Freundschaft und tote Fische

Ollowain hatte den großen See in der Mitte der Himmelshalle erreicht und blickte zur Mandan Falah hinauf. Wo war sie geblieben? Ganz gleich, wen er nach Lyndwyn fragte, man wich ihm aus oder antwortete mit einem Schulterzucken. Sie war nicht fern. Sie hatte Phylangan nicht verlassen. Er konnte spüren, dass sie in der Nähe war. Manchmal träumte er sogar von ihr.

Welch ein Unsinn! Er hatte keinerlei magische Begabung. Wie sollte er spüren, dass sie in der Nähe war? Wunschdenken! Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie ihn betrogen hatte. Sie hatte den Albenstein gestohlen und sich davongemacht.

Ollowain ahnte, dass auch dies nicht stimmte. Wieder blickte er zur Brücke hinauf. Was würde er dafür geben, noch einmal mit ihr dort oben zu stehen. Ihr tief in die Augen zu sehen. Den sanften Druck ihrer Hände zu spüren. In seinem Herzen fühlte er, dass sie ihn nicht betrogen hatte. Landoran wusste, wo sie war. Sie hatte sich auf irgendeinen törichten Handel mit seinem Vater eingelassen, damit er ihr half, ihn zu verführen. Wäre sie doch nur zu ihm gekommen, ohne Lysilla vorzuschicken!

Ollowain strich über die schneeweißen Lotusblüten, die am Ufer wuchsen. Schwerer Blütenduft lag über dem Wasser. Es war drückend heiß. Lyndwyn hatte Recht gehabt.

Er hätte sie niemals zu sich gelassen. Sie hatte ihm die Augen verbinden müssen, damit er der Stimme seines Herzens folgen konnte. Was für ein Narr war er doch gewesen!

Hufschlag ließ Ollowain aufhorchen. Orimedes kam den Weg zum Ufer hinab. Er trug einen Weinschlauch über der Schulter und hielt zwei schwere, silberne Pokale in Händen. »Na, weißer Ritter, du bist nicht leicht zu finden. Hilfst du mir, einen Wein zu vernichten, der auf keinen Fall Kriegsbeute der Trolle werden sollte?«

»Du glaubst also auch, dass die Trolle siegen werden?«

Der Kentaur hob die Brauen. »Du etwa nicht? Die Frage ist doch nicht, ob die Trolle siegen werden. Das steht außer Zweifel. Fraglich ist allein, wie lange wir uns halten werden.« Er hob den Weinschlauch. »Deshalb sollten wir das hier vernichten.«

»Vielleicht solltest du mit deinen Männern gehen? Noch ist Zeit dazu. Welchen Sinn macht es, hier in einem aussichtslosen Kampf zu sterben?«

Orimedes öffnete den Weinschlauch und füllte die Silberpokale. »Du bleibst doch auch.«

»Es ist mein Volk. Ich habe keine Wahl und ...« Er dachte an Lyndwyn. Er würde sie nicht im Stich lassen. Der Albenstein durfte nicht in die Hände der Trolle fallen. Er musste in der Nähe der Magierin bleiben!

»Und?«, setzte Orimedes nach und reichte ihm einen der Weinpokale. »Ich hoffe, du erweist mir die Ehre, mit einem Barbaren wie mir anzustoßen.«

Ollowain nahm den Pokal. »Du bist kein ...«

Der Kentaur stieß klirrend mit ihm an. Wein spritzte auf, benetzte Ollowains Ärmel und tropfte vom Stoff ab, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. »Erzähl mir nichts, Elf. Ich weiß genau, was du von mir und meinesgleichen hältst. Du kannst niemanden leiden, der deiner Königin schon mal in den Ballsaal geschissen hat.« Der Kentaur grinste breit. »Es tut mir ja auch Leid, aber manche Dinge sind einfach stärker als ich.« Plötzlich wurde er ernst. »Ich bin gekommen, um mich bei dir zu bedanken. Ohne dich wäre ich in Vahan Calyd gestorben.«

Der Schwertmeister winkte ab. »Wir beide haben nur der Königin gedient.«

»Red kein dummes Zeug. Du warst bereit, dein Leben zu opfern, als wir aus den Zisternen gekommen sind. Und du hast mir Emerelles Leben anvertraut, obwohl ich doch ein ungehobelter Barbar bin. Ich kenne genug Elfen, um zu wissen, dass die meisten sich anders entschieden hätten. Sie hätten mich und meine Männer gegen die Trolle geschickt, statt uns die Königin anzuvertrauen. Das war einer der stolzesten Augenblicke meines Lebens. Und darauf trinken wir jetzt!«

Orimedes hob den Pokal an seine Lippen, und Ollowain tat es ihm gleich. Der Wein schmeckte lieblich. Das Aroma der Trauben hatte sich gut gehalten und war durch Waldbeeren und einen Hauch von Honig verfeinert worden. »Es wäre wirklich eine Schande, wenn dieser Wein von Trollen gesoffen würde.«

Orimedes nickte zufrieden. »Sag ich doch. Was hältst du von den Menschen? Also, die Sache mit den Schiffen ist doch ziemlich verrückt. Ich weiß, dass du Alfadas großgezogen hast, aber sein Plan ... Auf so eine Idee käme ich nicht einmal, wenn ich stockbesoffen wäre.«

Ollowain dachte an den Streit, den es im Kriegsrat um die Eissegler gegeben hatte. Aber letzten Endes war es Alfadas gelungen, sich durchzusetzen. »Ich denke, das Gute an seinem Plan ist, dass er so verrückt ist, dass die Trolle niemals damit rechnen werden, was auf sie zukommt.«

Orimedes lachte, und ein Schauer feiner Weinspritzer schlug dem Elfen ins Gesicht. »Ein Hund käme auch niemals auf die Idee, dass einer der Flöhe in seinem Pelz beschlossen haben könnte, ihn umzubringen. Und wenn er es wüsste, wäre er vermutlich nicht sonderlich beunruhigt.«

Ollowain nahm einen tiefen Schluck vom Wein und behielt ihn im Mund, um das Aroma voll auszukosten. Orimedes hatte schon Recht mit seinen Einwänden. Aber wenn Alfadas‘ Plan glückte, dann würde Phylangan erst gar nicht belagert. Das war das Wagnis wert.

»Komm, leer den Pokal bis zur Neige!«, ermutigte ihn der Kentaur. »Der Wein macht keinen schweren Kopf.« Aber vielleicht half er zu vergessen ... Ollowain blickte zur Brücke hinauf, dann umfasste er das Silber mit beiden Händen und trank.

Orimedes versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff. »Ich muss dir was gestehen. Ich habe dich hintergangen.« Der Kentaur lächelte verschwörerisch. »Ich weiß, dass meinem Volk der Ruf vorauseilt, wir seien eine versoffene Bande von Raubeinen. Ein wenig Wahres ist da vielleicht dran ... Aber unsere Trinkgelage haben feste Regeln. Wenn zwei Männer vom selben Wein bis zur Neige trinken, dann sind sie fortan Freunde und keine Fremden mehr.«

Der Kentaur beugte sich vor und schloss den völlig überraschten Ollowain in die Arme. »Da das nun geklärt wäre, kannst du dich mir ruhig anvertrauen. Und sei dir gewiss, eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als eines deiner Geheimnisse zu verraten.«

Ollowain sah den Kentaurenfürsten verwirrt an. »Wovon redest du?«

»Ich bin vielleicht ein Barbar, aber ich bin nicht blind. Du bist nicht mehr der Mann, den ich am Albenstern in Windland verlassen habe. Etwas nagt an dir. Lass es heraus! Zu trinken und zu reden hilft. Vertrau mir. Hör auf den Rat eines berüchtigten Säufers und Schwätzers.« Orimedes schenkte ihm nach.

Der Elf musste lächeln. Vielleicht stimmte es ja, was sein neuer Freund sagte. Und selbst wenn nicht. Für alle hier in der Festung waren die Tage gezählt.

»Es liegt an Lyndwyn ... Sie ... Sie hat die Flucht genutzt, um Emerelle den Albenstein zu stehlen. Und sie ... Es ist...« Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was er sich selbst immer noch nicht erklären konnte.

»Verdammte Hexe!«, murrte sein neuer Freund. »Ich wusste gleich, dass man der nicht trauen kann.«

»Ich habe mich in sie verliebt.«

Orimedes verschluckte sich. Hechelnd rang er um Atem. Dann herrschte einen Augenblick lang betretene Stille. »Tja ...«, sagte er schließlich vorsichtig. »Manchmal sind es gerade die Hexen, die uns den Kopf verdrehen. Habt ihr denn schon einmal ... Du weißt schon.« Er machte eine obszöne Geste.

»Ja«, sagte Ollowain knapp. »Und wir haben uns gestritten. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Er erzählte dem Kentauren die ganze Geschichte. Und tatsächlich war es so, dass es half, von Lyndwyn zu reden. Er fühlte das, was jenseits aller Täuschungen wahrhaftig war. Und er fühlte einen Schmerz, den er nicht in Worte zu fassen vermochte. »Ich versuche, sie zu vergessen, aber ... Sie hat mein Herz berührt. Ich ...«

Orimedes legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Ich fürchte, du bist verloren, mein Freund.« Er lächelte verstehend.

»Du bist verliebt. Suche sie, das ist das Einzige, was du jetzt noch tun kannst.«

»Aber wo?«, rief der Elf verzweifelt.

»Landoran wird es wissen.«

Ollowain dachte an seine Jugend. An die Enttäuschung in den Augen seines Vaters, als er nicht zu zaubern vermocht hatte, so sehr er sich auch bemüht hatte. Er war nicht der Sohn, den der Fürst der Normirga sich gewünscht hatte. Und sein Vater hatte ihn das nur zu deutlich spüren lassen. Landoran würde ihm niemals helfen! »Phylangan birgt ein Geheimnis. Es geschieht etwas, das die Normirga vor uns verbergen. Und mein Vater hat Lyndwyn in diese Sache hineingezogen.«

Der Kentaur strich sich nachdenklich über den Bart. »Meine Männer sind ein wenig durch den Berg gelaufen. Man muss ja schließlich wissen, was man verteidigt«, sagte er entschuldigend.

»Und man muss wissen, wo die Weinvorräte lagern.« Orimedes lachte laut auf. »Ich sehe, wir sind verwandte Seelen. Vor dem Himmelshafen gibt es eine große Treppe. Wenn man sie eine Weile hinabsteigt, kommt man an einen Ort, an dem drei Wachen den Weg versperren. Ich denke, du wirst finden, was du suchst, wenn du es schaffst, an ihnen vorbeizukommen.«

»Du meinst, sie halten Lyndwyn gefangen? Das ist unmöglich, Orimedes. Sie besitzt den Albenstein und ist eine Zauberin. Niemand in diesem Berg könnte sie gegen ihren Willen festhalten.«

»Und wenn sie freiwillig dort unten ist?«, gab der Kentaur zu bedenken. »Sie ...«

»Was?«

Orimedes stand wie versteinert. Mit offenem Mund blickte er auf den See. Wie in Trance hob er den Arm und deutete auf das Wasser. »Die Fische. Sieh nur!«

Geisterhaft blasse Fischleiber stiegen aus den dunklen Tiefen des Sees an die Oberfläche. Leblos trieben sie mit den weißen Bäuchen nach oben in der sanften Dünung. Bald waren es hunderte.

»Was geschieht da?« Orimedes wich ein Stück vom Ufer zurück, als fürchte er, das Los der Fische zu teilen. »Der See! Er muss vergiftet sein. Es werden immer mehr. Alles ist tot!«

Ollowain blickte auf das grüne Wasser. Es hatte fast die Farbe von Lyndwyns Augen. Diese wunderbaren grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin! Den Kentaur schüttelte ihn.

»Was ist das?«

»Lyndwyn ...« Ollowain blinzelte. Der Bann war gebrochen.

»Bleib hier. Achte darauf, dass niemand aus dem See trinkt. Ich hole Hilfe.«

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