Orgrim spähte in den Dunst. Er hörte das Rumoren der Gletscher. Große Eisbrocken trieben am Rumpf vorbei. Sie waren tief in die Walbucht vorgestoßen, doch seine Karten waren ungenau. Er konnte nicht bestimmen, wo sie sich befanden.
Nicht mehr lange, und die Morgensonne würde die Nebelschleier zerreißen. Sie waren der Küste sehr nahe. Die Geisterwind machte nur langsame Fahrt. Die halbe Nacht hindurch hatte er dem Lied der Gletscher gelauscht. Dem dumpfen Getöse, mit dem sich Eisbrocken lösten und ins Wasser stürzten. Keiner an Bord hatte in dieser Nacht ein Auge zugetan. Alle seine Krieger und Seeleute hatten irgendeinen Grund gefunden, sich an Deck aufzuhalten. Und dieses eine Mal hatte er es ihnen durchgehen lassen. Ging es ihm doch selbst nicht anders als ihnen. Ganz nahe, jenseits des Nebels, lag das Land, aus dem sein Volk seit mehr als siebenhundert Jahren vertrieben war. Mandrag war der Einzige an Bord, der ihre Heimat schon einmal gesehen hatte. Selbst Birga, die Schamanin, war in der Welt der Menschen geboren worden. Und nun waren sie die Ersten, die heimkehrten! Branbart hatte ihn mit dieser Aufgabe bestrafen wollen, doch alle an Bord der Geisterwind sahen sich als Auserwählte. Sie würden die Ersten sein, die von den Normirga aßen! Orgrim war sich sicher, dass er den Elfen einige empfindliche Schlappen beibringen konnte, wenn sich Branbart nur nicht zu lange mit der Eroberung Reilimees aufhielt.
Laute Rufe schreckten den Rudelführer aus seinen Tagträumen. Neben dem Rumpf der Geisterwind zerteilten große schwarze Finnen das graue Wasser. Mörderwale! Es waren Jäger, so wie sie. Räuber, die selbst einen Troll mit einem einzigen Biss zu töten vermochten. Mit ihrer schwarzweißen Zeichnung waren sie schön anzuschauen. Sie gaben der Galeasse ein Ehrengeleit. Das war ein gutes Omen! Er blickte hinüber zu Birga, die sich wie stets etwas abseits hielt. Die Schamanin stützte sich schwer auf ihren Knochenstab. Sie schien auf seinen Blick gewartet zu haben und nickte, als wüsste sie schon, was er fragen wollte.
»Ein gutes Zeichen! Die Geister unserer Ahnen erwarten uns.« Birga hatte eine rauchige, angenehme Stimme. Wie Skanga ging sie leicht gebeugt. Orgrim wusste nicht, wie alt die Schamanin war, doch musste sie viel jünger als ihre Ziehmeisterin sein. Im ganzen Volk der Trolle gab es nur eine Hand voll, die so alt wie Mandrag waren. Es geschah nur selten, dass jemand mehr als hundert Winter überlebte. Und niemand war wie Skanga. Von ihr flüsterte man, sie sei alt wie die Zeit und eines der ersten Geschöpfe der Alben.
Birga trug ein Gewand aus einander überlappenden Leder- und Fellstreifen. Sie hatte hunderte davon zu einem Kleid vernäht. Jeder Streifen stammte von einem anderen Tier. Manche waren auch aus Troll- oder Menschenhaut. Die Schamanin hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen. Ihre Hände waren unter schmutzigen Bandagen verborgen. Und ihr Antlitz versteckte sich hinter der Gesichtshaut eines der früheren Lieblingsweiber des Königs. Birga hatte sie der Hure abgezogen, weil sie versucht hatte, Branbart einen Bastard unterzuschieben.
Die Schamanin, die sich ganz in Häute kleidete, zeigte nicht das kleinste Stück ihrer eigenen Haut. Unzählige Gerüchte machten über sie die Runde. Es hieß, sie habe ein dichtes Fell wie ein Hund, Schuppen wie ein Fisch, oder sie sei von Kopf bis Fuß mit Zauberrunen tätowiert, die ihr erlaubten, Gedanken zu lesen, solange sie die Runen vor allen Blicken verbergen konnte. Orgrim wusste mit Sicherheit, dass er nicht versuchen würde, dem Geheimnis der Schamanin auf den Grund zu gehen. Sie hatte etwas an sich, das ihn frieren ließ, wenn er in ihre kalten, grauen Augen blickte. Es bereitete Birga Freude, andere zu quälen. Und sie hatte eine ganz besondere Art, jeden zum Sprechen zu bringen ... Auch die Hure des Königs hatte zum Schluss alles erzählt.
»Dort!«, schrie ein Ausguck und deutete nach Westen. »Ich sehe Berge!«
Der Rudelfiihrer wandte sich abrupt um. Die Nebelschleier zerrissen. Für einen Augenblick waren sie wie von Zauberhand hinweggefegt. Orgrim sah einen weißblauen Gletscher, der auf breiter Front in die Walbucht drängte. Das Eis war von tiefen Riefen durchzogen. Dunkle, waagerecht verlaufende Bänder gliederten die steil aufragende Eiswand. Sie mochte achtzig oder neunzig Schritt in die Höhe reichen und verlor sich auf beiden Seiten im Nebel.
Noch während Orgrim zusah, löste sich ein turmgroßes Eisstück aus dem Gletscher und stürzte mit Getöse in die See. Die Geisterwind hob und senkte sich. Einige Mann stürzten nieder und rollten über die Planken. Das Schiff schlingerte gefährlich, Brecher schlugen auf das Deck. Orgrim wurde klar, wie leichtfertig es gewesen war, so dicht unter der Küste zu segeln. Ein kalbender Gletscher könnte ihr Schiff zum Kentern bringen. Er gab dem Steuermann ein Zeichen, mehr Abstand zu der Eisfront zu halten.
»Das ist die Drachenzunge«, murmelte Mandrag halblaut. Dann deutete er in den Nebel. »Dort vorne muss der Knochenfelsen liegen. An seinem Fuß gab es früher ein Dorf. Die Hütten waren aus Walkiefern gebaut. Von dort aus bin ich mit meinem Vater im Winter aufs Eis hinausgegangen, um Eisbären zu jagen. Man hat sie in der Nähe der Atemlöcher gefunden, dort, wo die Robben zum Luftholen auftauchen. Das Eis war rot von Blut, wo ein Bär erfolgreich gejagt hatte. Und die Robben hatten keine Wahl, als dort hervorzukommen. Selbst wenn sie wussten, dass ein Räuber auf sie wartete. Sie wären sonst unter dem Eis erstickt.« Dem Alten standen Tränen in den Augen. »Frisches Bärenfleisch schmeckt köstlich.« Ein großer, grauer Berg erschien im Dunst. Er ragte weit in die Bucht hinaus. Auf seiner Leeseite lag ein guter Ankerplatz. Die Geisterwind wäre dort vor den Winterstürmen geschützt.
»Sollen wir hier unser Lager errichten?«, fragte der Rudelfiihrer.
Mandrag kaute eine Weile nachdenklich auf seiner Lippe. Endlich schüttelte er den Kopf. »Nein. Wir sollten noch ein ganzes Stück nach Norden segeln. Dort gibt es breite Kiesstrände. Wir müssen die Geisterwind für den Winter auf den Strand ziehen. Sie kann nicht im Wasser bleiben. Das Eis würde den Schiffsrumpf zerdrücken. Mein Vater hat mir einmal von einem Elfenschiff erzählt, dem es so ergangen war. Sie stellen im Winter ihre Schiffe auf wuchtige Kufen. Damit können sie schnell wie der Wind auf dem Eis dahinjagen.« Orgrim überlegte, ob es Sinn machte, die Geisterwind auf Kufen zu stellen. Vielleicht, wenn man das Schiff hinauf zu den Hochplateaus brachte. Aber man würde hunderte Trolle brauchen, um die Galeasse über das Küstengebirge zu transportieren. Vielleicht sollte er mit Boltan einmal darüber reden. Der Geschützmeister war ein steter Quell ungewöhnlicher Ideen. Er hatte auch die Lastschlitten ersonnen, die fest verzurrt im Laderaum der Galeasse auf ihren ersten Einsatz warteten. Mit ihrer Hilfe würden sie den Elfen eine tödliche Überraschung bereiten.
»Bring das Schiff noch etwa fünfzig Meilen die Küste hinauf«, riet Mandrag. »Wir sollten unser Lager nahe dem Eingang zum Swelm-Tal errichten. Von dort ist es nur ein Tagesmarsch zur Wolfsgrube. Früher war das nur eine kleine Bergfestung. Ich glaube nicht, dass dort sehr viele Elfen leben. Mit etwas Glück können wir sie überrumpeln.«
Orgrim ließ seinen Blick über die Küstenlinie wandern, die sich immer deutlicher im Nebel abzeichnete. Es war eine wunderbar wilde Felslandschaft. Die ferne Heimat, die seit Generationen nur noch in Erzählungen weitergelebt hatte. Eine frische Brise kam von See und vertrieb die letzten Nebelbänke. Der Rudelführer strich sich über seine nackten Oberarme. Er liebte es, den Biss des Windes auf seiner Haut zu spüren.
Jetzt war die Farbe der Felsen deutlich im hellen Morgenlicht zu erkennen. Sie waren vom gleichen Grau wie seine Haut. Schmunzelnd erinnerte er sich an eine Geschichte aus seiner Kinderzeit. Darin hieß es, der rebellischste unter den Alben, der größte Held aus dem Krieg gegen die Devanthar, habe die ersten Trolle aus dem Felsen dieser Berge geschlagen und ihnen Leben eingehaucht.
Orgrim strich über seine raue Haut. Die Geschichte war leicht zu glauben, wenn man diese Küste sah. Sie waren nach Hause zurückgekehrt!