Alfadas fuhr aus dem Schlaf hoch. Etwas an Bord der Fähre hatte sich verändert. Der Jarl lag zwischen den hohen Rädern des Fuhrwerks in eine Decke gehüllt. Er lauschte auf die Geräusche der Nacht. Das Fährboot ankerte in einer kleinen Bucht. Mit Einbruch der Dämmerung hatten es die drei Brüder abgelehnt weiterzufahren. Horsa hatte geflucht und ihnen gedroht, sie ertränken zu lassen. Aber schließlich hatte selbst er sich dem Diktat der Vernunft beugen müssen. Die Fährleute kannten diesen Teil des Fjords nicht. Sie wussten weder um Strömungen noch um verborgene Riffe. Ohne Sicht weiterzufahren, wäre die blanke Unvernunft gewesen.
Veleif hatte versucht, mit seinen Liedern die gereizte Stimmung zu vertreiben. Das Gefolge des Königs war auf den Skalden, Dalla, die Heilerin, und Horsas drei Leibwächter zusammengeschmolzen. Nach einem kurzen Mahl hatten sie sich zur Ruhe begeben. So gut es ging ... Alfadas und die anderen hatten zwischen den Rädern des Fuhrwerks Schutz vor dem Nieselregen gesucht, der mit der Dämmerung gekommen war. Keinen halben Schritt über ihnen hatte Horsa auf der Pritsche von der Heilerin seine steifen Glieder behandeln lassen. Das Schnaufen und Stöhnen des alten Königs war ihr Nachtlied gewesen. Alfadas hatte erst Ruhe gefunden, als das Getöse in ein kehliges Schnarchen übergegangen war. Der Lärm des Liebesgeplänkels unmittelbar über seinem Kopf hatte ihn erregt. Und das wiederum hatte ihn geärgert, denn er verabscheute das Gehabe des alten Lüstlings. Alfadas schob die Gedanken beiseite und versuchte, sich auf die Geräusche der Nacht zu konzentrieren. Was hatte sich verändert? Es regnete nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Leise spielten die Wellen um das Fährboot. Die Ankertrossen knirschten. Der Jarl lauschte auf den Atem der Männer neben sich. Das Holz des Fuhrwerks knarrte. Der König! Das Schnarchen hatte aufgehört. Horsa erhob sich. Jetzt wurde die Plane zurückgeschlagen. Für einen alten Mann konnte er sich erstaunlich leise bewegen. Alfadas wurde aus Horsa nicht schlau. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er den Alten offen bewundert. Aber jetzt ... Er musste Horsa von seinem Weg abbringen! Vorsichtig schob der Jarl die Decke zurück. Seine Hände griffen nach dem Rad neben seinem Kopf. Er zog sich unter dem Wagen hervor. Der Atem der übrigen Männer ging noch immer langsam und regelmäßig. Alle schliefen.
Horsa war zum Bug gegangen. Er sah nach Osten. Der König hatte ein schweres Fell um seine Schultern gelegt. Es ließ seine Gestalt massiger erscheinen. Die dürren Beine, die darunter hervorlugten, standen in groteskem Kontrast dazu.
Das Deck war nass vom Regen. Kälte biss Alfadas in die nackten Füße. Das war die Gelegenheit, an die er bei der Abfahrt gedacht hatte. Nur dass Horsa kein Kettenhemd trug. Konnte er schwimmen? Auf jeden Fall würde er lange genug über Wasser bleiben, um alle mit seinem Geschrei zu wecken.
»Du bist noch nie in einer Schlacht verwundet worden, nicht wahr, Alfadas?«, sagte Horsa leise.
Der Jarl war überrascht, dass der Alte ihn gehört hatte. Er trat an die Seite seines Königs.
»Du weißt nicht, wie das ist, zwischen den Verwundeten zu liegen. Nachts ist es nie so wunderbar still wie hier. Sie stöhnen. Manche weinen, oder sie beten leise zu den Göttern oder verfluchen einfach nur ihr Schicksal. Sie kämpfen die Nacht über, denn sie haben Angst vor der Finsternis. Sie warten auf das Morgengrauen mit dem Sterben. Seltsam, nicht wahr?«
»Ja, seltsam«, antwortete der Jarl knapp. Ahnte Horsa etwas?
»Ich bin siebzehnmal im Kampf verletzt worden. Achtmal so schwer, dass ich zwischen ihnen gelegen habe. Die Heiler wollten mich wegbringen, weil ich der König bin. Aber ich habe mich lebendiger gefühlt, wenn um mich herum Männer waren, denen es schlechter ging. Ich hatte die Vorstellung, zwischen ihnen würde mich der Tod übersehen. So ist es auch, wenn ich mit einem jungen Weib im Arm daliege. Dann ist es wieder wie früher ... Eine Zeit lang. Ich werde jede Nacht ein oder zwei Mal wach und muss das Wasser abschlagen. Nur wenn ich viel getrunken habe, dann schlafe ich durch. Und erwache in einem nassen Bett.« Er lachte bitter. »Diese Schlacht wirst auch du verlieren, Alfadas. Das Alter kann man nicht besiegen. Es sei denn, man stirbt jung.«
Darum also geht es, dachte der Jarl. »Schickst du mich deshalb nach Albenmark? Um mich vor dem Alter zu bewahren?«
Der König antwortete nicht. Er starrte schweigend auf das Wasser. Irgendwo in der Dunkelheit erklang ein Platschen. Ein springender Fisch? »Wenn ich Veleif nicht an meinem Hof hätte, gäbe es gewiss schon Lieder über Horsa den Bettnässer«, sagte der König unvermittelt. »Mein Skalde schätzt es, jeden Tag warmes Essen zu bekommen und im Winter einen guten Mantel zu haben. Und seine Lieder sind besser als die der anderen Skalden. Man hört ihm gern zu ... Es ist wichtig, solche Dinge in der Hand zu behalten. Im Grunde sollte ich dir dankbar sein für deine Torheit mit dem Wagen, Alfadas. Es ist besser, wenn nur wenige die Elfen gesehen haben. Ich habe dir durchaus zugehört, Herzog. Ich werde allein zur Königin gehen, damit niemand Zeuge unseres Gesprächs wird. Niemand außer dir. Schließlich brauche ich ja einen Übersetzer.«
»Sie wird dir nicht ...«
»Ich weiß. Ich sagte doch, ich habe dir zugehört. Sie ist bettlägerig und ohnmächtig. Aber Veleif wird davon singen, dass ihre Schönheit so blendend ist, dass allein ihr Anblick Männer in den Wahnsinn zu treiben vermag. Deshalb hält sie sich seit ihrer Ankunft in deinem Haus verborgen, Herzog. Das ist doch eine viel bessere Geschichte als die Wirklichkeit. Selbst von einer Elfenkönigin auf der Flucht erwartet man, dass sie unnahbar und bedrohlich ist. Du wirst mein Zeuge sein, wie sie uns um Hilfe gebeten hat.«
»Und wenn ich nicht lüge?«
»Dann habe ich einen Skalden, der meine Geschichte erzählt. Bis wir in Honnigsvald sind, wird er ein paar hübsche Verse über Horsa, Alfadas und die Elfenkönigin gedichtet haben. Ich bin mir sicher, sie werden sehr ergreifend sein.«
Der Jarl trat dichter an Horsas Seite. Er legte ihm den Arm um die Schultern. Alfadas fragte sich, ob er stark genug war, Horsa zu erwürgen. Der König musste schon tot sein, wenn er ihn ins Wasser stieß. Er durfte keine Gelegenheit haben zu schreien!
»Ich wünschte, ich hätte einen Sohn wie dich, Alfadas. Bei den Göttern, ich habe meinen Samen weit verteilt! Allein Luth weiß, wie viele Weiber ich besprungen habe. Und trotzdem ist mir nur ein einziger Sohn geboren worden. Du kennst Egil ja. Er ist nicht der Sohn, wie man ihn sich als Vater wünscht. Letzten Sommer hat er eine Magd niedergestochen, weil sie ihm nicht zu Willen sein mochte. Er schwingt gerne große Reden und hält sich für einen begnadeten Schwertkämpfer, dabei lassen seine so genannten Freunde ihn stets siegen. Er ist ein Dreck! Und trotzdem, er ist mein Sohn. Du weißt ja, wie es ist, einen Sohn zu haben, Alfadas. Ganz gleich, was sie tun, als Vater hält man schützend seine Hand über sie.«
Ein klagender Ruf hallte über das Wasser. Im Osten zeichnete eine zarte, grausilberne Linie die Umrisse der Berge nach.
»Ein Eisvogel, der den Morgen grüßt.« Horsa rieb sich über die Arme. »Oft werde ich das nicht mehr hören.«
Unter dem Wagen reckte sich jemand. Alfadas sah, wie sich Mag, der Fährmann mit dem Brandmal auf der Wange, aufrichtete. Der Augenblick war verpasst! »Ich werde deinem Sohn die Treue schwören«, sagte der Jarl.
»Natürlich, das wirst du. Und du meinst es ernst damit. Aber du bist ein guter Mann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du dich gegen ihn erheben wirst. Wir beide wissen das. Und du bist nicht der einzige gute Mann im Fjordland. Ich werde wirklich meine besten Krieger zu den Elfen schicken. Alle, von denen ich glaube, dass sie das Zeug haben, ein besserer König als Egil zu sein.«
»Das ist verrückt, Horsa. Was geschieht, wenn unsere Nachbarn die Schwäche erkennen und angreifen?«
Der König schnaubte verächtlich. »Unsere Nachbarn ... Diese Weiberstaaten. Du hast sie alle in die Schranken verwiesen. Deine Siege, Alfadas, haben Egil Zeit erkauft. Vielleicht wächst er ja in sein Königtum hinein, wenn er nur ein paar Jahre Zeit dazu hat.«
»Und wenn ich mit den Kriegern zurückkehre?«, fragte Alfadas mehr aus Trotz, als dass er daran glaubte.
»Ich habe über deinen Vergleich mit den Höhlenbären nachgedacht, Herzog. Eine einzelne dieser Bestien kann man töten. Aber wenn sie zu Dutzenden angreifen würden, unter dem Kommando eines halbwegs begabten Anführers, und auch noch bewaffnet wären ... Wie sollten Menschen einer solchen Kraft widerstehen, selbst wenn sie den besten aller Herzöge an ihrer Spitze hätten? Die Trolle konnten die Elfen schlagen. Wie solltet ihr da siegen?«
Wieder hallte der Ruf des Eisvogels über das Wasser. Ein klagender, auf- und absteigender Laut. Vom Wagen her war leises Rumoren zu hören. Die Männer erwachten einer nach dem anderen. Mag war aufgestanden und prüfte die Ankertrossen. Über den Bergen glühte das erste Morgenrot. Die schneebedeckten Gipfel spiegelten sich im kristallklaren Wasser des Fjords.
»Ich fürchte, du hast den Augenblick verpasst, Alfadas«, sagte Horsa unvermittelt.
»Wovon sprichst du?«
Der König wandte sich ihm zu. Trauer lag in seinem verbliebenen Auge. »Das wissen wir beide. Ich habe versucht, es dir leicht zu machen. Es wäre kein schlechtes Ende für mich gewesen. Einfach verschwunden zu sein ... Veleif hätte sicher eine gute Saga darum gesponnen. Man kann auch zu ehrenhaft sein, Alfadas.«
So schön war das Antlitz Emeldas, der Königin aller Elfen, dass sie es vor den Menschen verbarg, weil jeder Mann, der sie sah, vom Liebeswahn ergriffen wurde. Und so befahl sie, ein Zelt auf einem Boot inmitten des Fjords zu errichten, und nur Horsa sollte kommen, denn er war der stärkste und beherrschteste aller Männer. Und sie, die über Schätze ohne Zahl und die Kräfte der Magie gebot, beugte das Knie vor Horsa und bat ihn darum, ihr seine kühnen Recken zu Hilfe zu senden und seinen Herzog, Alfadas.
Horsa hob sie auf denn sie knien zu sehen, versetzte seinem Herzen einen Stich. Und ihr Atem wie Blütenduft streifte sein Gesicht. Als Emelda aber die Kraft seiner Arme spürte und die Güte in seinen Zügen las, da wurde sie von tiefer Zuneigung zu Horsa ergriffen.
So blieben sie einen Tag und eine Nacht in dem Zelt auf dem Fjord, und man hörte nichts von den beiden. Unruhe überkam die gewappneten Krieger Emeldas, denn noch nie hatte ihre Herrin so lange bei einem Manne verweilt. Als noch eine zweite Nacht verstrichen war und der Ruf des Eisvogels über das Wasser eilte, da wollten sie zu ihrer Königin. Emelda aber kam ihnen zuvor. Auf dem Nebel eilte sie über das Wasser, als sei der Dunst unter ihren Füßen fester Grund, und binnen eines Lidschlags waren sie und die ihren verschwunden.
Als Alfadas zum Zelt ruderte, um nach seinem Herrn zu sehen, da fand er Horsa in tiefem Schlaf. Sein Haar war weiß wie Schnee geworden, seine Haut welk, und Falten durchzogen sein Antlitz. Er hatte den Preis bezahlt für die Begegnung mit der Unsterblichen. Seine Kraft war dahin, gebunden in einem Pakt mit den Elfen, gültig für nun und immerdar.