresser blickten auf. Kalf genoss es, die Angst in ihren Augen zu sehen. Jemand schrie etwas. Dann begann der Erste zu laufen.

Der Fischer ließ sein Stangenbeil herumwirbeln. Der lange Dorn verschwand im Auge des Trolls, der ihn als Erster erreicht hatte. »Luth möchte mit dir über Spinnen sprechen.«

Der Schlitten erzitterte. Von den Bäumen ringsherum rutschten die Schneewechten. Sie schüttelten sich. In wilder Panik versuchten die Trolle der tödlichen Gefahr zu entkommen. Sie schoben und drängelten in dem engen Rentierpfad. Wer stürzte, wurde gnadenlos zu Tode getrampelt. Einige versuchten seitlich über die Steilhänge zu klettern.

Kalf empfand tiefen Frieden. Er zog die Waffe aus dem Schädel des toten Trolls und warf sie zur Seite. Der Fischer drehte sich nicht um. Seit er Asla gestern Nacht verabschiedet hatte, wusste er, dass er sterben würde. Die Herzogin hatte immer Recht behalten, wenn sie zur Flucht mahnte. So war es in Firnstayn gewesen und auch in Honnigsvald. Warum hätte sie sich jetzt irren sollen? Obwohl er das wusste, hatte er ihr widersprochen und war geblieben. Jemand hatte bleiben müssen, damit die anderen sich retten konnten.

Kalf breitete seine Arme aus. Der kalte Atem des Todes umschloss ihn. Die Luft war erfüllt von feinen Eiskristallen. Er atmete tief ein. Dann traf ihn der Schlag. Der weiße Strom umschloss ihn, riss ihn mit sich. Kalf ruderte mit den Armen. Er war eingeschlossen in dumpfes Dröhnen. Dann wurde es finster. Immer noch kämpfte er gegen die Macht an, die ihn mit sich riss. Etwas traf ihn hart an der Schulter. Er wurde herumgewirbelt. Stechender Schmerz durchbohrte seinen Kopf. Dann war es plötzlich still. Der Fischer lag zusammengerollt, wie ein schlafendes Kind. Die Kälte hielt ihn in engem Gewand gefangen. Noch immer dröhnte das Donnergrollen der Lawine in seinen Ohren.

Kalf streckte sich, doch der Schnee hielt ihn fest. Die Kälte fraß sich in seine Glieder. Er stemmte sich mit den Füßen gegen den Boden. Knirschend gruben sich seine Stiefel in den festgebackenen Schnee. Seine Schultermuskeln spannten sich, aber sein Gefängnis gab nicht nach. Dann wurde ihm klar, dass er gar nicht wissen konnte, in welcher Richtung oben oder unten lag. Mitgerissen von der Lawine, hatte er sich immer wieder überschlagen. In der Dunkelheit seines Eisgefängnisses konnte er sich nicht orientieren. Er drückte an verschiedenen Stellen gegen die Schneewand und erweiterte den Hohlraum, in dem er gefangen saß ein wenig. Das Dröhnen in seinen Ohren hatte nachgelassen. Er hörte jetzt deutlich seinen keuchenden Atem. Der Fischer tastete sich ab. Alle Knochen taten ihm weh. Doch nichts schien gebrochen zu sein, und Kälte dämpfte den Schmerz. Sein Schwertgurt war verloren, aber er hatte noch das Fischmesser, das in seinem Stiefel steckte. Vorsichtig stocherte er mit der Klinge in der Decke seiner Höhle herum. Mit beiden Händen schob er die Schneebrocken zur Seite, die sich lösten. Er würde sich in die Freiheit graben!

Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Der Schnee knarzte. Jemand ging unter ihm hinweg! Kalf lachte stumm. Nicht unter ihm! Er hatte in die falsche Richtung gegraben. Mit neuer Kraft arbeitete er sich voran.

Bald war der Schnee weniger dicht. Er konnte ihn jetzt mit den Händen auseinander schieben. Endlich sah er ein Stück grauen Winterhimmel. Vorsichtig, Zoll um Zoll, schob sich der Fischer aus seinem kalten Gefängnis. Die Lawine hatte ihn einige hundert Schritt mit sich gerissen. Ein Stück links von ihm lag eine große Kleidertruhe. Tiefer am Hang sah er Trolle, die mit Speerschäften in den Schnee stießen und nach Verschütteten suchten. Vorsichtig kroch Kalf ins Freie. Seine Kleider waren von Schnee verkrustet, sein Haar voller Eis. Ganz langsam robbte er den Hang hinauf. Etwas mehr als hundert Schritt entfernt lag ein dunkler Tannenwald, der von der Lawine verschont geblieben war.

Jetzt entdeckte Kalf auch über sich am Hang einige Trolle. Einer von ihnen musste über sein eisiges Gefängnis hinweggeschritten sein und hatte ihm so den Weg in die Freiheit gewiesen. Die kleine Gruppe blieb stehen und machte dann wieder kehrt.

Kalf drückte sein Gesicht in den Schnee und blieb still liegen. Er wagte kaum zu atmen. Wieder hörte er das Knarzen der Schritte. Langsam kamen sie näher. Sie blieben stehen! Deutlich waren ihre Stimmen zu hören. Sie schienen zu streiten. Endlich entfernten sich die schweren Schritte der Trolle.

Kalf wartete noch einen Augenblick, dann stemmte er sich hoch und rannte auf den Wald zu. Immer wieder strauchelte er. Erst als er zwischen den Bäumen angelangte, wagte er es zurückzublicken. Niemand folgte ihm. Hatten sie ihn nicht bemerkt, oder war es ihnen einfach egal, ob ein einzelner Mensch entkam?

Seine Schulter schmerzte, und sein Kopf fühlte sich an, als sei ein Kutschpferd darauf herumgetrampelt. Erschöpft stieg er den Waldhang hinauf. Dann hielt er sich in der Nähe des Rentierpfades. Er fürchtete, auf dem Weg Trollen zu begegnen, deshalb blieb er in der Deckung der Bäume.

Den ganzen Tag kämpfte er sich voran. Die Sonne war fast schon hinter den Wipfeln verschwunden, als er ein Feuer roch. Er verharrte und spähte den Weg hinauf. Eine Gestalt in einem roten Umhang lehnte an einem Baum. Das Abendrot ließ ihr goldenes Haar wie eine Krone aus Licht erscheinen. Asla!

Endlich wagte sich Kalf auf den Pfad. Mit weit ausholenden Schritten eilte er Asla entgegen. Sie trug Kadlin in einem Tuch vor ihrem Bauch.

»Ich wusste, dass du noch kommen würdest«, sagte sie lächelnd.

Ihr Anblick verlieh Kalf neue Kraft. Sie war so wunderschön! Nichts von dem Glanz, der sie schon als junges Mädchen umgeben hatte, war verblasst. Am liebsten hätte er sie in seine Arme geschlossen, aber er fürchtete die Blicke der anderen. »Habt ihr ein Lager im Wald?«

»Dort ist eine große Jagdhütte.« Asla wirkte plötzlich verschlossen.

»Stimmt etwas nicht?«

»Ich habe befohlen, den Flüchtlingszug aufzulösen. Daraufhin gab es Streit. Dort drüben lagern jene, die nicht auf mich hören wollten. Wir können nicht weitermachen wie bisher. Wir haben zu wenig Krieger, um noch einmal zu kämpfen. Es wäre wie letzte Nacht, nachdem die Palisade gestürmt wurde ...« Ihre Stimme stockte. »Ich musste diesen Befehl geben! Die Trolle behandeln uns wie Schlachtvieh. Es liegt nun an uns, sich nicht mehr wie Vieh zu verhalten! Rentiere schließen sich zu großen Herden zusammen, weil sie dann sicherer sind. Die Wölfe holen immer nur die Schwächsten, diejenigen, die nicht die Kraft haben, mit der Herde zu flüchten. Aber keine Herde ist je von ein paar hundert Wölfen gehetzt worden. Es ist nicht sicher für uns, als eine große Gruppe zu ziehen. Im Gegenteil! Wenn die Trolle uns finden, dann werden sie uns alle töten. Nur wenn wir viele kleine Gruppen bilden, wenn die Herde wieder in einzelne Familien zerfällt und jeder in eine andere Richtung flieht, werden zumindest einige entkommen.« Kalf deutete zu der blassen Rauchsäule, die zwischen den Bäumen aufstieg. »Was ist mit ihnen?«

Aslas Züge wurden härter. »Das sind die Schwachen und Mutlosen. Und jene, die nicht von ihnen lassen können. Sie haben entschieden, bei der Jagdhütte zu bleiben und auf die Gnade der Götter zu vertrauen.« Ihre Stimme klang jetzt rau. »Sie ... Wenn wir alle zusammen weitergezogen wären, dann hätten wir sie auch zurücklassen müssen.« Asla schloss die Arme um Kadlin, die eng an sie gekuschelt in dem Tragetuch schlief. »Die Trolle werden meine Kleine nicht bekommen! Die meisten Flüchtlinge haben entschieden, lieber in den Wäldern zu erfrieren, als darauf zu warten, dass man sie wie Schlachtvieh holen kommt.«

»Wohin willst du gehen?«

Asla deutete nach Westen. »Auf der anderen Seite des Tals soll es Höhlen geben. Dort könnten wir Zuflucht finden.«

Der Fischer blickte zu den Wolken, die im Norden aufzogen. Ihnen blieben nur ein paar Stunden. »Wie weit ist es bis zum anderen Ende des Tals?«

»Wenn wir in der Nacht nicht rasten, dann müssten wir morgen früh die Höhlen erreichen.«

Kalf streckte ihr die Hand entgegen. »Dann sollten wir jetzt besser gehen.« Sie hatte Recht. Alles war besser, als hier zu warten.

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