Die Alfadasstiege

Das Signalfeuer brannte lichterloh! Weit in den Himmel schlugen die Flammen. Kalf konnte beobachten, wie im fernen Dorf die große Kutsche aufs Eis des Fjords gebracht wurde. Dann folgten ihr winzige Gestalten. Holzschlitten, von Hand gezogen, und eine Herde Schafe, dicht zusammengedrängt, verschmolzen fast mit dem Weiß der Winterlandschaft.

Gut, dass Asla ihn auf den Weg zum Isleifshof geschickt hatte, dachte Kaff. Er war den Trollen im Wald begegnet. Raue Stimmen und ein kehliges Lachen hatten den Fischer zeitig genug gewarnt. So hatte er ein Versteck in einem Brombeerdickicht gefunden. Zwischen den schneebedeckten Ranken hindurch hatte er sie beobachtet. Riesig waren sie! Drei Schritt und mehr maßen sie vom Scheitel bis zur Sohle. Die meisten von ihnen waren trotz der Kälte fast nackt. Sie hatten Felle um ihre Lenden gewickelt. Einer trug den Kadaver von Isleifs Hund über der Schulter. Ihre Waffen verrieten, dass sie keine Jagdgesellschaft waren; kaum einer trug einen Bogen oder Speer. Sie waren mit Äxten und breiten Steindolchen bewaffnet. So kamen Plünderer daher! Einer der Trolle, ein besonders großer Kerl, der seinen feisten Wanst mit blutigen Handabdrücken geschmückt hatte, kam so nah an Kalfs Versteck vorbei, dass der Fischer ihn mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Kalf dankte Luth in stummem Gebet, dass die Trolle nicht auch noch Hunde mitgebracht hatten. So blieb er unbemerkt.

Die Kriegerbande folgte Isleifs Spur durch den Schnee. So würden sie geradewegs nach Firnstayn gelangen. Kalf wünschte, sie hätten den alten Säufer in seinem Bett überrascht! Vielleicht hätten sie das Dorf dann nicht gefunden.

Aslas großer Schlitten war jetzt schon fast eine halbe Meile auf den Fjord hinausgefahren. Noch kamen letzte Nachzügler aus dem Dorf. Ob sich wohl jemand geweigert hatte, in dieser eisigen Nacht nur wegen einer Geschichte und eines Feuers seine Hütte zu verlassen? Kalf hoffte es nicht. Nachdem er die Trolle gesehen hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr an all den schrecklichen Geschichten, die man sich über sie erzählte. So sahen Menschenfresser aus!

Ein letztes Mal streckte der Fischer seine Hände den Flammen entgegen, dann zog er wieder die dicken, pelzgefütterten Fäustlinge an. Er vermied es, den Steinkreis zu durchqueren, der die steile Klippe krönte. Über den Ziegenpfad, der seitlich vorbeiführte, eilte er zurück zu dem sanft abfallenden Hang auf der Rückseite des Hartungskliffs. Und da sah er sie! Drei riesige Gestalten. Mit weiten Schritten stampften sie durch den hohen Schnee und folgten seiner Spur.

Kalf schluckte. Er hätte nicht so lange bei dem Feuer bleiben dürfen! Seinen Schein musste man bis weit in die Wälder hinein sehen. Er hatte die Menschenfresser damit geradezu gerufen. Und sicher würden sie es begrüßen, dass das Feuer schon brannte, auf dem sie ihn braten würden!

Kalf blickte zum Steinkreis. Dorthin hatte sich Mandred vor so vielen Jahren gerettet. Ein Wunder war geschehen, und er war nach Albenmark gelangt. Doch dahin wollte Kalf nicht! Asla durfte nicht auch ihn noch verlieren. Es war schon schlimm genug, dass Alfadas in den fernen Elfengefilden weilte, statt hier zu sein, um den Seinen beizustehen.

Die Trolle kamen schnell näher. Sie sahen, dass keine Fährte von der Klippe hinabführte. Kalf zog sich zurück. Zum Fjord hin fiel das Kliff steil ab.

In seinem ersten Sommer in Firnstayn war Alfadas oft hier oben gewesen. Damals hatte er immer wieder davon erzählt, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sein Vater einen zweiten Weg die Klippe hinab hätte gehen können. Und irgendwann hatte er damit angefangen, diesen Weg zu bauen. Weg war zu viel gesagt ... Soweit Kalf wusste, hatte außer Alfadas niemand diesen Weg je benutzt. Und auch der Jarl war ihn nur unter guten Bedingungen hinabgeklettert. Nicht mitten im Winter.

Der Fischer sah sich am Rand des Kliffs um. Die Trolle waren jetzt schon so nah, dass er sie miteinander reden hören konnte. Wo war der verfluchte Abstieg?

Endlich fand er im Schnee verborgen einen rostigen Haken. Ein Seil, das ganz schwarz vor Schmutz und Schimmel war, hing davon herab.

Der erste Troll erschien am Rand des Steinkreises. Mit einem kehligen Ruf deutete er auf Kalf.

Der Fischer zog die Fäustlinge aus, griff nach dem Seil und ließ sich über den Felsrand hinab. Lieber wollte er abstürzen, als von Trollen gefressen werden!

Das Seil war gefroren. Der Frost schnitt Kalf in die nackten Finger. Je tiefer er hinabkam, desto bedenklicher knirschte das Seil. Und dann hörte es auf. Mitten in der Steilwand! Verzweifelt sah sich der Fischer um. Schnee lag auf den Felssimsen. An manchen Stellen war der Stein von einem klaren Eispanzer überzogen.

Ein Stück seitlich entdeckte Kalf einen gebogenen Eisenhaken. Dort gab es einen schmalen Felssims, über dem ein Seil wie ein Handlauf angebracht war. Kalf streckte sich. Gerade eben bekam er das Eisen zu packen.

Ein polterndes Geräusch ließ ihn aufblicken. Die Trolle warfen Steine die Klippe hinab. Mit verzweifelter Anstrengung zog sich Kalf auf den Sims. Dort schützte ihn ein Überhang vor dem heimtückischen Angriff. Mit beiden Händen in das Seil gekrallt, arbeitete er sich weiter vor. Der Sims wurde breiter.

Unter einem Felsüberhang fand Kalf eine Felsnische, auf deren Boden schwarze Holzreste lagen. Offensichtlich hatte Alfadas hier einmal gelagert. Verschlungene Muster waren mit der Holzkohle auf den Fels gemalt. Der Jarl war ein seltsamer Mensch! Kalf wäre es niemals eingefallen, mitten in einer unzugänglichen Felswand zu lagern! Der Fischer blickte zum Fjord hinaus. Der Flüchtlingszug hatte das Dorf jetzt ein gutes Stück hinter sich gelassen. Sie würden entkommen! Gut, dass Asla so vorsichtig war! Oben von der Klippe wurden keine weiteren Felsklötze mehr hinabgestürzt. Kalf wagte sich aus seinem Versteck. Die Trolle waren verschwunden. Vorsichtig kroch er ein paar Schritt weit auf den Sims hinaus. Nichts geschah! Die Menschenfresser hatten offensichtlich ihre Jagd eingestellt. Er würde leben! Leichten Herzens machte er sich auf die Suche nach weiteren Spuren der Alfadasstiege. Über Eishaken, schmale Leitern und Seile kämpfte er sich die Steilklippe hinab, bis er zuletzt einen weiten Geröllhang erreichte, der in einen Tannenwald überging.

Vorsichtig tastend arbeitete er sich den Hang hinunter. Das Geröll lag unter Schnee verborgen. Er hatte die Hälfte des Weges geschafft, als die lockeren Steine unter ihm ins Rutschen gerieten. Mit den Armen rudernd, suchte er nach Halt, stürzte nach hinten und rutschte auf dem Rücken liegend den Hang hinab. Er stieß gegen einen verborgenen Stein, überschlug sich. Sein Knöchel schlug hart gegen einen Felsen. Unaufhaltsam rutschte er den Tannen entgegen! Im kalten Sternenlicht konnte er deutlich die abgestorbenen Äste sehen, die wie Dolche aus den Stämmen ragten.

Er machte einen Satz und wirbelte durch die Luft. Dann gab es einen harten Schlag. Kalf kniff die Augen zusammen. Er lag in einer Schneewehe. Benommen sah er sich um. Bis zum Waldrand waren es kaum noch fünf Schritt. Der Fischer tastete seine Glieder ab. Sein rechter Knöchel schien verstaucht zu sein. Alle Knochen schmerzten. Aber es war nichts gebrochen.

Stöhnend richtete er sich auf und humpelte dem dunklen Tannenwald entgegen. Wenn er durchhielt, würde er vielleicht in zwei Stunden die Flüchtlinge auf dem Eis erreichen.

Dunkle Omen und Heldentod

... Seit ihn sein Sohn Egil verlassen hatte, ward der König von üblen Träumen heimgesucht. Oft fand man ihn einsam mitten in der Nacht und nur mit einem Hemde angetan in seiner Festhalle sitzend. Der Herrscher, der bis ins hohe Alter Bärenkräfte besessen hatte, verfiel in wenigen Wochen.

Es war eine Zeit der dunklen Vorzeichen. Die Markthalle in Gonthabu, an der man drei Jahre gebaut hatte und die das erste große Gebäude aus Stein in der Königsstadt war, brach zusammen, als sich erster Schnee auf ihrem Dach türmte. Und eines Nachmittags lag ein Schatten auf der Sonne. Ein kleiner Fleck nur, doch er sollte für vier Tage bleiben.

Es war in der Nacht nach dem ersten schweren Wintersturm, als Horsa nach seinem Schreiber schickte, um sein Testament aufsetzen zu lassen. Auch rief er den ältesten Priester des Luthtempels zu sich. Allen bei Hof erschien Horsa an jenem Tag so, als habe er seine alte Kraft zurückerlangt. Er trank schweren Wein zum Mittag. Am Abend erreichte ihn die Kunde von den Trollen. Sie waren an der Küste erschienen, hatten ein Fischerdorf niedergebrannt und zogen nun den Fjord entlang dem Königssitz in Gonthabu entgegen.

Sofort ließ Horsa Boten in alle Himmelsrichtungen senden und versammelte vor den Toren der Stadt sein Heer. In drei Tagen folgten dem Waffenruf siebenhundert Männer. Zu Pferd und auf Schlitten kamen sie durch den tiefen Schnee, während die Verzagten in hellen Scharen die Königsstadt flohen.

Unter dem roten Adlerbanner sammelten sie sich, den König in ihrer Mitte. Weit bis ins Land hörte man den donnernden Hufschlag auf dem Eis, als der alte König seine letzte Attacke ritt. Doch was vermag Menschenkraft gegen finstren Trollzorn auszurichten! Selbst die tapfersten Recken des Königreichs wurden erschlagen. Zu ungleich war der Kampf, verloren schon, bevor das erste Schwert gezogen. Horsa Starkschild fiel, als er seinem jungen Bannerträger, dem Jarl Oswin, das Leben rettete. Und mit ersterbender Stimme befahl er dem Jüngling, die Lebenden um sich zu scharen und vom Eisfeld zu ziehen, um an einem anderen Tag siegreich zu kämpfen.

»Hol mir den Jarl vom Firnstayn«, waren die letzten Worte Horsas mit dem starken Schild.

Das Leben Horsa Starkschilds (33-35)

niedergeschrieben von Eginhard von Daluf

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