Mut

Alfadas hatte seine Truppen im Eilmarsch von der Hügelgruppe fortgeführt. Gegen die Stellung mit den Katapulten anzustürmen war Selbstmord. Die Kentauren hatte er nicht mehr aufhalten können, und sie hatten einen hohen Preis für ihren Übermut bezahlt. Es war richtig gewesen, die Schlacht abzubrechen. All seine Pläne hatten sich ins Gegenteil verkehrt. Es sollten die Trolle sein, die unter tödlichem Beschuss gegen ihre Formation aus Piken anstürmten. Doch der Feldherr der Feinde hatte sie gezwungen, ihn anzugreifen. Wer dieser Kerl wohl war?, fragte sich Alfadas, und er musste sich eingestehen, ein völlig falsches Bild von den Trollen gehabt zu haben. Bisher waren sie für ihn so etwas wie Raubtiere gewesen. Geschöpfe, die allein ihren Instinkten folgten. Doch wer immer auf der anderen Seite das Kommando hatte, verstand es zu denken. Obwohl der Angriff ihn überrascht haben musste, hatte er es geschafft, alles zu seinem Vorteil zu wenden.

Der Rückzug erschütterte die Moral der Menschen. Sicher, sie hatten den Flüchtlingszug der Elfen vor den Trollen gerettet, aber sie waren auch vor dem Feind geflohen, den zu bekämpfen sie so viele Mühen auf sich genommen hatten. Alfadas wusste, dass er zu seinen Männern sprechen musste. So wie es nun aussah, waren all die langen, harten Tage der Ausbildung vergebens gewesen, und sie standen einem Feind gegenüber, der sie niedermetzelte, ohne dass es überhaupt zu einem Nahkampf kam. Die Nacht durfte nicht verstreichen, ohne dass er den Mut seiner Männer wieder festigte!

Wie an den Abenden zuvor hatten sie ihr Lager mit Planen aus schwerem Segeltuch abgespannt, um sich gegen den Wind zu schützen, und einige Feuerbecken aufgestellt. Auch die Flüchtlinge richteten sich für die Nacht ein. Einige Kinder beobachteten neugierig die Menschen. Manche brachten kleine Geschenke, um sich für ihre Rettung zu bedanken. Doch kaum jemand vermochte sich mit den Fremden zu verständigen. Alfadas wollte gerade auf einen Schlitten steigen, um seinen Männern eine ermutigende Rede zu halten, als Lambi ihn am Arm zurückhielt.

»Tu das nicht, Feldherr. Du triffst die richtigen Entscheidungen, und du bist niemandem Erklärungen schuldig. Du schadest dir, wenn du dich jetzt entschuldigst.«

»Aber es muss etwas gesagt werden«, beharrte Alfadas. »Sie dürfen sich nicht für Verlierer halten.« Lambi rieb sich seine verstümmelte Nase. »So wie ich das sehe, hast du uns durch deine Befehle vor einer Niederlage bewahrt. Lass mich eine Rede halten. Ich werde den Jungs schon die Köpfe zurechtrücken. Vertrau mir!«

Alfadas zögerte. Wenn ein Halunke wie Lambi die Worte vertrau mir aussprach, dann bewirkte er damit genau das Gegenteil. Und der Kriegsjarl schien sich dessen bewusst zu sein.

Lächelnd musterte er Lambi, als könne dieser in seinen Gedanken lesen. »Rede«, sagte er schließlich. Sie würden hier nur überleben, wenn sie taten, was Lambi eingefordert hatte: einander vertrauen.

Durch die Katapulte der Trolle waren siebenunddreißig Krieger gefallen. Das hatte tiefe Wunden im Vertrauen der Männer hinterlassen. Vielleicht war Lambi ja der geeignete Heiler? Die Krieger unter seinem Kommando hatten den Rückzug jedenfalls locker weggesteckt. Sie lachten bereits wieder an ihren Feuern.

Der Kriegsjarl stieg auf einen der Schlitten. Er räusperte sich, doch nur wenige Männer beachteten ihn. Es war schlimmer, als Alfadas erwartet hatte. Die meisten Krieger starrten einfach nur in die Flammen. Sie wollten nichts hören.

»Eigentlich hatte ich vor, euch von einem Weib zu erzählen, das darauf wartet, flachgelegt zu werden«, rief Lambi lachend.

»Aber ich sehe schon, dass ich diese Arbeit allein erledigen muss.«

»Willst du vielleicht die Hure des Königs versteigern?« Der Kriegsjarl lachte. »Nein, ich spreche von einem Weib, das so launisch ist, dass unser alter König es bestimmt nicht mehr reiten könnte. Die Rede ist hier von Svanlaug, Norgrimms Tochter, der Herrin des Sieges. Sie hat uns allen heute ins Angesicht gelacht, aber wenn ich euch so um die Feuer stehen sehe, dann wähne ich mich in einem Heer von Blinden. Hat denn keiner von euch dieses herrliche Weib gesehen?«

»Einen Haufen Feiglinge habe ich gesehen, die sich davongeschlichen haben«, rief eine dunkle Stimme aus der Deckung der Menge.

»Du hast Recht, Mann! Reden wir über Feiglinge und nicht über Weiber. Ich will ehrlich zu euch sein. Von Svanlaug habe ich nur gesprochen, damit ihr eure Ohren aufreißt. Oder glaubt ihr, Lambi würde euch verraten, wo man dieses prächtige, dralle Weibsbild trifft? Dorthin würde ich mich allein auf den Weg machen, denn wenn ich Svanlaug treffe, kann ich nicht ein paar hundert geile Böcke im Nacken gebrauchen, die obendrein noch ihre Nasen haben und neben mir so liebreizend aussehen wie die Titten einner Jungfrau! Sprechen wir also jetzt von Feiglingen! Auch ich bin heute den größten Feiglingen begegnet, denen ich je als Krieger gegenüberstand. Und ich meine wirklich den größten, denn neben diesen grauen Riesen sehen wir ja aus wie Kinder. Ich sag euch, ich hatte die Hosen voll, als ich den Ersten von denen im Schneetreiben gesehen habe.«

»Du hättest sie seitdem mal wechseln sollen, alter Stinker«, warf der rotbärtige Krieger aus Lambis Gefolge ein. Einige Männer lachten. Die Spannung begann sich zu lösen.

»Heh, ich dachte, heute stehe ich vor Norgrimm! Und vor einen Gott trete ich lieber mit voller Hose als ohne Hose. Dass sich Männer in ihrem letzten Gefecht mal gehen lassen, ist dem Herrn der Schlachten gewiss nicht neu. Aber wenn ich ohne Hosen vor ihm aufgetaucht wäre, dann hätte er vielleicht vermutet, ich hätte in einem Liebesgeplänkel den Löffel abgegeben.«

»Da hättest du aber eine blinde Hure finden müssen!«, rief Ragni spöttisch.

Lambi griff sich mit großer Geste an die Brust. »Glaubst du, nur weil ich der tödlichste Krieger in diesem Sauhaufen bin, hätte ich kein Herz, Jarl? Solche Scherze verletzen mich. Aber ich verzeihe dir, denn deinen Worten entnehme ich, dass du, was die Ringkämpfe der Liebe angeht, noch ein grüner Junge sein musst. Sonst wüsstest du, dass man sehr viel Spaß haben kann, ohne dass man sich dabei ins Antlitz sehen muss.«

»Hör auf, von Weibern zu quatschen, Lambi, und sieh der Wahrheit ins Auge!«, blaffte Ragni wütend. »Für mich sind die Feiglinge diejenigen, die sich mit eingekniffenem Schwanz vom Schlachtfeld verziehen.« Lambi griff sich ans Gemächt. »Also bei mir ist hier noch alles in Ordnung, Alter. Nichts verkniffen oder abgeklemmt. Überhaupt frage ich mich, ob wir heute am selben Ort waren. Ich war dabei, als ein Mann, der vor ein paar Wochen noch ein Bäckergehilfe war, einem Troll fast den Kopf abgehackt hat. Ich habe hunderte Männer gesehen, die mutig vorgestürmt sind, obwohl sie wussten, dass im Schneetreiben ein schrecklicher Feind auf sie lauert.« Er fasste sich an die Stirn. »Ach ja, ich hätte es fast vergessen. Ich habe auch noch einen Trupp Trolle gesehen. Es müssen mehr als zweihundert gewesen sein. Sie standen auf einem Hügel, von dem sie sich nicht heruntergetraut haben. Sie sind größer als Höhlenbären, und sie haben sich nicht hinab auf eine Ebene getraut, die von ehemaligen Bäckergesellen, Bauern und Fährleuten verteidigt wurde. Wir haben dort unten gestanden und auf sie gewartet. Und was haben sie getan? Aus der Ferne mit Steinen nach uns geschossen. Das war alles, wozu ihr Mut reichte.«

»Und dann sind diese mutigen Männer abgehauen«, rief Ragni.

Lambi breitete in verzweifelter Geste die Arme aus. »Oh, Luth, was habe ich dir getan? Warum schickst du in steter Folge Trottel in mein Leben und so selten hübsche Frauen? Was hat es mit Mut zu tun, sich als Zielscheibe für Trolle hinzustellen, Ragni? Den Göttern sei Dank, dass unser Feldherr mit mehr Verstand gesegnet ist als manche seiner Kriegsjarls! Ich fühle mich nicht als Feigling, weil ich nicht darauf gewartet habe, bis mir ein paar Trolle die Rübe wegschießen. Wären wir dort stehen geblieben, dann hätten wir den Trollen einen Sieg geschenkt.« Lambi deutete hinaus in die Dunkelheit. »Aber wo sind sie, die vermeintlichen Sieger? Sie trauen sich nicht, uns zu folgen, diese tapferen Steinhäute. Und dann seht euch einmal weiter um. Ich sehe dutzende von Elfenweibern, Kindern und Alten. Die Beute der Trolle. Wir haben sie ihnen entrissen! Kann derjenige der Verlierer sein, der mit der Kriegsbeute vom Feld zieht?«

»Nein!«, rief jemand in der Menge. »Nein!«, fielen sogleich weitere Stimmen ein. »Nein!«

Lambi breitete die Arme aus, um die Menge zum Schweigen zu bringen. »Vielleicht schicken sie uns ein paar Späher hinterher, die durch die Nacht schleichen, um uns Angst zu machen. Das ist die Art der Feiglinge, die das helle Tageslicht fürchten. Meinen Respekt haben die Trolle erst wieder, wenn sie sich uns zur Schlacht stellen. Bevor sie sich nicht so nahe an uns herantrauen, dass wir das Weiße in ihren Augen sehen, spucke ich auf diese Schisser!«

Der Kriegsjarl zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in den Schnee. Dann sah er sich grinsend um. »Den Schlaueren unter euch ist sicher schon aufgefallen, dass ich ein ziemlich respektloser Geselle bin. Und ich bin verdammt froh, dass ich Kriegsjarl bin, denn ich mag es nicht, anderen Männern nach der Pfeife zu tanzen. Nur für einen gilt das nicht. Für den Mann, der es geschafft hat, aus einem Haufen von Halunken und Tagelöhnern ein Heer zu machen, vor dem Trolle Angst haben. Bis heute war ich davon überzeugt, dass der Tag, an dem wir auf das Trollheer treffen, das eine ganze Elfenstadt ausgelöscht hat, mein letzter Tag sein würde.« Lambi deutete auf Ragni. »Ich weiß, du kannst mich nicht leiden, Kriegsjarl. Aber ich wette, was diese eine Sache angeht, waren wir heute Morgen noch derselben Meinung. Und du, Veleif Silberhand, du hast bestimmt nicht anders gedacht. Oder du, Rolf Svertarm. Oder du, Yngwar!«

Bis auf das leise Knistern der Feuer war es totenstill. Viele Männer nickten gedankenverloren. Lambi schwieg ein paar Herzschläge lang, um seine Worte wirken zu lassen.

»Wenn ich das nächste Mal den Trollen gegenüberstehe, dann sollen sie zu hören bekommen, dass ihre Ängste einen Namen haben. Sie sollen wissen, wer der Mann ist, der ihnen den Schneid für einen Angriff genommen hat. Dieser Name soll mein Schlachtruf sein, und ich will, dass sie zittern, wenn sie ihn hören. Alfadas Trollschlächter!

Los, lasst ihn die Trolle hören, die jetzt vielleicht heimlich um unser Lager schleichen!« Lambi zog sein Schwert und reckte es dem Himmel entgegen. »Alfadas Trollschlächter!«

Hundertfach wurde der Ruf des Kriegsjarls aufgenommen. Die Männer drängten sich um den Herzog. Immer wieder erklang ihr neuer Schlachtruf, und schließlich hoben sie Alfadas auf ihre Schultern. Auch Lambi wurde von der Menge gepackt und emporgehoben. Immer weiter peitschte er die Männer mit seinem Schlachtruf auf, und Alfadas schien es, als sei eine Ewigkeit vergangen, bis sich die aufgewühlte Menge wieder beruhigte. Dutzende Männer luden den Herzog ein, mit ihnen zu trinken, und fast bis zur Morgendämmerung ging er von Feuer zu Feuer, um mit ihnen zu sprechen. Und sie alle brannten darauf, wieder gegen die Trolle zu kämpfen. Zuletzt suchte Alfadas nach Lambi. Er fand ihn schließlich etwas abseits im Windschatten eines Schlittens liegend. Der Kriegsjarl hielt einen halb leeren Weinschlauch im Arm und schlief.

Der Herzog betrachtete ihn schweigend, und er fragte sich, womit ihn der kleine Krieger wohl als Nächstes überraschen würde. Plötzlich schlug Lambi die Augen auf. Er blinzelte schlaftrunken.

»Du findest wohl keine Ruhe in dieser Nacht.«

Alfadas nickte. »Ich frage mich, ob das alles nur schöne Worte waren oder ob du wirklich glaubst, was du den Männern erzählt hast.«

Lambi grinste schelmisch. »Was soll ich glauben? Dass Svanlaug uns ins Gesicht lacht? Die Herrin des Sieges ist eine Hure. Man weiß nie, in wessen Bett sie sich legen wird.«

»Du weißt, dass ich nicht davon rede.«

Lambi setzte sich auf. Sein Atem roch nach süßem Wein, doch seine Stimme war ganz klar. »Es macht einen guten Feldherrn aus, dass er weiß, welchen Mann er zu welcher Zeit an welcher Stelle am besten einsetzt. Und es macht einen sehr guten Feldherrn aus, dass er diesen Mann nicht aufhält, wenn er von sich aus entscheidet, dass seine Zeit gekommen ist.«

»Du musst mir nicht schmeicheln, Kriegsjarl.«

Lambi stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Sehe ich vielleicht aus wie ein Schmeichler und Speichellecker, Feldherr? Lerne, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Und enttäusche mich nicht. Du bist der Mann, der dafür sorgen wird, dass wir den Trollen so heftig in den Hintern treten werden, dass sie unsere Schuhsohlen auf der Zunge schmecken. Ich glaube an dich, Alfadas.«

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