Der Herzog der Nachtzinne

Skanga stieg über einen Kobold hinweg, der noch im Tod mit beiden Händen ein lächerlich kleines Schwert umklammerte. Es roch angenehm nach gebratenem Fleisch in der großen Höhle hinter dem goldenen Tor. Mit Schaudern betrachtete sie die vertäuten Eisschiffe. Sie erkannte die beiden Segler, die so blutige Ernte unter den Trollen gehalten hatten. Zornig blickte sie zurück durch das Tor. Hunderte verkohlter Leiber lagen dort auf dem Eis. Seit ihr Augenlicht sie vor vielen Jahrhunderten verlassen hatte, nahm sie den Tod viel deutlicher wahr. Sie sah jetzt die Lebenslichter der Sterbenden verblassen. Manchmal mochten die Lebenslichter die Toten nicht sofort verlassen. Doch nie leuchteten sie länger als bis zur nächsten Dämmerung.

Diese Halle und der ganze Pass waren voller verblassender Lichter. Ihr Volk hatte einen fürchterlichen Preis für den Sturm auf das goldene Tor bezahlt. Jetzt begriff Skanga, warum die Elfen ihnen nicht ein weiteres Mal mit ihren Eisschiffen zugesetzt hatten. Emerelles Brut hatte darauf vertraut, dass diese Festung unbesiegbar war und so gut wie ohne eigene Verluste verteidigt werden konnte.

Die Schamanin lächelte stolz. So viele auch heute gekämpft hatten, letzten Endes war es ein einziger Troll gewesen, der den Unterschied gemacht hatte. Sie hatte ihn bereits bemerkt, wusste, dass er überlebt hatte.

Hinter sich hörte sie Branbarts Stimme, der überschwänglich seine Krieger lobte. Der König hatte sich auf einem Fass niedergelassen. Als er Skanga sah, rief er sie. Er war von den üblichen Trotteln und Speichelleckern umgeben. Wenn Branbart eines Tages darauf verzichten würde, nur solche Kämpfer um sich zu versammeln, die dümmer waren als er, würde er vielleicht ein großer König werden.

Neben dem Fass, das Branbart zum Thron gemacht hatte, lag ein Haufen mit abgetrennten Elfenköpfen. Noch immer brachten Krieger neue Köpfe. Manche hatten gleich mehrere an ihren langen Haaren zusammengebunden. Branbart fand für jeden seiner Kämpfer lobende Worte.

»Was soll dieser Unsinn?«, fragte Skanga.

»Wir messen den Sieg«, antwortete Dumgar an Stelle des Königs. »Es heißt, dass es nur drei- oder viertausend Normirga gibt. Hier liegen schon mehr als zweihundert von ihnen. Und das sind nicht einmal alle! Manche Elfen vergehen, bevor man ihnen die Köpfe abschneiden kann. Emerelles Volk wird verlöschen! Dieser Schädelhaufen ist wie ein Stundenglas.« Dumgar grinste stolz über diesen Vergleich. Skanga bezweifelte, dass der Herzog vom Mordstein ihn sich selbst ausgedacht hatte. Sie wandte sich an den König.

»Ich muss mit dir reden. Allein!«

Branbart zog die Nase hoch und spuckte grünen Auswurf auf den Schädelhaufen. Dann entließ er die Schwätzer, die ihn umringten, mit einem flüchtigen Wink.

»Was willst du, Skanga?« Seine gute Laune war unüberhörbar verflogen.

»Du weißt, wer er ist?«

»Das war mir schon in Reilimee klar, als er mit diesem seltsamen Vorschlag kam, die Hafenmauern zu erstürmen. Das ist nicht die Art, wie Trolle kämpfen. Brücken in Masten, große Holzwände, die man zwischen die Rahen hängt... Wir haben die Elfen immer mit der Kraft unserer Arme besiegt.«

Skanga seufzte. Branbart müsste es eigentlich besser wissen. Einer war auch früher schon ungewöhnliche Wege gegangen.

»Dir ist klar, dass es sich nach dem heutigen Tag nicht länger verheimlichen lässt, wer er ist. Es werden Geschichten aufkommen. Man wird sich erinnern ... An frühere Siege ... An Schlachten, die Legende sind ...«

»Ich weiß!« Branbart schlug sich mit der flachen Hand vor die entstellte Stirn. »Mein Kopf mag aussehen wie ein Fleischball, aber denken kann ich noch! Ich werde ihm sein verfluchtes Herzogtum geben!«

»Warum hast du solche Angst vor ihm?«

»Weißt du das nicht? Du bist doch sonst immer so klug, Skanga. Ich denke weiter. Was wird aus Orgrim, wenn er Herzog ist? Danach gibt es nichts mehr zu erreichen. Es sei denn, er würde König.«

Die Schamanin seufzte. Was für ein Narr Branbart doch war! Vielleicht wäre es besser, wenn er den Schlachtentod starb.

»Du kennst unsere Gesetze. So wie Orgrim zum Herzog der Nachtzinne geboren war, so wirst du immer wieder zum König geboren sein. Selbst wenn Orgrim dich ermordet, würde seine Herrschaft niemals von Dauer sein. Und den Königstitel dürfte er nicht führen. Er kann nichts gegen dich tun. Und das weiß er auch.«

Branbart wirkte jetzt sehr müde. »Sieh dir an, wie er Schlachten gewinnt. Er ist so anders. Vielleicht wird er eines Tages einen Weg finden, wie er mich in die Dunkelheit schickt. Er ist der einzige Troll, dem ich das zutraue.« Branbart sah die Schamanin fest an. »Der Einzige außer dir vielleicht noch! In letzter Zeit hatte ich den Eindruck, dass deine Aufmerksamkeit eher Orgrim galt als mir, deinem König.«

»Und warum wird das wohl so gewesen sein?«, fragte Skanga scharf. »Du brauchtest Orgrim, um heute siegen zu können. Ich musste ihn vor deinen Narrheiten schützen, denn sein Tod hätte bedeutet, dass du hier vor den Mauern des Königssteins gescheitert wärst. Jetzt brauchst du ihn nicht mehr. Mach ihn zum Herzog, schick ihn zur Nachtzinne. Gib ihm eine unbedeutende Aufgabe. Er wird für lange Zeit zufrieden sein und seine Kräfte an den Weibchen abstoßen, die er nun haben kann.« Skanga war sich bewusst, dass sie Orgrims Verhalten niemals würde vorhersagen können. Er war zu sprunghaft, um sagen zu können, was ihn im nächsten Mond beschäftigen würde. Sie müsste ihn weiterhin beobachten. Aber Branbart sollte sich in Sicherheit fühlen.

»Seit wann weißt du, dass er der wiedergeborene Herzog ist?«, fragte der König unvermittelt.

»Seit ich ihn das erste Mal berührte. Du weißt, mir bleibt es niemals verborgen, wenn eine alte Seele sich erneut in Fleisch kleidet.« Skanga blieb mit ihrer Antwort bewusst vage. Branbart sollte nicht ahnen, dass sie erst in Vahan Calyd Gewissheit gefunden hatte.

»Spricht etwas dagegen, wenn ich mir unseren großen Feldherrn vom Hals schaffe?«

Skanga richtete ihre blinden Augen auf den Herrscher. Sie sah die brennende Eifersucht in ihm glühen. Er würde alles dafür geben, so zu sein wie Orgrim. Aber er wusste, dass er ihm niemals gleichen würde. Und nach dem Sieg heute konnte er es nicht mehr wagen, den Herzog einfach umzubringen. »Was hast du vor?«

»Die Krieger lieben es, wenn man nach blutigen Schlachten große Reden schwingt.« Branbart erhob sich von dem Fass und trat in die weite Höhle hinaus.

Skanga folgte dem König. Branbart war nicht der Hellste, aber er hatte ein Gespür für die Macht. Sie war neugierig, wie er sich Orgrim gegenüber verhalten würde.

Sie fanden den Rudelführer beim goldenen Tor. Mit verschränkten Armen blickte er den leichenbedeckten Pass hinab. Er wirkte angespannt und verärgert.

»Tritt vor deinen König, Orgrim!«, rief Branbart mit lauter Stimme. Alle sahen zu ihm auf. Die Leichenfledderer hielten bei ihrer Arbeit inne. Krieger, die Verwundete in die Sicherheit der Höhlen brachten, blieben stehen. Sogar ein Trupp gefangener Kobolde blickte ängstlich auf.

»Hast du geglaubt, du könntest vor deinem König verheimlichen, was du tief in deinem Inneren trägst?« Skanga sah, wie Orgrim sich spannte. Nach diesem Sieg würde er keinen Tadel durch Branbart mehr dulden. »Komm her zu mir, und dann knie nieder vor Skanga. Sie soll nach deiner Seele greifen. Alle sollen hören, was sie in dir sieht!« Branbart zog die Nase hoch und spuckte aus.

Die Schamanin lächelte in sich hinein. Der König machte seine Sache gut. Atemlose Spannung lag über der Halle. Orgrim wirkte plötzlich besorgt. Aber er fügte sich dem Befehl seines Herrschers. Gehorsam ging er vor Skanga auf die Knie. Sie legte ihm die Hände auf die Stirn. Ja, es war deutlich zu spüren, wessen Seele sich in diesem Körper regte.

»Ist es so, wie ich vermute?«

Alle in der Halle hielten den Atem an. Skanga beschloss, sich auf das Spiel des Königs einzulassen. Nach dem Gemetzel vor dem Tor konnte Branbart diesen pathetischen Augenblick gut gebrauchen, um sein Ansehen im Heer wiederherzustellen. »Ja, mein Gebieter, du hast Recht. Diese Seele begehrt dagegen auf, dein Krieger zu sein.«

Orgrim sah sie erschrocken an. Sie wusste genau, dass sie mit ihren Worten seine geheimsten Gedanken bloßgelegt hatte.

»Deine Taten haben dich verraten, Orgrim!«, rief der König mit Donnerstimme.

Skanga spürte, dass der junge Rudelführer sich nicht kampflos seinem Schicksal ergeben würde. Branbart sollte es lieber nicht zu weit treiben!

»Erhebe dich, Orgrim. Du bist erkannt!« Der König trat dem verblüfften Rudelführer mit offenen Armen entgegen. »Sei willkommen an meiner Seite, Herzog der Nachtzinne. Es ist gut, dich endlich wieder gefunden zu haben.«

Jubel erhob sich in der Halle. Der Herzog der Nachtzinne war der berühmteste unter den Feldherren der vergangenen Tage. Ein Held zahlreicher Legenden, auch wenn über ihm ein Schatten lag. Es hieß, ein Elfenkrieger verfolge ihn in unerbittlichem Hass. In seiner letzten Inkarnation war der Herzog in seinem Gemach inmitten seiner Festung ermordet worden. Aber das mochten auch Intrigen gewesen sein – hieß es ... »Beim Festmahl heute Nacht sollst du an meiner Seite sitzen«, erklärte Branbart jovial. Er hatte Orgrim einen Arm um die Schultern geschlungen, so als seien sie immer schon die besten Freunde gewesen. »Ich habe große Pläne mit dir, mein Feldherr.« Branbart hatte wieder die Stimme erhoben, sodass man ihn gut hören konnte. »Nun, da der Königsstein fast gewonnen ist, werden wir Rache üben an allen, die unseren Todfeinden geholfen haben! Du sollst zu den Menschlingen gehen, Orgrim. Morgen schon wird Skanga dich zur Nachtzinne bringen. Und dann wirst du ins Fjordland ziehen und jede Hütte der Menschen verbrennen, die dir unter die Augen kommt. Sie sollen lernen, was es heißt, uns Trolle herauszufordern!«

Branbarts Ankündigung eines neuen Feldzugs wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Orgrim wirkte unendlich erleichtert und zugleich ein wenig fassungslos. »Darf ich heute Nacht noch meine Truppen zusammenstellen?«

»Sicher, Herzog. Sicher!« Branbart klopfte ihm auf die Schulter. »Nach dem Fest wird Zeit genug sein. Du sollst deine zwanzig besten Krieger mit dir nehmen. Unter den Leibwächtern der Weibchen in der Felsenburg wirst du leicht noch weitere Kämpfer finden, die froh sind, mit dir in die Schlacht zu ziehen. Dann gehst du über die Berge und wirst von Norden her im Fjordland einfallen. Meinen guten Freund Dumgar schicke ich mit fünfhundert Kriegern von Süden. Er wird die Königsstadt verbrennen und den Fjord hinaufmarschieren, um sich mit deinen Truppen zu vereinigen. Sei ihm ein guter Berater. Er ist manchmal etwas unbedarft.« Orgrim sah Branbart fassungslos an. »Ich bekomme zwanzig Krieger? Und ich führe nicht das Kommando, sondern soll Dumgar beraten?«

Der König nickte lächelnd. »Ja, so soll es sein. Ohne einen fähigen Kopf wie dich an seiner Seite wäre Dumgar sicher rettungslos verloren. Du bist mein bester Feldherr. Ich vertraue darauf, dass eure gemeinsamen Siege genauso strahlend sein werden wie der heutige Tag.«

Skanga zog sich zurück. Branbart hatte sie verblüfft. Er hatte sich dem Unvermeidlichen gefügt. Orgrim war an seinem Ziel. Endlich war er Herzog. Und zugleich war er auf eine Weise gestraft, dass es ihn wohl kaum schlimmer hätte treffen können. Sollte Dumgar Erfolg haben, dann würde der Herzog vom Mordstein allein allen Ruhm ernten. Wurde er aber besiegt, dann würde Branbart Orgrim dafür verantwortlich machen. Skanga ging den Eisschiffen entgegen. Dort irgendwo würde sie sich einen ruhigen Platz suchen und schlafen.

Schwer stützte sie sich auf ihren Stab. Nach einem Sieg spürte sie die Last der Jahrhunderte stets besonders deutlich. Es war lange her, dass sie gut gelaunt zu Siegesfeiern gegangen war. Sie zog sich stattdessen zurück. Sollten diese Welpen ruhig feiern, die nicht wussten, was es hieß, dem Atem der Zeit standzuhalten. Die es nie wissen würden ...

Die Schamanin stutzte. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen erzittern. Ganz leicht nur. Da war etwas, tief im Berg.

Shahondin hatte dorthin keinen Weg finden können. Die Normirga waren berühmt für ihre Zauberer. Aber nicht ein Zauberweber hatte in der Schlacht gekämpft, dachte Skanga beunruhigt. Wo steckten sie? Was geschah tief im Innern des Berges? Sie straffte sich. Diese Schlacht war noch nicht gewonnen. Vielleicht wollten die Elfen, dass sie in den Berg kamen?

Wieder spürte sie das leichte Beben. Sie musste herausfinden, was dort in der Tiefe geschah!

Von vergessenen Helden

... »Gebaut für Jahrhunderte, verloren in Tagen.« So sprechen heute viele von Phylangan. Doch es sind meist stolze, noch junge Krieger, die nicht dort waren in jenen Tagen des Untergangs. Sie ahnen nichts vom einsamen Mut jener, die sich mit all ihrer Kraft gegen das Unabwendbare stemmten.

Unvergessen bleibt Ollowain, der Wächter der Shalyn Falah. Er war stets dort, wo man das Lied der Klingen sang. Seine kühlen Scherze gaben jenen Kraft, die scheinbar endlos Wacht hielten. Doch wie viele andere gab es, deren Namen heute niemand mehr im Munde führt! Da war Gondoran, jener Holde, der Herr der Wasser aus dem fernen Vahan Calyd, ein Freund des Fürsten Orimedes, der einen einsamen Kampf in der Dunkelheit focht und selbst dann noch unerkannt blieb, als er dem Steinernen Garten einen letzten Sieg schenkte.

Vergessen jener Menschensohn von edlem Geblüt und übler Zunge, der mit seinen Männern Tunnel einriss und Gänge mit Steinen verfüllte, um den Trollen den Weg zum Himmelshafen zu verwehren. Selbst wenn sie vor Müdigkeit kaum noch die Hacken heben konnten, zögerte keiner der Menschensöhne, in die Schlacht zu ziehen, wenn der übermächtige Feind auf ein Neues durchgebrochen war. Nie wird man erfahren, woher sie diesen Mut nahmen, bestand doch der Lohn, den sie zu erwarten hatten, aus den Narben, die sie auf ihren sterblichen Leibern trugen.

Vier große goldene Tore gab es in dem weiten Tunnel, der jenseits der Himmelshalle zum verbliebenen Hafen führte. Man hatte ihn so gebaut, dass mit umgelegten Masten selbst die größten Eissegler quer durch den Berg von einem Hafen zum anderen gelangen konnten. Nach jenen Toren heißen heute die letzten Schlachten, die in Phylangan geschlagen wurden. Es waren das Tor der Gärten, das zur Himmelshalle führte, das Lilientor bei der Nekropole, in der jene, die den Weg ins Mondlicht verfehlt hatten, in Eis eingeschlossen ruhten, das Alte Tor, nahe dem Fürstenpalast Landorans, und das Himmelstor, das letzte Bollwerk vor dem verbliebenen Hafen. Einen Tag brauchten die Trolle für jedes der Tore, um es mit Rammböcken und Äxten zu zerstören. Und wenn ihnen das gelang, erwartete sie ein Weg, auf dem sie für jeden Schritt mit Blut bezahlten.

Verzweifelt kämpften die Verteidiger von rasch errichteten Barrikaden aus oder schlüpften durch enge Tunnel, um durch verborgene Ausfallpforten überraschend in den Flanken der Angreifer aufzutauchen. Sie ließen brennende Eisseglerrümpfe den abschüssigen Tunnel hinabgleiten und trieben den Trollen mit manngroßen Blasebälgen, die man aus den Essen der Schmiedehallen geholt hatte, Flammen und Rauch entgegen. Zweiundzwanzig Tage kämpften jene, denen man höchstens eine Woche gegeben hatte. Dann zerschmetterten die Trolle das Himmelstor.

Eine Reiterattacke, geführt von Orimedes und seinen Kentauren, warf die überraschten Feinde noch einmal zurück Doch jeder wusste, dass nun die Zeit gekommen war, den Steinernen Garten zu verlassen. Und die Überlebenden losten aus, wer zurückbleiben sollte, um den Flüchtenden noch ein paar Stunden zu erkaufen.

Ein weißer Stein bedeutete einen Platz auf den letzten Eisseglern, die die Festung verließen. Ein schwarzer Stein verhieß den Tod....

Aus: Der Blick des Falken, s.912,

Die Lebenserinnerungen

von Fenryl, Graf von Rosenberg

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