Die Zuflucht

Blut bahnte ihnen einen Weg durch den tiefen Schnee. Vor einer Weile hatten sie Lichter auf dem Eis des Fjords gesehen und hielten sich deshalb wieder tiefer in den Wäldern verborgen. Ulric war sehr müde, aber er hatte sich fest vorgenommen, sich nicht zu beklagen. Schließlich hielt Halgard auch durch, obwohl das blinde Mädchen seit einer Weile bei jedem Schritt leise seufzte. Der Junge blickte zu der Elfe hinüber. Yilvina ging schweigend. Sie presste die linke Hand auf ihre Hüfte. Ihr notdürftiger Verband war blutdurchtränkt. Die Wunde hatte sich wieder geöffnet, obwohl schon so viele Tage vergangen waren, seit sie ins Lager der Trolle gekommen war, um ihn und Halgard zu holen.

Ulrics Magen knurrte. Sie hatten seit drei Tagen kaum etwas gegessen. Die Elfe hatte ein paar Nussverstecke von Eichhörnchen aufgestöbert, aber Nüsse allein machten nicht satt. Yilvina hatte sie tief in den Wald, weit fort vom Fjord geführt. Sie glaubte, dass dort niemand nach ihnen suchen würde.

Ulric kannte genug Geschichten über die Jagd. Er war sich sicher zu wissen, was die Elfe dachte. Sie war wie eine Wölfin, der ein Eber den Bauch zerfetzt hatte. Sie wusste, dass ihre Kraft mehr und mehr versiegte, und wollte nur noch ihre Jungen retten. Deshalb waren sie zum Fjord zurückgekehrt. Yilvina hoffte darauf, die Flüchtlinge wieder zu finden. Sie wollte ihn und Halgard in sicherer Obhut wissen. Und dann würde sie sich in den Wald zurückziehen, um zu sterben.

Kurz nach Sonnenuntergang waren die Lichter auf dem Fjord erschienen. Sie hatten die schattenhaften Gestalten auf dem Eis nicht genau erkennen können. Es mussten die Trolle sein! Sie zogen weiter nach Süden, um sich neue Opfer zu suchen.

Eigentlich hatte Ulric erwartet, dass Yilvina als Elfe selbst bei Nacht noch auf eine Meile Entfernung ein Perlhuhn von einem Schneehasen unterscheiden könnte. Aber die Elfe sagte, ihr sei so schwindelig, dass sie kaum ihre eigenen Füße sehen könne. Deshalb hatten sie entschieden, einen Bogen um die Gestalten auf dem Eis zu machen.

Wenn er nur nicht so müde wäre, dachte Ulric verzweifelt. Gut, dass Blut ihnen einen Weg in den tiefen Schnee pflügte. Ulric hätte nicht die Kraft dazu gehabt. Sobald er die Spur verließ, versank er bis über die Knie im Schnee. Er würde wahrscheinlich keine Meile weit kommen. Es war besser, sich auf die Kraft des Hundes zu verlassen.

Halgard hielt sich an Bluts Schwanz fest. Zuerst hatte Ulric sich Sorgen gemacht. Er wusste, dass Hunde es eigentlich nicht mochten, wenn man sie am Schwanz zog. Aber Blut hatte es über sich ergehen lassen. Vielleicht spürte er ja, dass Halgard keine andere Wahl hatte. Manchmal stützte sie sich sogar auf den Hund auf. Ohne ihn wäre ihre Flucht schon lange gescheitert.

Gestern hatten sie einen Hof gefunden, der niedergebrannt und ausgeplündert war. Ulric hatte gelernt, dass es keinen Unterschied machte, ob man zwischen vier Wänden ohne Dach übernachtete oder zwischen ein paar Felsen, die sie vor dem Wind schützten.

Der Junge blickte zu Yilvina. Man konnte sehen, wie sie die Zähne zusammenbiss. Sicher hatte sie große Schmerzen. Dunkles Blut sickerte durch ihren Verband. Alle paar Schritt fiel ein dicker, roter Tropfen in den Schnee. Aber bei der breiten Fährte, die der Hund legte, mussten sie sich darum nicht mehr scheren. Man musste kein geübter Fährtenleser sein, wenn man sie verfolgen wollte. Es genügte, Augen im Kopf zu haben. Selbst bei Nacht war die tiefe Furche im Schnee unübersehbar.

Yilvina blickte zurück. Sie stützte sich gegen einen schneeüberzogenen Birkenstamm und blinzelte. Wütend schüttelte sie den Kopf.

Der Junge stutzte. War da ein Geräusch? Ulric schaute sich die Augen aus dem Kopf, konnte aber nichts erkennen. Schon nach wenigen Schritt verschwammen die dicht an dicht stehenden Baumstämme mit der Nacht zu einer undurchdringlichen schwarzen Mauer. Knirschten da Schritte im Schnee? Oder war es nur ein Geräusch von Ästen? Wer sollte ihnen folgen?

Ulric dachte an den Kampf im Trolllager. Yilvina und Blut waren mitten in der Nacht erschienen. Die Elfe hatte nur ihn und Halgard holen wollen. All die anderen Gefangenen hatten sie nicht gekümmert. Das war nicht gerecht! Er hatte dagegen aufbegehrt. Dadurch erst waren andere aufmerksam geworden. In Dunkelheit und Kälte war jeder mit sich beschäftigt gewesen. Die meisten hatten geschlafen. Manche hatten steif dagelegen. Erfroren.

Ulric wusste jetzt, wie man die Toten von den Schlafenden unterschied. Bei den Toten blieb Schnee in der feinen Linie zwischen den Lippen liegen.

Als er verlangt hatte, dass die Elfe sie alle rettete, hatten die anderen Gefangenen sich um sie geschart und mitgenommen werden wollen. Und dann waren die Wächter gekommen. Zwei Trolle mit Steinäxten. Yilvina hatte weniger Zeit gebraucht, sie zu töten, als Mutter benötigte, um ein Huhn zu schlachten und auszunehmen. Ulric wünschte sich, dass er auch einmal so kämpfen könnte. Die Elfe bewegte sich schneller, als seine Augen ihr zu folgen vermochten.

Als die Trolle tot im Schnee gelegen hatten, hatte Yilvina ihn und Halgard gepackt. Unter den anderen Gefangenen war daraufhin ein Tumult ausgebrochen. Wer immer die Kraft gehabt hatte, noch ein paar Schritte zu gehen, hatte versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen und zu entkommen. Ein heilloses Durcheinander war entstanden. Weitere Wächter waren herbeigelaufen, doch irgendwie hatte es Yilvina geschafft, ihnen zu entgehen.

Sie hatten das Lager schon ein gutes Stück hinter sich gelassen, als plötzlich dieser Kerl aufgetaucht war. Ein Krieger, der selbst unter Trollen ein Riese war. Seinen nackten Bauch hatte er mit den Abdrücken blutiger Hände geschmückt. Er hatte eine frisch geschnittene Keule in der Hand gehabt und war aus einem Wald heraus geradewegs auf sie zugekommen.

Yilvina hatte sie beide in den Schnee fallen lassen und den Troll aus dem Lauf heraus angegriffen. Eine ihrer Klingen hatte ihn getroffen. Der verwundete Troll hatte wie ein brünstiger Elch geschrien und war in die Knie gebrochen, eine Hand aufs Gemächt gedrückt. Yilvina hatte sich gerade zurückziehen wollen, als der Troll sie mit einem Rückhandhieb getroffen hatte. Der Schlag war mit solcher Wucht geführt, dass sie einige Schritt weit durch die Luft geflogen und danach nur noch mit Mühe wieder auf die Beine gekommen war. Ihre Linke hatte sie in die Seite gekrallt. Ein dünner Faden Blut war ihr von der Nase getrieft und hatte ihre Lippen benetzt. Eines ihrer Schwerter war irgendwo im Schnee verloren gegangen. Sie hatte getaumelt und Ulric zugerufen, dass er und Halgard davonlaufen sollten. Doch er war kein Feigling!

Zum Glück war auch der Troll nicht mehr auf die Beine gekommen. Als Yilvina das gesehen hatte, war sie mit ihnen fortgegangen. Die Elfe hatte sie tief in die Wälder geführt. Etliche Tage waren seitdem vergangen, doch das Gesicht dieses einen Trolls verfolgte den Jungen immer noch in seinen Albträumen. Unbändiger Hass hatte in seinen Augen gestanden. Er würde ihnen folgen, sobald seine Wunden es zuließen.

Ulric schüttelte sich, als könne er damit die Gedanken an den Trollkrieger abstreifen. Besorgt sah er zu der Elfe. Sie sah aus wie Kadlins zerzauste Strohpuppe. Krumm, das Haar wirr ... Irgendwie zerbrochen. Immer öfter musste sie sich, um Atem ringend, an einen Baum lehnen. Yilvina würde nicht mehr weit kommen. Jemand musste ihr helfen. Auch Halgard war längst am Ende. Blut zog sie mehr, als dass sie noch aus eigener Kraft ging. Sie brauchten dringend einen Lagerplatz. Einen Ort, wo es trockenes Holz gab und an dem sie ein Feuer anzünden konnten. Aber man durfte das Licht des Feuers nicht sehen. Luth allein wusste, wer noch alles durch die Nacht schlich. Vielleicht waren ihnen ja doch einige Trolle auf der Spur.

Ulric versuchte sich zu erinnern, was sein Vater ihm über ein gutes Nachtlager erzählt hatte. Was man alles beachten musste. In dieser Kälte sollten sie ein Feuer im Schutz von Felsen entzünden. So würde die Wärme zurückgeworfen. Im Winter konnte man an einem Feuer sitzen und trotzdem den Frostbrand bekommen, wenn man den Lagerplatz nicht klug wählte.

Der Junge sah sich verzweifelt um. Sie tasteten sich einen sanft abfallenden Hang entlang. Irgendwo links von ihnen musste ein Seitenarm des Fjords liegen. Rings herum waren Bäume. Hier gab es keinen Platz für ein Lager. Aber Yilvina und Halgard würden nicht mehr weit kommen. Er musste einen Platz für die Nacht finden! Er musste!

Ulric rang mit Tränen. Was sollte er tun? Wenn er doch nur ein wenig größer wäre! Dann würde er Halgard auf die Arme nehmen und sie einfach tragen. Und Yilvina könnte er holen, sobald er einen Platz zum Übernachten gefunden hätte. In den Geschichten der Skalden war das immer alles viel einfacher, dachte er wütend. Da hatten die Helden nie Probleme, ihre Jungfrau zu tragen.

Ein leichtes Flimmern zwischen den Bäumen lenkte ihn ab. Blut blieb abrupt stehen. Goldenes Licht rann wie Harz aus einem großen Baum. Und plötzlich war dort eine vertraute Gestalt. Gundar! Der Priester lächelte, breitete die Arme aus und kam ihnen entgegen. Blut begrüßte ihn mit einem freundlichen Bellen. »Was ist das?«, fragte Halgard ängstlich. »Ich spüre ein Licht.«

Die Elfe trat neben die Kinder. Sie hielt ihr Schwert zum Angriff bereit.

»Das wirst du nicht brauchen, holde Maid. Du könntest mich nicht verletzen, aber das musst du auch nicht.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, ging der Priester durch einen Baum hindurch.

»Bist du ein Geist?«, fragte Ulric misstrauisch und legte einen Arm beschützend um Halgard.

»Zunächst einmal bin ich euer Freund. Und du kannst mir glauben, Junge, ich habe dich nicht den weiten Weg vom Hang hinab bis zum Haus deiner Mutter getragen, um nun mitzuerleben, wie du erfrierst.« Gundar blieb in einigen Schritten Abstand stehen.

Ulric fühlte, wie ihm ein dicker Kloß in den Hals stieg. »Du bist meinetwegen gestorben, nicht wahr?« Er biss sich auf die Lippen, um seine Tränen zu unterdrücken.

»Nein.« Gundar schüttelte gutmütig den Kopf. »Ich bin gestorben, weil Luth meinen Lebensfaden zu Ende gesponnen hatte. Du hast keine Schuld. Es war die Entscheidung des Schicksalswebers.« Er zwinkerte mit den Augen. »Man spricht bestimmt noch oft von mir, nicht wahr?« Ulric nickte.

»Ich hatte einen guten Tod«, erklärte der Alte. Dann sah er an ihnen vorbei den Hang hinauf. »Eure Lebensfäden sind aus dem Webmuster geraten. Luth hat mir gestattet zurückzukehren, um das Bild, das er spinnt, zu retten. Ihr werdet verfolgt. Ein schrecklicher Feind hat eure Spur aufgenommen. Es gibt nur einen einzigen Ort, an dem er euch nicht töten kann.«

»Ich beschütze die Kinder«, stieß Yilvina hervor.

Gundar sah sie traurig an. »Ich muss dir nicht sagen, wie es um dich steht, Elfenmaid. Vertrau mir. Schließlich habe ich auch dich gerettet, als ich mich dem Geisterwolf stellte.«

»Ich werde mit dir gehen«, sagte Halgard leise. »Ich ... Ich kann dich sehen.« Das blinde Mädchen blickte unverwandt in die Richtung, in der die Erscheinung des Priesters zwischen den Bäumen leuchtete.

»Ich komme auch mit«, entschied Ulric. Er machte sich große Sorgen um Halgard. Seine Freundin zitterte vor Erschöpfung. Er drückte sie fest an sich. »Müssen wir weit gehen?«

»Nur zum Fjord hinab. Kommt jetzt.«

Yüvina schien noch immer misstrauisch zu sein, aber Ulric wusste, dass es richtig war, dem Priester zu folgen. Er kannte Gundar sein ganzes Leben lang, und der alte Mann war immer gut zu ihm gewesen. Ihm konnte man immer trauen, sogar als Geist.

Gundar führte sie ein Stück weit den Hang entlang, bis zu einem breiten Windbruch. Dort lagen dutzende Bäume, gefällt wie Soldaten in der Schlacht. Manche waren mitten entzwei gebrochen, andere samt ihrem Wurzelwerk aus dem Boden gerissen. Sie lagen kreuz und quer durcheinander und bildeten ein unpassierbares Dickicht aus totem Holz. Unter einem Stamm glänzten zwei Augen wie polierte Goldstücke. Ein leises Knurren erklang, doch eine Geste des Priesters genügte, und was immer dort unter dem Stamm lauerte, schwieg.

Ulric tastete nach seinem Gürtel. Er wünschte, er hätte den Elfendolch noch! Endlich erreichten sie das Ufer des Fjords. Selbst hier lagen noch umgestürzte Bäume. Sie waren ins Eis eingeschlossen. Gundar glitt durch einen Stamm hindurch. Ulric musste sich bücken, um ihm zu folgen. Für Halgard war es eine Qual. Sie verfing sich mit ihrem Haar im Wurzelwerk, und es dauerte eine Ewigkeit, bis Ulric sie wieder befreit hatte.

Etwas rollte den Hang hinab. Steine und Schnee schlugen hinter ihnen auf das Eis.

»Schnell jetzt!«, drängte Gundar. »Sonst war alles vergebens. Es ist nicht mehr weit!« Dicht hinter dem Windbruch endete der Seitenarm des Fjords vor einer steilen Felswand. Das Eis knackte hier bedrohlich unter ihren Füßen.

»Halt!«, rief Yilvina. »Es wird uns nicht tragen. Unter dem Wasser muss eine Quelle in den Fjord münden. Die Strömung verhindert, dass das Eis hier dick genug wird. Wenn wir weitergehen, wird es brechen. Was sollen wir hier, Priester?«

Blut legte den Kopf schief. Der große Hund blickte verwirrt zwischen Gundar und der Elfe hin und her. »Genau das will ich«, sagte der Priester ernst. »Ihr sollt durch das Eis brechen.« Er deutete in Richtung der Steilwand. »Dort liegt eine Höhle. Ihr Eingang ist hinter einem Felsvorsprung unter Wasser verborgen. Dies ist der einzige Weg in die Höhle. Dort werdet ihr überleben. Niemand kennt diesen Ort.«

»Überleben? Ins kalte Wasser zu stürzen kann einen binnen eines Herzschlags töten, Priester.« Yilvina hatte wieder drohend ihr Schwert erhoben. »Bist du noch bei Sinnen? Du sagst, du liebst den Jungen? Wie kannst du ihn in solche Gefahr bringen?«

»Ich kenne den Lauf eurer Schicksalsfäden. Das Wasser wird euch nicht töten. In der Höhle liegt etwas angeschwemmtes Treibholz. Genug, um an einem Feuer die Kleider zu trocknen. Der Rauch kann durch einen engen Felskamin abziehen. Dort unten seid ihr gut geschützt. Bleibt hier draußen, und ihr werdet entweder von eurem Verfolger getötet, oder die Kälte bringt euch um.«

»Ich vertraue Gundar.« Ulric wurde bei dem Gedanken an das eisige Wasser ganz mulmig.

»Und ich komme mit dir, wohin auch immer du gehst«, sagte Halgard und griff nach seiner Hand. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an.

Ulric zögerte. Mit seiner Freundin an der Seite war es plötzlich etwas ganz anderes, auf das dünne Eis hinauszugehen.

»Und das kalte Wasser wird uns allen nichts anhaben?«, fragte er zweifelnd.

»Nein. Aber ihr müsst in der Höhle warten, bis sie euch finden.«

»Ich denke, niemand kennt diesen Ort«, warf Yilvina ein.

»Wie soll man uns dann finden?«

»Ich darf euch nichts über eure Zukunft verraten«, entgegnete Gundar. Seine Stimme klang jetzt sehr müde. »Das ist eines der ehernen Gesetze des Schicksalswebers. Ich habe euch schon viel zu viel gesagt.« Ulric machte einen Schritt nach vorn. Es knackte bedrohlich. Er sah, wie sich ein Netz dünner Risse durch die Eiskruste fraß. Er atmete tief ein. Ulric erinnerte sich, wie sein Vater ihm einmal eine ordentliche Tracht Prügel mit einem Lederriemen verpasst hatte, weil er ein goldgefasstes Trinkhorn in die Glut der Feuerstelle geworfen hatte. Er wünschte sich, es wäre noch einmal dieser Nachmittag in der warmen Halle ihres Hauses. Alles wäre besser, als hier zu sein. Einen Herzschlag lang schloss er die Augen. Wenn er es sich genug wünschte, dann wäre alles vielleicht nicht geschehen. Er würde auf dem schoss seines Vaters liegen und seine wohl verdiente Tracht Prügel bekommen.

»Ulric«, erklang die freundliche Stimme des Priesters. Gundar sah ihn traurig unter seinen buschigen Augenbrauen hinweg an. »Es muss sein.«

Der Junge atmete noch einmal tief ein. Dann machte er einen entschlossenen Schritt nach vorn. Halgard hielt sich eng an ihn geklammert.

Das Geräusch des berstenden Eises wurde drohender. Alles in Ulric sträubte sich gegen den nächsten Schritt. »Tu es nicht«, flüsterte die Elfe.

Er setzte einen Fuß vor. Trotzig trat er auf das Eis. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Wasser stieg durch die Spalten auf die Eisfläche. Plötzlich gab es ein lautes Krachen, wie von splitterndem Holz. Mit einem Ruck wurde Ulric von den Füßen gerissen. Halgard stieß einen spitzen Schrei aus. Blut kläffte wie verrückt.

Eisige Kälte griff nach dem Jungen. Jetzt schrie auch er. Seine schweren Winterkleider sogen sich voll Wasser. Wie von einer unsichtbaren Hand wurde er tiefer gezogen. Er machte keinen Versuch, sich am gezackten Rand des Eislochs festzuhalten. Etwas Scharfkantiges stieß hart gegen seine Wange. Ulric hielt mit Mühe den Kopf über Wasser. Sein Blick suchte den Priester, doch Gundar war verschwunden.

Yilvina hatte sich flach auf das Eis geworfen und versuchte ihn mit ausgestrecktem Arm zu erreichen. Halgard klammerte sich an ihn. Ulrics Füße strampelten haltlos. Dann versank er. Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Er hielt die Luft an. Blinzelnd öffnete er die Augen. Er fühlte sich steif wie ein gefrorener Salm. Halgard hielt sich mit beiden Händen an seinen Arm geklammert. Wo war Gundar? Etwas Dunkles glitt neben ihnen durch das Wasser. Blut! Er war ihnen gefolgt. Ulric streckte die Hand nach dem großen Hund aus, fand in dem nassen Fell aber keinen Halt. Plötzlich erstrahlte vor ihnen ein helles Licht. Gundar war wieder da! Du musst dich an Ulrics Gürtel festhalten, Halgard, damit er die Arme bewegen kann. Gundars Stimme war in seinem Kopf. Halgard hatte sie wohl auch gehört! Sie folgte den Worten des Priesters.

Rudere mit den Armen, Junge, und komm her zu mir.

Ulric war längst ganz steif vor Kälte. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihm aus. Er wollte atmen. Tu das nicht. Komm jetzt herüber zu mir. Du kannst das!

Ulric bewegte die Arme. Langsam, Zoll für Zoll, trieb er dem Priester entgegen. Halgard wand sich. Brannte auch in ihr dieses Feuer?

Schneller, Ulric.

Neben dem Priester klaffte ein dunkles Loch in der Felswand. Der Junge hielt darauf zu. Doch das Wasser um ihn schien fester zu werden. Seine Arme erlahmten. Er kam kaum noch voran. Das Feuer breitete sich in ihm aus. Er musste Luft holen! Das kalte Wasser würde die Flammen ersticken.

Ein Stoß traf ihn in den Rücken. Etwas schob ihn voran. Blut! Ulrics Kopf brach durch die Wasseroberfläche. Keuchend rang er um Atem. Die Luft milderte den Brand in seinen Lungen und ließ ihn langsam ganz verlöschen.

Gundar erschien. Das Licht, das den Priester umspielte, vertrieb die Finsternis. Glatter Felsboden erhob sich sanft ansteigend aus dem Wasser. Treibholz, bleich wie Knochen, lag dort.

Keuchend und unbeholfen mit den Armen rudernd, paddelte Ulric vorwärts. Halgards Zähne klapperten so sehr, dass sie nicht sprechen konnte. Ihre Lippen waren dunkel vor Kälte.

Mit letzter Kraft zog sich Ulric aus dem Wasser. Blut packte Halgards Mantel und half, sie hinauf ins Trockene zu zerren.

»Du musst das Treibholz zusammenschieben«, sagte der Priester. Jetzt war seine Stimme nicht mehr in Ulrics Kopf. »Beeile dich, Junge. Ich kann nicht mehr lange bleiben, um dir zu helfen. Und dann müsst ihr schnell eure Kleider ausziehen, sonst wird das Feuer euch nicht wärmen.«

Schlotternd vor Kälte packte Ulric einige Äste und schichtete sie übereinander. Es war nicht besonders viel Holz, das in der Höhle lag.

Gundar streckte seine Hand nach dem Holzstoß aus. Er schloss die Augen. Seine Stirn furchte sich in tiefen Falten. Flammen schlugen aus dem Holz. Sie waren winzig, leckten aber gierig an den dürren Ästen entlang. Ulric konnte zusehen, wie sie an Kraft gewannen. Im gleichen Maße verschwand die Erscheinung des Priesters. »Ich wünsche dir Glück«, hauchte Gundar mit ersterbender Stimme und wurde eins mit der Glut, die sich ins Holz fraß.

Blut schüttelte sich, und ein Schauer von Wassertropfen sprühte in das Feuer. Ein Teil der Flammen verlosch. »Weg!«, schrie Ulric. »Mach das nicht noch einmal.« In fliegender Hast suchte er dürre Ästchen an der Wassergrenze. Das Feuer verlor an Kraft.

»Bitte, Luth, lass es nicht ausgehen«, bettelte er. »Ich werde immer alles tun, was meine Mutter sagt. Aber lass es nicht verlöschen.« Er schichtete die kleinen Äste um die letzte Flamme, die noch übrig geblieben war. Einen bangen Augenblick hielt er den Atem an. Endlich gewann das Feuer wieder an Kraft. Und jetzt brannte es stärker als zuvor. Eine kräftige Flamme leckte am bleichen Holz entlang, wuchs und sprang auf andere Äste über.

Halgard drückte ihm schlotternd einen Kuss auf die Wange. Sie versuchte etwas zu sagen, doch das Klacken ihrer Zähne erstickte alle Worte.

»Du musst jetzt deine Kleider ablegen«, sagte Ulric zögerlich.

Unbeholfen streifte das Mädchen ihren Mantel ab. Der Junge drehte sich beschämt zur Seite. Er wusste, dass es sich nicht gehörte, einem Mädchen zuzusehen, wenn es sich auszog. Jetzt streifte auch er seine Kleider ab, bis nur noch die kurze Wollhose übrig war. Wie Eis klebte sie auf seinen Lenden, während er auf Armen und Brust die wohlige Wärme des Feuers spürte.

Halgard hatte sich ganz ausgezogen und kauerte dicht bei den Flammen. Ihre Haut war ganz runzelig. Die Arme und Beine des Mädchens sahen wie dünne Äste aus. Die Linie aus feinen Knochen malte sich unter der Haut ihres Rückens ab, und Rippen stachen durch ihr Fleisch. Sie rieb sich mit den Händen über die Arme.

Zögerlich streifte Ulric die kurze Hose ab. Jetzt erst fiel ihm ein, dass Halgard ihn ja gar nicht sehen konnte. Wie hatte er das vergessen können! Erleichtert setzte er sich neben sie. Auch Blut lag am Feuer. Der große Hund blickte ärgerlich zu ihm herüber. Feiner Wasserdampf stieg von seinem Fell auf. Mit einem tiefen Seufzer streckte er sich. Wie ein Welpe strampelte er mit den Pfoten und drehte sich auf den Rücken. Klirrend schlitterte etwas über den Stein. Ulric und Blut waren mit einem Satz auf den Beinen. Halgard stieß einen spitzen Schrei aus. »Was geschieht?«, rief sie ängstlich.

Die Elfe schob sich aus dem Wasser. Sie hatte ihr Schwert ans Ufer geschleudert. Ulric versuchte, ihr zu helfen. Es war zum Verzweifeln, wie schwer die zierliche Kriegerin war. Erst als Halgard ihm zu Hilfe eilte, schaffte er es, Yilvina ganz ins Trockene zu zerren.

Die Elfe redete in einer Sprache, die Ulric nicht verstand. Ihre Augen glänzten vor Fieber.

»Wir müssen sie auch ausziehen«, sagte Halgard. Mit vereinten Kräften zogen sie ihr das Kettenhemd über den Kopf. Das Mädchen tastete über Yilvinas Leib.

»Ich habe noch nie so weichen Stoff berührt«, sagte sie leise.

»Was für wunderbare Kleider muss sie tragen.« Ulric fand nichts Besonderes an der gepolsterten Jacke und dem Hemd, das die Elfe darunter trug. Er hütete sich aber, dies zu sagen. Schließlich wollte er Halgard nicht die Freude verderben.

Yilvinas Stiefel auszuziehen, war fast unmöglich. Wie eine zweite, dickere Haut schloss sich das Leder um ihre Schenkel. Fluchend mühte sich Ulric ab, während Halgard ihr ein letztes zartes Seidenhemd auszog.

Die Kleider der Elfe waren blutdurchtränkt. Yilvina stöhnte und krümmte sich vor Schmerz, als sie sie von dem Hemd befreiten, das mit den Krusten ihrer Wunden zusammengebacken war. Ein Knochen ragte ihr seitlich aus dem Leib. Dort sickerte jetzt wieder Blut durch den dicken Schorf. Die ganze Brust und der größte Teil ihres Bauchs waren rot und blau verfärbt. Ihr Leib wirkte seltsam verformt. Etwas verwirrte Ulric, als er die schrecklichen Prellungen betrachtete. Er musste eine ganze Weile hinsehen, bis er begriff, was es war. Auf der linken Seite ihrer Brust zeichneten sich keine Rippen mehr ab. Ungläubig tastete der Junge über die zerschundene Haut. Knochen konnten doch nicht einfach so verschwinden! Er spürte etwas Festes im Fleisch, das sich leicht bewegen ließ.

Yilvina stöhnte auf. Sie sah Ulric an, und Tränen standen ihr in den Augen.

»Entschuldige«, flüsterte der Junge.

Die Elfe nickte schwach. Ihre Lippen zitterten. Ulric musste sich dicht über sie beugen, um verstehen zu können, was sie sprach. »Mein Schwert ... Gib es ... mir.«

»Was will Yilvina?«, fragte Halgard.

»Ihre Waffe.«

»Was nutzt ihr die?«

»Das verstehst du nicht!«, entgegnete Ulric entschieden. »Sie ist eine Kriegerin. Es wird ihr besser gehen, wenn ihr Schwert neben ihr liegt.«

»Das verstehe ich wirklich nicht«, entgegnete Halgard gekränkt. »Genau genommen kommt es mir sogar wie ziemlicher Unsinn vor.«

Ulric antwortete darauf nicht. Er wollte jetzt keinen Streit. Im Übrigen setzte sich Halgard meistens durch, wenn sie stritten. Sie fand einfach die besseren Worte, und er fühlte sich hinterher immer wie ein ausgemachter Dummkopf. Manchmal gingen ihm noch Stunden nach dem Gezänk Halgards Worte durch den Kopf. Er legte sich alle möglichen Antworten zurecht. Aber dann war es zu spät. Sie stritten nur selten zweimal über dieselbe Sache.

Der Junge blickte sich in der Höhle um. Es war Yilvinas Wunsch, ihr Schwert zu bekommen. Da gab es nichts mehr zu bereden!

Der Unterschlupf war nicht sonderlich groß. Ulric konnte gerade einmal aufrecht stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Sie waren von grauem Felsgestein umgeben, durch das weiße und rostfarbene Adern liefen. Die Höhle war unregelmäßig geformt. Es gab einige Nischen, in die kaum das Licht des Feuers drang.

Der Junge sah das Schwert nahe der rückwärtigen Wand am Boden liegen. Müde ging er hinüber. Alles, was er noch wollte, war, sich am Feuer auszustrecken und zu schlafen.

Das unstete Licht ließ seinen Schatten grotesk verzerrt über die unregelmäßige Höhlenwand tanzen. Ulric bückte sich. Dicht vor ihm wich die Wand zurück. Das Wasser hatte eine längliche Nische aus dem Fels gewaschen. Und dort war etwas... Jemand ... Hastig griff Ulric nach dem Schwert. Ein Krieger in grüner Rüstung lag dort und schlief!

»Ist etwas?«, fragte Halgard.

»Still!«, zischte Ulric. Er spähte angestrengt ins Halbdunkel der Nische. Der Schläfer bewegte sich nicht. Langsam gewöhnten sich die Augen des Jungen an die Dunkelheit. Der Mann trug einen grünen Flügelhelm. Sein Gesicht war hinter breiten Wangenklappen verborgen. Eine grüne Brustplatte reichte dem Krieger bis zu den Hüften. Seine bleichen Hände hielten ein kostbares Schwert mit breiter Klinge umklammert. Er trug zerschlissene Hosen aus einem seltsam gemusterten Stoff. Das Leder der Schuhe war ganz verschrumpelt. Mit angehaltenem Atem beugte sich Ulric weiter vor, um dem Mann ins Gesicht zu blicken. Er hatte nie von einem Krieger in grüner Rüstung gehört! So jemand musste doch auffallen!

Ulric kroch bis dicht an die Nische und zwängte seinen Leib hinein. Sein Herz klopfte wie rasend. Er durfte den Schläfer nicht berühren! Luth allein wusste, was das für ein Kerl war. Aus dem Fjordland kam er jedenfalls nicht! Niemand hier trug so seltsame Rüstungen.

Der Junge verdrehte den Kopf. Er musste sich mit einer Hand gegen die Decke der Nische abstützen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Noch ein paar Zoll. Endlich! Das Gesicht war blass ... Nein! Erschrocken zuckte Ulric zurück und schlug mit dem Kopf gegen die Decke. Er geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte quer über den Leib des Mannes. Doch der würde nicht erwachen. Nie mehr. Unter dem Helm verbarg sich ein Totenschädel.

Blut war aufgesprungen und eilte an Ulrics Seite. Neugierig schnuppernd drängte er sich in die Nische, und Ulric hatte seine liebe Mühe, den großen Hund von dem Toten fern zu halten. Vorsichtig über den Boden tastend, kam auch Halgard herbei. Sie ließ sich den Toten genau beschreiben.

Jetzt entdeckte Ulric seitlich in der Brustplatte zwei Löcher. In einem steckte noch ein verrotteter Holzschaft. An die Decke der Nische war etwas mit fast verblichener, brauner Farbe gemalt. Eine Spinne! Das Zeichen Luths. »Und seine Rüstung ist ganz grün?«, fragte Halgard unvermittelt.

»Ja.«

»Nimm einen Stein und kratz einmal daran.«

Ulric traute seine Ohren kaum. Was war das wieder für eine Idee? Darauf konnten nur Mädchen kommen! »Tust du es für mich?«, fragte Halgard.

Der Junge seufzte. Ihm war kalt. Er wollte am liebsten zurück zum Feuer. Und er musste Yilvina ihr Schwert bringen. Vorsichtig nahm er die Elfenklinge und schabte damit über die Brustplatte.

»Und?«, drängte Halgard.

Ulric kniff die Augen zusammen. »Da ist etwas Goldenes unter der grünen Farbe«, sagte er staunend. »Bronze«, erwiderte das Mädchen triumphierend. »Ich hatte es mir gedacht.«

»Was?«, fragte Ulric gereizt. Sie schaffte es wieder einmal, dass er sich ausgesprochen dumm vorkam. »Das ist König Osaberg«, erklärte Halgard ehrfürchtig.

»Niemals!«, entgegnete Ulric. »Osaberg liegt auf dem Grund des Fjords. Du kennst wohl die Geschichte nicht richtig.«

Das Mädchen ließ sich nicht beirren. »Er muss so wie wir durch das Wasser in die Höhle geraten sein. Hier hat er sich vor seinen Feinden versteckt. Er wollte ruhen. Aber er war zu schwer verletzt. Dann ist er gestorben.«

»Das ist irgendein Krieger«, entgegnete Ulric trotzig. »Nein. Luth hat ihm einen Helm mit Flügeln geschenkt und der König der Kobolde ein Schwert, das niemals rostet und dessen Schneide nie stumpf wird.«

Irgendwie mochte Ulric dem Mädchen nicht gönnen, dass es Recht hatte. Er hatte sich Osaberg immer als einen großen, starken Krieger vorgestellt, mit langem Haar, der auf dem Grund des Fjords ausgestreckt lag und schlief. Er war ein Held, der darauf wartete zurückzukehren. Nicht nur ein Haufen Knochen. Ulric stand auf und ging zum Feuer hinüber. Er legte Yilvinas Schwert dicht neben die schlafende Elfe. Würde auch sie nicht mehr erwachen?, fragte er sich beklommen.

Blut folgte ihm zum Feuer. Nach einer Weile kam auch Halgard. Ihr klapperten wieder die Zähne. Sie rieb sich mit den Händen über ihre dünnen Arme. »Und es ist doch Osaberg«, murmelte sie trotzig. Blut knurrte. Du kannst rechthaberische Mädchen also auch nicht leiden, dachte Ulric und grinste.

Der schwarze Hund richtete sich auf. Sein Knurren wurde tiefer, drohender! Wellen schwappten an das flache Ufer. Plötzlich stieß ein großer, unförmiger Kopf durch das Wasser. Ulric erkannte das Gesicht sofort. Immer wieder hatte er es in seinen Albträumen gesehen. Es war der Troll, der Yilvina so schwer verletzt hatte!

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