Vahelmin ist dein Name!

Gundars Atem ging pfeifend. Sein Herz schien ihm aus der Brust springen zu wollen. Er war ein alter Mann! Er konnte das nicht! Zwei Tage lang hatte sie dieser verdammte Sturm auf dem Wehrberghof festgehalten. Zwei Tage neben den Leichen! Und zwei Tage, in denen ihn dieser Traum heimgesucht hatte, sobald er nur die Augen schloss ... Dann sah er Firnstayn, so als fliege er wie ein Vogel darüber hinweg. Und er landete auf dem Giebel des Langhauses. Das Haus des Jarls! Hinter den Bergen war gerade erst die Sonne versunken. Zwischen den Holzschindeln des Daches kroch eine Spinne hervor. Sie wuchs und wuchs ... Und sie sprach zu ihm: »Vahelmin ist dein Name! Das musst du ihm sagen. Und dass er dein Licht rauben muss, wenn er wieder sein will, was er einst war. Vahelmin ist dein Name! Vergiss das nicht. Und komm nicht zu spät!« Gundar blinzelte sich den Schnee aus den Augen. Er lief an seiner Hütte vorbei. Was hatte Luth ihm nur für eine Last aufgebürdet! Er war ein alter Mann und kein Krieger!

Und dann war da noch der zweite Traum. Er hatte Ulric im Schnee zurückgelassen. Du musst es tun, hatte eine Stimme in seinem Kopf geflüstert. Das Leben des Jungen ist verwirkt. Du musst es tun!

Dieser Albtraum war nun Wirklichkeit geworden. Ulric war gestolpert. Es war auf dem letzten Stück des Passweges geschehen. Der Junge hatte sich den Fuß verstaucht. Er hatte nicht weitergehen können. Gundar hatte gebettelt und gefleht, und Ulric hatte es tapfer versucht, aber er hatte nicht mehr laufen können. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der alte Priester ein Kind angeschrien. Er hätte Ulric doch nicht zurücklassen können! Dunkle Wolken waren über den Bergen im Norden gestanden. Der nächste Sturm war heraufgezogen. Zwei Stunden waren es noch bis Firnstayn gewesen. Und zwei weitere Stunden zurück, wenn er sofort Hilfe geschickt hätte. Zu lange, um ein Kind mitten auf einem verschneiten Hang zurückzulassen. Schon vor Sonnenaufgang hatten sie den Wehrberghof verlassen. Und sie waren so schnell gegangen, wie sie nur konnten. Ulric war unter seinem Mantel genauso verschwitzt gewesen wie Gundar. Den Jungen mitten im Schneefeld im Stich zu lassen, wo er vier Stunden still sitzen würde ... Das hätte geheißen, ihn dem sicheren Frosttod auszuliefern.

Nun presste Gundar Ulric dicht an sich. Der alte Priester taumelte. Nur die Wut, dieses Schicksal nicht anzunehmen, trieb ihn noch vorwärts. Er schloss die Augen und stapfte einfach nur weiter. Jetzt musste er nur noch den Hügel hinauf. Fünfzig Schritt. Der Junge war leicht. Viel leichter als das Geschenk Luths, das sie aus der Felsspalte gezogen hatten. Diese Gabe schnürte ihm die Luft ab. Alles tat ihm weh. Sein Atem war nur noch ein verzweifeltes Japsen wie bei einem Jagdhund, der seine Beute bis ans Ende seiner Kräfte verfolgt hatte. Gundar musste lächeln. Es gefiel ihm, sich vorzustellen, der Jagdhund Luths zu sein. Aber ein Jagdhund am Ende seiner Kräfte ... Was hatte die Stimme im Traum gesagt?

»Vahelmin ist dein Name.«

»Was ist?«, fragte Ulric. »Von wem redest du?«

Gundar lehnte mit dem Kopf an der Tür zum Langhaus. Er war den Hügel hinauf! Er konnte sich nicht erinnern, wie er den Weg hinaufgekommen war. Keuchend setzte er den Jungen ab.

»Von wem redest du?« Ulric stützte sich an der Wand ab. Schnee klebte in großen, weißen Pocken auf dem Holz.

Gundar wollte erleichtert aufatmen, doch eine eiserne Klammer umschloss sein Herz. Das Göttergeschenk erdrückte ihn! Er durfte nicht aufgeben.

»Bitte, Luth!«, stieß er hervor. »Bitte, gib mir Kraft!« Gundar drückte die Tür auf. Stickige Wärme und der Geruch eines Feuers aus Buchenholz schlugen ihm entgegen. Er schob den schweren Vorhang der Stiefelkammer zur Seite und strauchelte fast. Seine Finger krallten sich in den groben Stoff Da war es! Das Untier! Es stand dicht vor Asla. Die Hausherrin hatte eine Holzkelle erhoben und wollte auf die Geistgestalt einschlagen.

»Vahelmin ist dein Name!«, krächzte Gundar.

Die Schreckenskreatur drehte sich um. Ihr Kopf sah wirklich ein wenig wie ein Wolfskopf aus. Einen Lidschlag lang sah ihn das Ungeheuer an, und Gundar erschauderte unter dem Blick bis ins Mark. Dies war die Gestalt gewordene Finsternis. Das Böse!

Das Wolfspferd wandte sich wieder ab. Es schnappte nach Aslas Bauch! »Vahelmin ist dein Name!« Der Vorhang glitt durch Gundars Finger. Er brach in die Knie. »Mein Licht musst du rauben, wenn du wieder sein willst, was du einst warst. Erinnere dich! Vahelmin ist dein Name!«, keuchte der Priester mit seinem letzten Atem.

Ulric drängte an ihm vorbei. Er hielt den Elfendolch mit beiden Händen umklammert und humpelte in die Stube. Das Wolfspferd drehte sich um. Mit einem Satz durchmaß es den Raum. Sein Leib glitt durch den Jungen hindurch, der zu Boden stürzte. Gundar breitete die Arme aus. Er blickte in den weit klaffenden Kiefer der Bestie. Dolchlange Zähne fuhren in seine Brust. Das eiserne Band um sein Herz zersprang. Kälte durchdrang ihn. Seine Barthaare knisterten. Blaues Licht umgab ihn. Ein seltsamer Geruch, wie nach einem Gewitter, war in der Luft. Das blaue Licht war jetzt verschwunden. Der Geist auch.

Gundar blickte zur Decke der Stiefelkammer. Er musste nach hinten gestürzt sein, aber er konnte sich nicht erinnern, wie er auf den Boden geschlagen war.

Aslas Gesicht schob sich über ihn. Sie war wirklich eine schöne Frau ... Der Priester fühlte keine Erschöpfung mehr. Jetzt war auch die Elfe bei ihm. Wenn er ja ein wenig jünger wäre ... Sie öffnete sein Wams! Jemand schob ihm eine Decke unter den Nacken. Sein Kopf kippte nach hinten. Jetzt konnte er die Elfe nicht mehr sehen. Nein ... plötzlich war sie wieder über ihm. Ihre Lippen berührten einander. Das hätte er sich niemals träumen lassen, von einer Elfe geküsst zu werden! Sie wollte sich sicher dafür bedanken, dass er ihre Königin gerettet hatte. Das verfluchte Wolfspferd hätte sicher alle im Langhaus umgebracht.

»Was ist denn das?« Das war Aslas Stimme, dachte Gundar.

»Er hat ein rostiges Kettenhemd an. Los, hilf mir, Erek. Wir müssen es ausziehen.« Die Elfe beugte sich wieder dicht über ihn hinab. Sie hielt eine Wange an seinen Mund. Dann richtete sie sich ein wenig auf und sah ihn mit ihren wunderbaren dunklen Augen an.

»Er atmet nicht mehr.« Die Elfe sprach die Worte in einem lieblichen Singsang. Gundar wollte schmunzeln, doch er war zu müde. Was für schöne Augen! Und die Pupillen. Schwarz wie Holzkohle. Sie schienen ihn aufsaugen zu wollen. Ja ... Es wurde schwarz. Fiel er? Nein. Da war ein Licht. Ein Langhaus, ganz aus Gold. Was für eine prächtige Halle! Die großen Flügeltore standen weit offen. Gundar hörte das fröhliche Lärmen einer Festgesellschaft. Und der Geruch von Braten stieg ihm in die Nase. Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er hatte viel zu lange schon nicht mehr vernünftig gegessen!

Es würde gut sein, an der Tafel Platz zu nehmen, zu essen und dann ein wenig auszuruhen.

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