Auf der Schwelle

Vahelmin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Skangas Blutmagie ihn in eine ihr hörige Bestie verwandelt hatte. Tage, Wochen oder vielleicht doch nur Stunden? Im Nichts gab es kein Maß für das Verstreichen der Zeit.

Manchmal hoffte Vahelmin plötzlich zu erwachen, um zu sehen, dass all dies nur ein schrecklicher Traum war. Aber da war diese andere Kreatur ... Der Quell der dunklen Gedanken. Dieses Geschöpf war tief in ihm. Was immer er dachte, es hatte seinen Anteil daran. Wenn er hoffte, bald zu erwachen, konnte er fühlen, wie sich die Bestie in ihm regte, um sich in Erinnerung zu bringen und all seine Träume Asche werden zu lassen. Jegliche Gedanken der dunklen Kreatur drehten sich um Licht. Und doch schrak sie vor den goldenen Pfaden zurück, die sich in weiten Abständen durch das Nichts zogen. Vahelmin hatte der Bestie mühsam beibringen müssen, dass sie diese Pfade nun begehen konnten, dass der Bann, der die anderen Geschöpfe der Dunkelheit von den Albenpfaden fern hielt, für sie nicht mehr galt.

Dafür lehrte die Bestie ihn, wie man sich im Nichts bewegte. Hier gab es kein Oben oder Unten, keinen sicheren Grund, über den man schritt. Vom ersten Augenblick an hatte Vahelmin im Nichts das Gefühl gehabt zu fallen. Ein endloser Sturz in einen bodenlosen Abgrund ...

Und die Kreatur in ihm hatte sich an seiner Angst erfreut. Das Nichts war eine Welt ohne Licht, ohne Gerüche, ohne Wind, den man auf der Haut spürte. Sie war schrecklicher als jeder Kerker, denn man war eingesperrt mit sich und seinen Gefühlen, ohne dass es einen Sinneseindruck gab, der einen auch nur einen Herzschlag lang ablenkte. An diesem Ort war es ein Fest, sich an der Angst eines anderen zu laben. Die Kreatur ließ ihn die Grenze zum Wahnsinn erreichen. Vielleicht hatte er sie sogar überschritten ... Dann erst lehrte sein dunkler Bruder ihn, sich zu bewegen. Das heißt, zuallererst versuchte das Wesen, ihm begreiflich zu machen, dass er nicht stürzte. In einer Welt ohne Horizont, ohne Landmarken, an denen man sich orientieren konnte, ohne Berge und Täler gab es auch keinen Boden, auf dem man jemals hätte aufschlagen können. Er stürzte nur in seiner Vorstellung, weil es nichts gab, an dem er seinen Standort in der Welt verankern konnte.

Seit Vahelmin das begriffen hatte, vermochte er seine Angst zu überwinden. Er lernte, sich Kraft seiner Gedanken zu bewegen. Das Netz der Albenpfade gab dem Nichts eine Struktur. Es schuf Koordinaten im weglosen Abgrund.

Die Kreatur, mit der Skanga ihn verschmolzen hatte, fürchtete die Albenpfade wie der ungehorsame Hund die Peitsche seines Herrn. Die Bestie wagte es nicht, die Pfade zu betreten, und doch belauerte sie die magischen Wege ständig. Sie spürte Eindringlinge, wie eine Spinne es spürt, wenn etwas ihr Netz berührt. Binnen eines Augenblicks so kam es Vahelmin zumindest vor – waren sie dort, wo sich etwas im Netz bewegte. Lauernd umlagerten sie dann mit anderen Geschöpfen der Finsternis den Albenpfad und warteten darauf, dass einer der Eindringlinge den Fehler machte, den sicheren Weg zu verlassen.

Verließ man den Pfad, dann verblasste das goldene Licht sofort. Vom Nichts aus betrachtet, war das goldene Netz unsichtbar. Man spürte es, wenn man ihm sehr nahe kam, aber es half einem nicht, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Die Bestie in Vahelmin fürchtete die Kraft, mit denen die Alben einst ihre Wege umgeben hatten. Doch jetzt, wo sie beide eins waren, vermochten sie die Schutzzauber mühelos zu durchdringen. Diesmal war es Vahelmin, der sich an den Ängsten seines dunklen Seelenbruders weidete, als er ihn auf die Pfade aus Licht führte.

Erst als sie in das Netz eindrangen, erinnerte sich Vahelmin, dass sie jemanden suchten. Eine Elfe ... Die Königin! Doch er vermochte keine Spur von Emerelle zu finden. Auch die Erinnerung an Shahondin kehrte zurück. Waren sie nicht gemeinsam in das Netz gegangen? Warum hatte sein Vater ihn verlassen? Hatte er die Spur der Herrscherin gefunden?

Getrieben vom Ehrgeiz, hinter Shahondin nicht zurückzustehen, lernte Vahelmin, dass er das Nichts verlassen konnte. Dort, wo sich viele Albenpfade in einem Stern kreuzten, war es leicht, der Finsternis zu entkommen. Als er zum ersten Mal ausbrach, gelangte er an einen Ort voller Licht und Sand. Er stand inmitten eines weiten, schwarzen Basaltkreises. Neugierig streifte er durch das Sandmeer. Doch es gab hier keine Beute zu machen. Das Land war tot, und so kehrte er ins Nichts zurück.

Anschließend wagte er mehrere kleine Ausflüge, um seine Fähigkeiten zu erproben. Wahllos trat er durch Albensterne, blieb aber nie lange. Hier tötete er einen Hasen, dort ein kleines Reh. Erst als es ihn in eine winterliche Steppenlandschaft verschlug, verspürte er Lust, länger zu bleiben. Seine weiße, durchscheinende Gestalt verschmolz hier völlig mit dem Hintergrund. Im Gegensatz zu Raubtieren schien er auch keinerlei Geruch zu verströmen. Ohne Mühe konnte er sich einer Yakherde nähern und unter den Tieren wildern. Seine Kiefer stießen auf keinerlei Widerstand, wenn er sie in die Flanken der Bullen stieß. Und ohne Mühe zerrte er das Licht aus den Tieren. Es war köstlich, den Todeskampf zu schmecken. Dem Verfall des Lebens zuzusehen und die Panik in den Augen der anderen Tiere zu erblicken, die nicht begriffen, was gerade geschah. Das Licht sättigte ihn nicht wirklich. Aber zu morden bereitete ihm Freude. Oder war es sein dunkler Bruder, der sich freute?

Eines Abends schlich er sich an ein Kentaurenlager heran und ermordete eine Stute, die gerade ihr Junges gebar. Als Jäger in jener fernen Zeit, in der er noch ein Elf gewesen war, hatte er niemals ein trächtiges Tier erlegt. Das war gegen alle Gesetze der Jagd. Nun bereitete es ihm tiefe Befriedigung, gegen jene Gesetze zu verstoßen. Er hatte das wehrlose Junge getötet, als es noch durch die Nabelschnur mit der Mutter verbunden war. Und die Kentaurenstute war mit ihrem Kind in den Armen verendet. Fast genauso erregend war es gewesen, dem Wahnsinn des tobenden Vaters beizuwohnen, als er betrunken in das Zelt gekommen war. Er hatte mit seinen Kumpanen bereits die Geburt seines Kindes gefeiert. In seiner Raserei hatte er versucht, sich zu entleiben. Nach der Jagd kehrte Vahelmin stets in das Nichts zurück. Es war für ihn wie eine riesige, grenzenlose Höhle. Das Refugium des Raubtiers. Auch hoffte er immer noch darauf, eine Spur der Königin zu finden.

Skanga war sich so sicher gewesen, dass sie Emerelle aufspüren würden. Vielleicht musste er nur darauf warten, dass die Königin erneut das Netz der Albenpfade betrat? Er würde spüren, wenn sie hierher kam. Und dann würde er ihr Licht rauben! Ein sengender Schmerz durchfuhr ihn. Die Königin war nicht seine Beute. Seine Glieder schienen zerreißen zu wollen. Noch einmal durchlebte er die Nacht der Verwandlung, den Augenblick, in dem Skanga ihm seinen Leib geraubt hatte. Er war ihr Hund! Und es war ihm verboten, der Königin ein Leid zuzufügen. Sie war Skangas Beute! Und wenn er ein guter Hund war, dann durfte er vielleicht eines Tages auch wieder ein Elf sein. Ein fernes Beben schreckte ihn aus seinen Erinnerungen. Etwas Großes bewegte sich durch das Netz. Ein Gedanke nur, und er war bei dem Pfad, den ein geöffnetes Tor in Schwingungen versetzt hatte. Hunderte Menschen waren auf dem Weg durch das Nichts. Sie verströmten den Geruch der Angst. Vahelmin ergötzte sich eine Zeit lang daran, dann durchbrach er den Schutzbann des Albenpfades und begann unter seinen wehrlosen Opfern zu wildern. Dabei ging er vorsichtig vor. Manche trugen Kettenhemden, und das Eisen brannte, wenn er es berührte. Die meisten jedoch waren ohne Rüstung und nur mit einer Axt oder einem Speer bewaffnet. Sie zu töten war leicht.

Die Bestie in ihm hielt ein Festmahl, und er gab sich ihren Gelüsten willig hin. Ein Dutzend oder mehr Leiber welkten, als er ihr Licht stahl. Ihr Entsetzen versüßte die Morde. Doch ganz gleich, wie viele er tötete, seinen Hunger vermochten sie kaum zu stillen. Es war wie ein Muschelessen. Man schlürfte die Meeresfrüchte, und doch gewann man jeder einzelnen nur einen flüchtigen Moment des Genusses ab, bevor man die leeren Schalen fortwarf.

Der Strom der Menschen wollte kein Ende nehmen. Bald gefiel es Vahelmin, nur noch von ihnen zu naschen, ihnen lediglich einen Teil ihrer Lebenskraft zu stehlen. Angst konnte so wunderbar vielfältig schmecken! Manche Männer, die ihn sahen, gerieten in Panik und flohen von dem Albenpfad. Sie wurden zum Schmaus der Schattengestalten, die jenseits des Schutzbanns lauerten.

Woher die Menschen wohl kamen? Seine Neugier besiegte den Hunger der Bestie. Vahelmin folgte dem Strom der Menschen zu seinem Ursprung. Sie traten bei einem großen Albenstern ins Nichts. Er verließ den Pfad und legte sich auf die Lauer. Die Bestie spürte, dass dort draußen noch viele Menschen waren. Sie wollte hinaus, wollte Panik verbreiten und sich an dem Schrecken weiden. Doch Vahelmin dachte an die Eisenwaffen. Jenseits des Tores würden die Menschen auf sicherem Boden kämpfen. Wenn sie ihren ersten Schrecken überwunden hatten, würden sie ihn vielleicht ernsthaft verletzen. Er musste sie überraschen. Ihnen auflauern, wenn sich die Versammlung in kleinere Gruppen auflöste. Er malte sich aus, wie er das Grauen in ihre Dörfer tragen würde. Nur ein wenig Geduld, dann konnte er ungefährdet die Schwelle in die Welt der Menschen überschreiten! Es würde eine vergnügliche Jagd werden!

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