Zwei Herzen

Asla blickte hinab in die tiefe Grube, die man in den vereisten Boden geschlagen hatte. Die halbe Nacht hindurch hatte sie das Geräusch der Hacke gehört, die mit dem steinharten Erdreich kämpfte. Isleif, ein großer, dunkelhaariger Einödbauer, in dessen Schopf sich erstes Silber einnistete, trug Oles Leichnam vom Langhaus herab. Er war ein Freund ihres Vaters Erek und der Einzige, der sich für diesen letzten Weg Oles gefunden hatte. Niemand aus dem Dorf war gekommen, um dem Hundezüchter ein Ehrengeleit zu geben. Allein Asla, die Kinder und Erek standen bei dem offenen Grab.

Oles Leib war ausgezehrt und dürr. Er wog nicht schwer in Isleifs Armen. Hell leuchtete der Pflock, der aus der Brust des Toten ragte. Sie waren in der Morgendämmerung gekommen ... Jene Besorgten, die fürchteten, Ole würde wegen seines schrecklichen Todes keine Ruhe finden. Sie hatten den Pflock schon mitgebracht. Er war aus hellem Eschenholz geschnitten. Ohne sich auf Ereks Einwände einzulassen, hatten sie den Holzpflock in die Brust seines Bruders getrieben. Dorthin, wo einmal sein Herz gesessen hatte, wenn er denn jemals eins gehabt hatte. In dem Augenblick, als sie dies getan hatten, hatte Blut ein schauerliches Geheul angestimmt. Asla war sich sicher, dass man noch den ganzen Winter darüber flüstern würde.

Isleif stieg vorsichtig in das Grab hinab. Er drückte den Leichnam an sich wie eine Mutter, die ein großes Kind auf ihren Armen trug. Noch im Tode wirkten Oles Züge gequält. Nie würde man erfahren, was er getan hatte, dachte Asla. Wofür die Götter ihn und das Dorf so grausam bestraft hatten. Alle waren sich darin einig, dass er den riesigen Geisterhund herbeigerufen hatte. Damit, dass man ihn so grässlich verstümmelt im Wald gefunden hatte, hatten die Morde begonnen.

Asla hielt Kadlin auf dem Arm. Das kleine Mädchen spielte mit ihrem Haar. Über warmen Wollsachen trug sie das dünne blaue Leinenkleid, das ihr Vater so sehr liebte. Darin hatte sie laufen gelernt. Sehnsüchtig dachte Asla an die warmen Sommertage, als Alfadas mit ihr zum Kiesstrand gegangen war und sie beide der Kleinen zugesehen hatten, wie sie schwankend über den Kies gelaufen war. Was würde der nächste Sommer bringen? Würde sie ihren Mann je wieder sehen? Sie blickte zu Ulric. Der Junge hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er wirkte sehr ernst, gar nicht mehr wie ein Kind.

Isleif legte Oles Leib vorsichtig auf den Grund der Grube. Etwas Schnee, dünn wie Mehlreste auf einem Backtisch, lag im Grab. Der große Einödbauer drehte den Leichnam mit dem Gesicht in den Schmutz. Er blickte entschuldigend auf. »So haben sie es verlangt«, sagte er leise.

»Ich weiß«, erwiderte Erek heiser.

Asla seufzte. Das war die Art, wie man Tote beerdigte, von denen man fürchtete, sie könnten Wiedergänger werden. Wenn sie in ihrem Grab erwachten und versuchten, sich ihren Weg zurück in die Welt der Lebenden zu bahnen, würden sie sich nur noch tiefer ins Erdreich wühlen. Es hieß zwar auch, ein Eschenpflock im Herzen würde genügen, einen Toten auf immer im Grab zu halten, aber den Dorfältesten war das nicht sicher genug.

Asla dachte daran, wie ihr Ole, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, einmal einen weiß-braunen Welpen geschenkt hatte. In ihrer Kindheit hatte sie ihren Onkel geliebt. Er war nicht immer so gewesen wie in den letzten Jahren. Vielleicht, wenn er ein Weib gefunden hätte ... Einsamkeit frisst das Herz auf, dachte sie bitter. Sie wusste es nur zu gut! So viele Nächte lag sie schon allein in ihrer Butze. Der Geruch von Alfadas, der ihr vorgaukelte, er würde noch neben ihr liegen, wenn sie sich in ihre Decke rollte, verging langsam. Bald wäre er ganz aus ihrem Leben verschwunden.

Isleif zog sich aus dem Grab und senkte die schweren Felsbrocken, die man herangekarrt hatte, in die Grube. Obwohl er sich bemühte, vorsichtig zu sein, hörte Asla Oles Knochen knacken, als die Steine seinen Leichnam trafen. Im Dorf wollte man wirklich ganz sichergehen, dass ihr Onkel diese Grube nie wieder verlassen würde, dachte die junge Frau. Sie sah zu ihrem Vater. Erek hatte keine Träne für seinen jüngeren Bruder vergossen, doch die Lippen des alten Fischers zitterten, als er zusah, wie der Gefährte seiner Kindheit unter den Steinen verschwand. Ihr Vater hatte sich immer für Ole verantwortlich gefühlt. Stets war er für seinen jüngeren Bruder eingetreten, wenn es im Dorf wieder einmal Ärger gegeben hatte. Er hatte ihn sogar dann noch verteidigt, wenn er genau gewusst hatte, dass Ole im Unrecht gewesen war. Asla strich Ulric durch das blonde Haar. Ob er eines Tages genauso bedingungslos für seine kleine Schwester einstehen würde?

Ihr Blick blieb an dem schlichten Stein haften, der neben der frisch aufgeworfenen Erde aufragte. Erek hatte sich gestern den Rücken krumm geschleppt, um ihn vom Ufer hinauf ins Langhaus zu bringen. Die halbe Nacht hatte er mit einem alten Nagel an dem Stein herumgekratzt, um einen Hundekopf hineinzuritzen. Er wollte nicht, dass in Vergessenheit geriet, an welchem Ort sein Bruder ruhte.

»Mutter, wann gehen wir zu Gundar?«, fragte Ulric verlegen.

Asla sah zu Erek. Ihr Vater nickte knapp. Sie war aus der letzten Pflicht gegen Ole entlassen.

Traurig ging Asla mit den Kindern zum Grab des Priesters hinüber. Sie stand tief in Gundars Schuld, und es würde nie mehr eine Gelegenheit geben, ihm dafür zu danken. Er hatte Ulric gerettet. Ihr Junge hatte ihr erzählt, wie Gundar ihn den weiten Weg hinab zum Dorf getragen hatte. Asla wusste, dass dies weit über die Kräfte des alten Mannes gegangen war.

Der flache Grabhügel des Priesters war von dünnen Ruten umstanden. Man hatte besonders gerade gewachsene Äste ausgewählt und sie mit Stoffstreifen geschmückt, die leise im Winterwind raschelten. Jeder, der an Gundars Grab kam, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, band einen Streifen Stoff an eine der Ruten. Einen Stein gab es noch nicht für ihn. Vielleicht hatte er keinen gewollt? Oder jemand gab sich besondere Mühe, einen schönen Schmuckstein für Gundars letzte Ruhestätte zu schaffen, und hatte seine Arbeit noch nicht vollendet.

Asla kniete nieder, um dem alten Priester in stummem Gebet zu danken. Gestern, als er beigesetzt worden war, hatte sie nicht kommen können. Bei Männern wie Ole, bei denen man nicht darauf vertraute, ob sie wirklich im Grab blieben, wurde die Pflicht der Totenwache sehr genau genommen. Und niemand hatte ihr diese Bürde abnehmen wollen. Selbst ihr Vater nicht. Erek war viel zu erschüttert gewesen, um zuverlässig zu sein. Unsichere Tote wurden inmitten der Wohnstube aufgebahrt. Man steckte ihnen eine große Kerze zwischen die gefalteten Hände und ließ sie dann einen Tag und eine Nacht lang nicht aus den Augen. Damit wollte man ganz sicher gehen, dass sie sich nicht mehr regten. So hatte Asla nicht zu dem Begräbnis des Priesters kommen können.

Ihr einziger Trost war, dass sie mitgeholfen hatte, ihn für seine Beerdigung herzurichten, weil sein Leichnam in ihrem Haus gelegen hatte. Sie hatte das schwere Kettenhemd von seinem fülligen Leib gestreift. Dann war Gundar in seine besten Gewänder gekleidet worden, und sie hatte sorgfältig sein Haar und seinen Bart gekämmt. Ulric nahm den Stoffstreifen, den er um den Gürtel gewickelt trug. Er war zwei Finger breit. Die Schmuckborte seiner schönsten Tunika. Er hatte darauf bestanden, Gundar dieses Geschenk zu machen. Tränen rannen ihm über die Wangen, als er den Stoff an eine der langen Ruten band. Doch er schluchzte nicht.

Kadlin spielte im Schnee, während Asla für sie einen Streifen ihres dünnen Sommerkleids um einen Ast band.

Fröstelnd zog sich die junge Frau ihren weiten roten Umhang um die Schultern. Alfadas hatte ihn ihr von einem seiner Beutezüge mitgebracht. Angeblich hatte er einmal der Tochter eines Königs gehört. Der Umhang war aus schwerer, dunkelrot gefärbter Wolle gefertigt. Kein Knötchen fand sich in dem Stoff. Oft hatte Asla sich gefragt, wie man Wollfäden so fein spinnen konnte. Ihre Gabe an Gundar hatte sie von diesem Mantel geschnitten.

»Ich hoffe, du hast einen Platz an einer reich gedeckten Tafel gefunden«, sagte sie mit schwerer Stimme. »So vieles hätte ich dir gern noch gesagt. Du hast mir meinen Sohn zurückgebracht. Das werde ich dir bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen.«

Plötzlich trat jemand in hellen braunen Stiefeln neben Asla. Sie hatte keine Schritte im Schnee gehört. War sie denn so tief in Gedanken gewesen? Asla blickte auf. Neben ihr stand Yilvina.

»Glaubst du, dass auch ich sein Grab schmücken darf?«, fragte sie mit jenem seltsamen Akzent, der ihren Worten stets einen singenden Unterton gab. »Er hat mir das Leben gerettet.« Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, während sie sprach.

Was sie wohl fühlte?, fragte sich Asla. Scham, weil ausgerechnet ein Menschensohn sie und die Königin vor dem Ungeheuer bewahrt hatte? Oder Dankbarkeit?

»Ich glaube, Gundar würde sich freuen, wenn er wüsste, dass auch du ihn in freundlicher Erinnerung behalten wirst.«

»Das weiß ich«, entgegnete die Elfe.

Ihre selbstsichere Antwort ärgerte Asla.

»Meine Sorge ist, dass es unter den Menschen des Dorfes schlecht aufgenommen wird, wenn ich den Toten nach eurem Brauch ehre.«

»Für die anderen kann ich nicht sprechen«, entgegnete Asla kühl. »Aber mich beleidigst du nicht, wenn du Gundar Respekt erweist.«

Die Elfe neigte den Kopf. Eine Weile betrachtete sie gedankenverloren das Grab. Schließlich zog sie ihren Dolch, schnitt einen Stoffstreifen von ihrem Umhang und knotete ihn an einen der Äste. »Ich war ihm sehr nahe, als er starb.«

Asla dachte an den Kuss, den die Elfe dem sterbenden Priester gegeben hatte. Yilvinas Verhalten war ihr sonderbar vorgekommen, aber nicht falsch. Sie hatte nicht verstanden, was da geschehen war, aber sie hatte gespürt, dass die Elfe um Gundars Leben gekämpft hatte.

»Die Wände seines Herzens waren so dünn wie Pergament. Sein Gott muss eine schützende Hand über ihn gehalten haben. Eigentlich hätte er schon lange nicht mehr leben dürfen. Ein üppiges Mahl, ein Spaziergang am Fjord. All das hätte schon genügen können, ihn zu töten. Er hat deinen Jungen sehr gemocht. Dass er Ulric getragen hat, war nicht sein Tod. Und auch nicht der Biss des Geisterhundes. Seine Zeit war gekommen. Er ist in Frieden gegangen.«

Asla biss sich auf die Lippen. Sie wollte etwas sagen, doch ein Kloß im Hals erstickte ihre Stimme. Woher wusste Yilvina um die Vorwürfe, die sie sich machte? Bisher hatte sie geglaubt, dass die Elfenkriegerin sich um nichts anderes als das Wohlergehen ihrer Königin kümmerte. Sie wirkte immer so kalt und teilnahmslos. Und doch hatte sie mit scharfem Blick erkannt, was Asla das Herz aufwühlte.

Yilvina griff nach Ulrics Hand. »Lasst uns hinauf ins Haus gehen. Gundar schätzt es eher, wenn man bei einem guten Essen an ihn denkt, als wenn man es frierend an seinem Grab tut.«

Steinerne Zeit

... Fast noch unerträglicher als die Kämpfe, die folgen sollten, war die Zeit des Wartens. Elf Tage vergingen, bis die Trolle vor Phylangan aufzogen. Tage voller Zuversichtlichkeit und Anspannung. Wir wussten, wie stark unsere Festung war. Ein Sturmlauf auf das Tor zum Schneehafen musste ein Massaker werden. Fast unsere gesamte Streitmacht lag in den Stellungen der langen Bergflanken. Jede Schießscharte war besetzt. Auch der Turm am Ende der Mandan Falah war vollendet worden. Wer immer Phylangan durch den Albenstern betreten wollte, dem würden hundert Pfeile entgegenfiiegen. Auf der engen Brücke war es so gut wie unmöglich, die Gegner zu verfehlen.

Doch obwohl unser Kriegsmeister Ollowain eine ruhige Zuversicht ausstrahlte, verblieb bei vielen eine Anspannung. Würden die Trolle uns auch diesmal wieder überraschen?, war die bange Frage, die sich manche heimlich stellten. Die Spannung wich erst, als der große Heerwurm am Horizont aufzog. Obwohl ich ihr Heer schon am Rosenberg gesehen hatte, war ich erschrocken von ihrer bloßen Zahl. Wie ein schwarzer Makel füllten sie den gesamten Horizont. Und es war erschreckend, wie sehr sie sich verändert hatten. Sie hielten Disziplin! Sie schlugen ein geordnetes Heerlager auf! Natürlich würde man sie niemals mit einem Elfenheer auf dem Marsch vergleichen können, doch damals schien es mir so, als seien sie geordneter als unsere Verbündeten, die Kentauren.

Zwei ganze Tage ließen die Trolle sich Zeit, um ihren Angriff vorzubereiten. Erst Jahre später begriff ich, dass dies ihre Waffe war: die selbstgefällige Ruhe und das Warten. Sie hatten sich sehr verändert in den Jahrhunderten ihrer Verbannung!

Wenn ich an die langen Tage vor dem Angriff zurückdenke, dann beherrscht jedoch nichts so sehr meine Erinnerung wie der Schrecken, den ein böser Geist in Phylangan verbreitete.

Er schien überall zu sein und hinterließ eine Spur des Todes. Mal fanden wir sieben Tote in einer Bognerwerkstatt der Kobolde. Dann lagen fünf Menschen tot in ihren Betten im Krankenlager. Besonders den Anblick von zwei Kentauren, die wohl ihren Rausch hatten ausschlafen wollen, werde ich nie vergessen. Es war erschütternd zu sehen, was dieser Geist aus den großen, vor Kraft strotzenden Leibern gemacht hatte.

Seine Morde waren unverkennbar. Er schien seinen Opfern das Fleisch von den Knochen zu schmelzen. Wenn man sie fand, dann war von ihnen nicht mehr übrig als fahle, brüchige Haut, die sich über Sehnen und Knochen spannte. Ihre Haar war grau oder weiß geworden, und manchmal, wenn sie ihren Mördern noch gesehen hatten, stand unaussprechliches Entsetzen in ihre Gesichter gemeißelt.

Auffällig war, dass er nie einen Elfen tötete. Auch unsere Verbündeten bemerkten dies bald. Und es trieb in dieser unruhigen Zeit des Wartens einen Keil zwischen uns.

Sie fanden viele Namen für den unsichtbaren Mörder. ›Das kalte Licht‹ nannten ihn die Kobolde, ›Frostatem‹ die Kentauren und ‹Totmacher‹ die Menschensöhne. Ganz gleich, wie viele Wachen wir aufstellten, er kam und ging, wie es ihm beliebte. Bald flößte er den Verteidigern mehr Angst ein als die Trolle, und sie sehnten den Tag herbei, an dem der Angriff begann, weil sie hofften, das Morden dieses ungreifbaren Schreckens werde dann enden. Selbst ich gab mich diesem naiven Glauben hin. Wie töricht war es, sich einzubilden, der Feind werde von einer Waffe lassen, weil er eine zweite zur Hand hatte!

In diesen steinernen Tagen der Angst, in der wir gefangen in Festungswällen auf das Verhängnis warteten, tagte der Kriegsrat fast ununterbrochen. Jetzt, mit Abstand betrachtet, erfüllt es mich mit Trauer und Unverständnis, wenn ich daran denke, worüber wir uneins waren. Tagelang währte ein Streit, ob den Menschensöhnen erlaubt werden solle, ihre Toten in der Erde der Himmelshalle beizusetzen. Landoran wehrte sich entschieden dagegen. Er mochte nicht dulden, dass dieser wundersame Ort durch die Kadaver der Menschenkinder besudelt wurde. Dass die Bäume dort ihre Nahrung von faulenden Leibern nahmen.

So erbittert war der Streit, dass der Menschenfürst Alfadas ihm sogar einmal drohte, er und seine Krieger würden durch ihre Anwesenheit nicht länger die makellosen Gefilde Phylangans besudeln wollen. Orimedes hatte sich auf seine Seite geschlagen und drohte, auch die Kentauren würden abziehen, wenn die Menschensöhne die Festung verließen. Schließlich musste sich Landoran der Forderung fügen, zumal auch sein eigener Sohn, der Kriegsmeister Ollowain, die Menschenkinder unterstützte.

Wenn ich mir vor Augen halte, was Landoran über die Tage, die noch kommen würden, gewusst haben muss, erscheint mir dieses Gezänk kleinlich, und tiefe Scham ergreift mich. Doch damals stand ich, trotz meiner Schuld gegen die Menschensöhne, auf Seiten des Fürsten der Normirga. Auch mir war der Gedanke an verrottende Leiber in der schönsten all unserer Hallen unerträglich.

So bitter diese Erinnerungen sein mögen, denke ich an eine Begebenheit in jenen fernen Tagen mit einem Schmunzeln zurück. Ollowain und Landoran stritten wieder einmal über die Verschiffung aller Frauen und Kinder über den Himmelshafen, als eine kleine, grauhaarige Gestalt in den Ratssaal trat, ein Holder, gekleidet ganz in der Tradition seines Volkes. Nur mit einem Lendenschurz und einem golddurchwirkten Stirnband angetan, wirkte er befremdlich, ja fast lächerlich in der weiten Ratshalle aus Gold und Marmor. Alle starrten ihn an.

Nur Landoran erhob sich von seinem Platz, ging ihm entgegen und verbeugte sich zu unserer Verwunderung vor dem Holden.

»Ich grüße dich, Gondoran, aus dem Geschlecht der Bragan, Herr der Wasser in Vahan Calyd.« Wie sich zeigte, kannten auch Ollowain und Orimedes den Holden, doch hatte er vor ihnen seinen wahren Rang verborgen gehalten. Landoran bot dem Herrn der Wasser einen Sitz im Kriegsrat, doch der Holde entgegnete hintersinnig, dass Phylangan in seinen Augen nicht noch einen weiteren Streiter benötige. Stattdessen bat er um die Pläne der Zisternen, Wassertunnel und verborgenen Quellen. Er erläuterte, dass seiner Meinung nach das steinerne Herz der Felsenburg erkrankt sei, und er wolle alles in seiner Kraft Stehende tun, um es zu heilen. So könne er der Sache Phylangans besser dienen als mit einem Schwert in der Hand. Damals lächelte ich über das Ansinnen des Holden. Landoran erfüllte ihm bereitwillig seine Wünsche und lieh ihm das Auge des Felsformers, eines unserer kostbarsten Artefakte. Es war ein Rubin, der auf solche Weise in einen Goldreif eingelassen war, dass er inmitten der Stirn ruhte, wenn man sich mit dem kostbaren Schmuckstück krönte. Und er verlieh seinem Träger die Gabe, Felsen zu formen, als knete er feuchten Ton. Ich habe Gondoran nach seinem Besuch im Ratssaal nicht mehr wieder gesehen, doch er sollte uns alle noch lehren, dass er kein verschrobener Narr war, sondern dass in seiner Brust das Herz eines Kämpfers schlug.

So ward Gondoran aus dem Geschlecht der Bragan mir zum Spiegel meines Hochmuts, und die Erinnerung an ihn mahnt mich, das Augenscheinliche nicht mit dem Wahrhaftigen zu verwechseln.

Als die Trolle schließlich nahten, gehörte es zu meinen Pflichten, dem Steinernen Garten als Kundschafter zu dienen. Einmal flog ich mit Schneeschwinge über ihr Lager. Sie hatten viel Holz mitgebracht. Daraus zimmerten sie grobschlächtige Schutzwände und Dächer für drei riesige Rammböcke. Die Trolle schienen genau zu wissen, was sie erwartete, wenn sie den weiten Pass hinauf zum Schneehafen stürmten. Sollten sie sich nur vorbereiten, dachte ich damals voller Hochmut. Vor Pfeilen mochten sie sich damit schützen, aber ich wusste ja, wie viele Geschütze auf den Passweg wiesen und was die Trolle außer Pfeilen und Kugeln noch erwartete. Dagegen würden ihre Holzwände nicht helfen.

Als ich schon fortfliegen wollte, fühlte ich eine dunkle Kraft, die tiefe Verzagtheit in mir keimen ließ und Gedanken an einen nahen Tod. Schon beim Swelm-Tal hatte ich das gespürt. Hier war es noch drängender. Es hieß, die Schamaninnen der Trolle betrieben Blutmagie.

Damals empfand ich deutlich, dass sie Zauber wirkten, die alle Kräfte der Natur verhöhnten und von tiefer Boshaftigkeit durchdrungen waren. Und ich spürte ihre Zuversicht. Die Trolle waren davon überzeugt, dass sie uns besiegen würden ...

Aus: Der Blick des Falken, s.783,

Die Lebenserinnerungen

von Fenryl, Graf von Rosenberg

Загрузка...