Ollowain blickte vom Steinkreis auf dem Hartungskliff hinab zu dem kleinen Dorf, das ihm eine Woche lang eine Zuflucht gewesen war. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, Emerelle zurückzulassen, aber er konnte das Wagnis nicht eingehen, sie nach Albenmark zu bringen, bevor er nicht wusste, was vor sich ging.
Der Schwertmeister umklammerte Alfadas‘ Handgelenk im Kriegergruß. »In dreißig Tagen bin ich zurück. Dann können wir das Heer nach Albenmark bringen.« Ollowain forschte im Gesicht seines Ziehsohns nach einer Antwort auf all die Fragen, die seit dem Besuch des Königs zwischen ihnen standen. Alfadas musste doch wissen, was es hieß, ein Heer aus Menschen nach Albenmark zu bringen. Irgendetwas war zwischen dem Jarl und seinem König vorgefallen. So herzlich Alfadas war, so deutlich spürte er die stumme Trauer, die den Menschensohn umhüllte.
»Was ist mit Silwyna?«, fragte der Jarl.
»Sie wollte noch nicht zurückkehren.« Ollowain schüttelte den Kopf. »Sie ist genauso gesprächig wie du. Yilvina wird über die Königin wachen. Sie weicht nicht von Emerelles Seite.«
»Emerelle ist hier in Sicherheit!«
Ollowain dachte an den Menschenkönig und die seltsame Audienz. Er hatte darauf bestanden, an Emerelles Lager knien zu dürfen, und ihr dann etwas ins Ohr geflüstert. Nur er und Alfadas waren Zeugen dieser seltsamen Szene gewesen. Hinterher hatte Horsa dann seine Gefolgsleute belogen und behauptet, sich ausführlich mit der Königin besprochen zu haben. Sie waren wie Kinder, die Menschen! Mit großen Augen hatten sie an den Lippen ihres Königs gehangen. Seit sie den Kentauren Orimedes gesehen hatten, hätten sie wohl alles geglaubt. Immer wieder hatten sie den Pferdemann berühren wollen.
»Seid ihr fertig?«, fragte Lyndwyn drängend. Goldenes Licht stieg aus dem Fels, und ein Tor öffnete sich. »Kommt schon!«
Alfadas trat einen Schritt zurück. »Auf bald, Schwertmeister.« Er nickte auch Orimedes und Gondoran zu, der auf dem Rücken des Kentauren ritt.
»Auf bald, mein Freund!« Ollowain trat mit einem raschen Schritt ins Licht. Es war fast eine Flucht. Lyndwyn führte sie nur wenige Schritte weit durch das Nichts, dann traten sie aus einem zweiten Tor. Eine weite, verschneite Hügellandschaft breitete sich vor ihnen aus. Der Wind verfing sich heulend in den Ästen eines abgestorbenen Baumes, der dicht beim Tor stand. Von seinen bleichen Ästen hingen Pferdeschädel und zerschlagene Schilde.
Orimedes begrüßte die Winterlandschaft mit einem Freudenschrei. Dann klopfte er Lyndwyn so kräftig auf die Schulter, dass sie fast mit dem Gesicht voran in den Schnee gestürzt wäre. »Das hast du gut gemacht, Hexe! Noch nie bin ich so schnell hierher zurückgekehrt.«
»Wo sind deine Männer?«, fragte Gondoran ungehalten. Dem Holden klapperten die Zähne. Er streifte sich einen Pelzsack über, den Asla für ihn genäht hatte, ein unförmiges Ding mit Löchern für Kopf und Arme. Der Kentaur breitete die Arme aus, als wolle er das Land umfassen. »Irgendwo dort draußen. Mein Volk wandert. Wir bleiben nie lange an einem Ort. Ich werde sie finden. Glaube mir, es wird dir hier gefallen. Den Wind in den Haaren über die Hügel zu galoppieren, das ist wunderbar!«
Gondoran schnitt eine säuerliche Grimasse. »Ich gebe ja zu, ich habe noch nie zuvor Schnee gesehen. Aber mir scheint es so, dass dies die einzige Form von Wasser ist, die mir nicht zusagt.« Er führte die Hände an die Lippen und blies sich auf die klammen Finger.
»Du wirst dich daran gewöhnen.« Der Kentaur trug nicht einmal einen Umhang oder eine Weste. Ihm schien die Kälte nicht das Mindeste auszumachen. Der Atem stand ihm in kleinen Wolken vor dem Mund. Seine Hufe zerstampften den Schnee.
»Ich werde meine Krieger in die Snaiwamark bringen. Es wird ein paar Wochen dauern, Ollowain. Man zieht nicht in den Krieg, ohne sich zuvor ordentlich betrunken zu haben. Und jeder der Stämme wird erwarten, dass ich auf ein Fest bleibe.« Der Kentaur grinste breit. »Es werden aufreibende Wochen sein.«
»Wenn du das vorher gesagt hättest, wäre ich in der Welt der Menschen geblieben«, murrte Gondoran. »Mit einem Kentauren inmitten einer Welt aus gefrorenem Wasser von Saufgelage zu Saufgelage zu ziehen! Was mag das Schicksal noch für Proben für mich bereithalten?«
»Hatte ich gesagt, dass wir von Gästen erwarten, dass sie mindestens ein Methorn mit uns leeren? Alles andere wäre eine Beleidigung.«
»Wenn ihr nicht in euren Met pinkelt, werde ich das schon schaffen.«
Orimedes tätschelte dem Holden den Kopf. »Brav. Meine Leute werden viel Spaß mit dir haben, mein Freund.« Dann wandte er sich an Ollowain. »Viel Glück, Schwertmeister. Wir sehen uns in der Snaiwamark!« Mit einem Jauchzen, das wie Pferdewiehern klang, stürmte er den Hang hinab.
»Nun sind wir also allein«, stellte Lyndwyn fest. Sie trug noch immer ihre zerrissenen Kleider von der Flucht. Etwas aus den groben Stoffen der Menschen auf ihrer Haut zu dulden, hatte sie rundweg abgelehnt. Herausfordernd blickte sie Ollowain an. Erwartete sie eine Entschuldigung dafür, dass er sie wie eine Verräterin behandelt hatte?
»Findest du den Weg nach Phylangan?«, fragte er kühl.
»Findet deine Zunge den Weg zum Eingeständnis meiner Unschuld?«, erwiderte sie spitz.
»Du glaubst, ich traue dir, weil du gezwungen warst, der Königin zu helfen?«
»Weißt du, was es heißt zu heilen, Ollowain? Es heißt, die Schmerzen der Verwundeten mitzuerleben. Es war nicht der Ziegelsplitter, der mir auf der Flucht das Bewusstsein raubte. Es war der Schmerz der Königin. Sie hatte dreiundfünfzig Brandverletzungen, sieben gebrochene Knochen, eine durchbohrte Lunge und eine klaffende Wunde in der Brust. Allein die Brustverletzung hätte ausgereicht, sie umzubringen, wäre ich nicht gewesen. Dein Leben habe ich auch gerettet. Was muss ich noch tun, um dich davon zu überzeugen, dass ich nicht das Zeichen zur Beschießung von Vahan Calyd gegeben habe?«
Ollowain sah sie abschätzend an. Sie fror nicht. Lyndwyn musste einen Zauber um sich gelegt habe. Einen dieser verfluchten Zauber, die er niemals erlernt hatte. Und sie musste sich nicht einmal darauf konzentrieren. Es geschah einfach so nebenbei.
»Du müsstest deine Haut abstreifen, damit ich dir vertraue. Du gehörst zur Sippe Shahondins. Er liegt in Fehde mit der Königin. Es ist die Haut, in die du geboren wurdest ... Ich werde dir niemals trauen. Und nun bring uns nach Phylangan.«
»Und wenn ich einfach gehe? Ich könnte überall hingehen.«
Der Schwertmeister legte die Hand auf seinen Waffengurt.
»Glaubst du, du bist schneller durch das Tor, als mein Messer fliegt, Verräterin?«
»Ich bin eine Magierin. Es wäre mir ein Leichtes, mich vor deiner Klinge zu schützen.« Sie sah ihn herausfordernd an.
»Wollen wir es ausprobieren?«
»Wenn ich sterbe, sitzt du hier fest.« Sie deutete nach Süden. Der Kentaur war nur noch ein kleiner schwarzer Punkt zwischen den verschneiten Hügeln. »Orimedes kann dich nicht mehr sehen. Die Kälte wird dich umbringen, wenn du hier zurückbleibst.«
»Glaubst du, das würde mich von irgendetwas abhalten?« Lyndwyn senkte den Blick. »Und die Königin? Wer holt Emerelle aus dem Land der Menschen, wenn du stirbst?«
»Orimedes weiß, wo Emerelle ist. Er wird sie retten, wenn ich es nicht mehr kann.«
»Deshalb also hat die Königin dich ausgewählt.«
»Wovon redest du?«
»Von dir, Ollowain«, fuhr ihn die Magierin aufgebracht an.
»Es gibt dich gar nicht. Du kennst nur das Ziel, und du opferst alles, um dorthin zu gelangen. Das könnte ich verstehen, wenn du es für dich tun würdest. Aber du bist nur eine leere Hülle. Es gibt eine Sorte Wespen, die legen ihre Eier in andere Insekten. Die Brut zerfrisst diese Wirte langsam von innen heraus. So bist du, Ollowain. Eine leere Hülle, in die Emerelle ihre Eier abgelegt hat. Dich gibt es nicht mehr. Du lebst nur zu ihrem Nutzen.«
»Bist du fertig?«
Sie sah ihn nur wütend an. Oder war da noch etwas anderes in ihrem Blick?
»Bring mich nach Phylangan!«
Sie verbeugte sich wie eine Dienerin. »Wie du befiehlst, mein Gebieter.« Lyndwyn kniete sich neben den abgestorbenen Baum. Ihre linke Hand tastete über den Schnee. Die Rechte legte sie auf ihr Herz. Die Magierin schloss die Augen.
Ollowain trat dicht an sie heran. Sie war hübsch. Davon durfte er sich nicht blenden lassen! Vor allem war sie die Enkelin Shahondins. Sie war eine Verräterin.
Ein Tor aus warmem, rotem Licht erhob sich. Es hatte die Farbe des Abendrots nach einem klaren Sommertag. »Gehen wir!« Er packte Lyndwyn grob am Handgelenk und trat in das Nichts. Fünf Schritte nur auf dem goldenen Pfad, und sie standen vor einem Tor, das in allen Farben des Regenbogens erstrahlte. »Das Ziel«, sagte die Magierin.
Ollowain hielt sie noch immer am Handgelenk. Er war ihr ausgeliefert. Von hier aus war es ihm unmöglich zu sagen, ob sie ihn wirklich nach Phylangan gebracht hatte. Ebenso gut mochte das Tor in den Fürstenpalast von Arkadien führen. Mitten in Shahondins Schlangengrube. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Entschlossen trat er durch das Licht. Ein Abgrund lag vor seinen Füßen. Er stand auf einer Brücke aus milchweißem Stein. Es gab kein Geländer. Der Boden war poliert. Jedes Wasser musste abperlen. Die Shalyn Falah! Das konnte nicht sein! Es gab keinen Albenstern auf der Brücke! Und die Steilklippen dort waren nicht mit Wald bedeckt.
Verwirrt sah der Schwertmeister sich um. Die Brücke ragte nur ein kleines Stück in einen Talkessel hinein, der wohl zwei Meilen oder mehr durchmessen mochte. Die steilen Berghänge waren terrassiert. Die Mauern ahmten Felsstrukturen nach, sodass sie auf den ersten Blick kaum auffielen. Es war ihr eleganter Schwung, der sie verriet. Nach keinem erkennbaren System geordnet, erhoben sich steile Felsnadeln aus dem Tal. Die höchsten schienen bis fast in den Himmel zu reichen. Feine weiße Wasseradern rannen von ihren Spitzen hinab durch gewundene Riefen im blaugrauen Granit. Das ganze Tal wirkte zu harmonisch, um natürlich zu sein. Ollowain kannte es. Fast fünfhundert Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war. Die Himmelshalle war damals noch viel kleiner gewesen.
Der Schwertmeister legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihren Häuptern war Illusion. Es war durchscheinend blauer Fels, so wie auf der Insel bei Vahan Calyd. Doch hier hatte man alle Metalladern entfernt, um die Illusion noch wirklicher erscheinen zu lassen. Und es gab sogar echte Wolken! Sie hingen unter der durchscheinenden Decke. Die Wolken bewegten sich nur vage, so wie Nebelschleier an einem windstillen Morgen. All das hier war eine riesige Höhle. Das Herz von Phylangan, dem steinernen Garten, der Felsenburg, die am einzigen Pass zur Hochebene von Carandamon wachte. Bei seinem letzten Besuch hatte der Albenstern noch in einer Grotte weit oberhalb der Himmelshalle gelegen. Die Baumeister und Magier der Normirga mussten die Halle gewaltig ausgedehnt haben.
»Bring mich von hier fort«, sagte Lyndwyn leise. Sie zitterte am ganzen Leib. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Abgrund.
Ollowain seufzte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie stand nur einen Schritt hinter ihm. »Komm.«
»Ich ... Ich kann nicht.« Lyndwyn ging in die Hocke. Sie presste beide Hände fest auf den Boden. Noch immer blickte sie wie gebannt in den Abgrund. »Es ist, als rufe mich die Tiefe«, stammelte sie. »Ich soll springen. Fliegen wie ein Vogel.«
»Schließ deine Augen«, sagte Ollowain. »Du darfst nicht hinsehen. Ich werde dich hinüberführen. Komm.« Der Schwertmeister ging neben ihr in die Hocke. »Wende deinen Blick ab.«
»Das ... der Abgrund, er hält mich gefangen. Ich ...«
Er griff unter ihr Kinn und zwang sie, ihm ins Antlitz zu sehen. »Siehst du meine Augen? Verlier dich in diesem Abgrund. Sag mir, welche Farbe sie haben.« Sie wollte den Kopf wieder zur Seite neigen, doch er hielt ihr Kinn fest. Ihre Haut war klebrig vor Schweiß. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Wie sehen meine Augen aus?«
»Sie sind grün.«
Der Schwertmeister griff sie am Handgelenk. Noch immer presste sie ihre Handflächen auf den Boden. Ihre Finger krümmten sich in dem vergeblichen Versuch, Halt auf dem glatten Stein zu finden.
»Du wirst jetzt aufstehen. Und sieh mir weiter in die Augen! Findest du nicht, dass grün eine unangemessene Beschreibung ist? Was für ein Grün ist es? Sieh genauer hin.« Ollowain erhob sich. Er hielt Lyndwyn mit seinem Blick gefangen. Zögerlich richtete sich die Magierin auf.
»Deine Augen haben die Farbe von Moos, wie man es auf den Steinen des versiegelten Albensterns nahe der Shalyn Falah findet. Deine Iris ist eingefasst von einem dünnen, schwarzen Rand. Das Grün ist nicht ebenmäßig. Feine Lichter und Schatten durchziehen es.«
Ollowain ging langsam rückwärts. Lyndwyn folgte ihm mit unsicheren Schritten. Er hielt nun ihre beiden Hände. Er musste in ihr Antlitz sehen, damit sie ihren Blick nicht abwendete. Unter ihnen ging es mehr als zweihundert Schritt in die Tiefe.
»Wenn der Abgrund deiner Pupillen sich weitet, wandelt sich das Grün. Es wird dichter. Dunkler. Ich sehe mein Spiegelbild in deinen Augen. Verzerrt. Eine groteske Kreatur. So finde ich in deinen Augen wohl ein Abbild dessen, was du in mir siehst.«
Lyndwyn war ihm sehr nahe gekommen. Ihr Atem berührte sanft seine Lippen. Sie war schön ... Begehrenswert. Ollowain räusperte sich. Ging es dieser verfluchten Magierin schon wieder so gut, dass sie versuchte, einen Liebeszauber auf ihn zu legen? Hatte sie die Höhenangst nur vorgetäuscht?
»Es ist die Krümmung meiner Augäpfel, die dein Spiegelbild verzerrt, Lyndwyn. Nicht mehr und nicht weniger steckt dahinter.«
»Deine Augäpfel sind von makellosem Weiß«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Es gibt keinen Anflug von Gelb, keine geplatzten Adern, die das Weiß mit obszönem Rot beleidigen. Deine Augenwimpern sind dicht. Sie erheben sich in sanftem Schwung. Manche Elfe würde dich um diese Wimpern beneiden. Sie sind makellos, so wie der Ruf des Wächters der Shalyn Falah. Des Schwertmeisters. Des Vertrauten der Königin, der nur seine Pflicht kennt.«
Ihre Stimme war ein wenig zu dunkel für eine Frauenstimme. Doch gerade das ließ sie in Ollowains Ohren umso sinnlicher klingen. Die Stimme stand in starkem Gegensatz zu den schmalen Lippen. Sie wirkten ungeküsst. Was dachte er denn für einen Unsinn! Auch Lyndwyns Augen waren grün. Doch sie waren von einem lichten Grün, durchsetzt mit goldenen Sprenkeln.
Der Schwertmeister versuchte sich ganz auf seine Schritte zu konzentrieren. Er senkte seinen Blick nicht, doch er verschloss sein Herz vor dem, was er sah. Lyndwyn hatte etwas an sich, das ihn tief berührte und seine Gefühle verwirrte. Sie wusste, wie es war, sich einer Idee zu opfern. Die Vollkommenheit anzustreben. Alle anderen zu überflügeln. Welche Schwäche wollte sie wohl hinter ihrem Ehrgeiz verstecken?
Nein, schon wieder waren seine Gedanken ihr viel zu nah! Sie war eine Verräterin! Achte nur auf die Schritte, ermahnte er sich. Er spürte den festen Stein durch die weiche Sohle seiner Stiefel. Glatt, rutschig war er. Und doch war diese Brücke nicht so tückisch wie die wirkliche Shalyn Falah. Es gab kein Sprühwasser, das den Stein benetzte. Keine böigen Winde, die an den Kleidern zerrten.
»Glaubst du, dass Augen das Fenster zur Seele sein können?«, fragte Lyndwyn.
»Fände ich Gold in deiner Seele?«
»Da du mich für eine Lügnerin und Verräterin hältst, wirst du dir diese Frage wohl selbst beantworten müssen, denn welchen Wert hätten meine Worte für dich?«
Ollowain war überrascht. Sie sagte das nicht vorwurfsvoll. Im Gegenteil. Ihre Stimme klang eher traurig. Sei auf der Hut, ermahnte sich der Schwertmeister. Sie treibt nur ihr Spiel mit dir. Sie will dich einfangen! Dein Misstrauen mit sanften Worten einlullen.
Der Boden knirschte unter Ollowains Schritt. Der Stein war nicht mehr poliert. Er hatte eine raue Oberfläche, auf der die Sohle besseren Halt fand. Der Schwertmeister blickte über die Schulter. Sie hatten die Brücke verlassen. Jemand klatschte.
»Seit mehr als hundert Jahren bin ich der Wächter der Mandan Falah, und noch nie habe ich jemanden auf diese Weise über die Brücke schreiten sehen.«
Ein Elfenkrieger trat hinter einem Rosenbusch hervor. Er trug einen blassgrauen Waffenrock, dessen Säume mit einer dünnen, silbernen Borte abgesetzt waren. Von seinen Schultern wallte ein langer Umhang in dunklem Rot. Er wurde von einer ringförmigen Fibel gehalten, die eine Schlange zeigte, welche sich selbst in den Schwanz biss. Der Schwertgurt und die Lederscheide der Waffe waren vom gleichen Rot wie der Umhang. Ebenso der Pferdeschweif, der den hohen, spitz zulaufenden Helm schmückte, den der Wächter lässig unter seinen Arm geklemmt hatte.
Der Elf hatte langes, fast platinblondes Haar, das ihm in Locken auf die Schultern herabfiel. Seine blasse Haut und die ebenmäßigen Züge gaben seinem Antlitz etwas Puppenhaftes.
»Ihr seid der Glanz dieses Mondes«, sprach der Wächter mit weicher, einschmeichelnder Stimme. »Es geschieht nur sehr selten, dass jemand durch den Albenstern in die Himmelshalle tritt. Hättet ihr die Freundlichkeit, euch vorzustellen?«
»Ich bin Ollowain, Schwertmeister der Königin Emerelle, und dies ist Lyndwyn, Magierin an Emerelles Hof.« Der Wächter schürzte die Lippen. »Eure Antwort ist so spröde, wie euer Erscheinungsbild abenteuerlich ist. So sagt mir nun, was euer Begehr ist.«
Obwohl der Krieger mit seinen Worten die größtmögliche Distanz hielt, bemerkte Ollowain in seinem Blick eine kaum verhohlene Neugier. Er war sich sicher, dass der Krieger seinen Namen schon gehört hatte. Wer an dieser makaberen Kopie der Shalyn Falah wachte, wusste mit Sicherheit, wer über viele Jahrzehnte das Kommando an jener Brücke geführt hatte, die das Vorbild für die Mandan Falah war. »Wir wünschen Landoran zu sprechen, den Fürsten der Snaiwamark und der Hochebene von Carandamon. Wir reisen im Dienst unserer Herrin, der Königin Emerelle. Und unser Begehr duldet keinen Aufschub.«
»Gestatte mir, euch darauf hinzuweisen, dass es an mir liegt, über die Dringlichkeit des Begehrens nicht geladener Gäste zu entscheiden. So sehr es dem Fürsten gefällt, mit weit gereisten Gästen zu plaudern, so sehr nehmen ihn auch seine Pflichten in Anspruch. Ich werde ihm einen Boten schicken. Darf ich euch in den Gästepavillon bitten, bis uns eine Antwort erreicht?«
Der Wächter klatschte in die Hände, und hinter dem Rosenbusch trat ein Kobold hervor. Der kleine Kerl trug eine graue Livree und schwarze Stiefel, die mit silbernen Knöpfen verziert waren. Die Farben harmonisierten mit seiner dunklen, olivfarbenen Haut. Das Grau der Livree war gedeckter als jenes, das der Elfenkrieger trug.
»Dolmon, du hast gehört, was unsere Gäste vorgetragen haben. Berichte dem Fürsten bitte davon. Ach ...« Der Krieger wandte sich wieder an Ollowain. »Du hast nicht zufällig ein Schreiben, das dich als einen Gefolgsmann der Königin ausweist?«
»Nein. Ehrlich gesagt, ist es das erste Mal, dass man mich aufhält, wenn ich in Diensten der Königin reise. Aber ich sehe ein, dass man Zugeständnisse an die Abgelegenheit von Phylangan machen muss. Inmitten der Wildnis ist natürlich nicht bekannt, wer ein Vertrauter der Königin ist.« Ollowain bemerkte, wie der Kobold hinter dem Rücken seines Herrn grinste.
»Du darfst gehen, Dolmon«, sagte der Wächter. »Und trödele nicht herum!«
»Darf ich auch deinen Namen erfahren?«, fragte Ollowain.
»Nur für den Bericht, den ich meiner Königin über meine Reise vorlegen muss. Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie buchhalterisch Emerelle in manchen Angelegenheiten ist.«
Der Wächter straffte sich. »Ronardin heiße ich.«
»Sehr schön, Ronardin. Dann geleite uns nun in den Gästepavillon, und sei bitte so diskret, meine Reisegefährtin nicht durch deine Blicke zu brüskieren.« Der Krieger hatte gar nicht in Lyndwyns Richtung geschaut, dennoch erblasste er. Er beeilte sich, ihnen voranzugehen und sie zu einem kleinen Marmorpavillon zu bringen. Von dort aus hatte man einen wunderbaren Blick auf die Himmelshalle und die Mandan Falah. Die Brücke war der Shalyn Falah in allen Einzelheiten nachempfunden. Nur, dass sie mitten im Schwung im leeren Raum endete. Vom Pavillon aus gesehen, waren ihre weiten Bögen wie Fenster, die die Landschaft zergliederten. Diese Gartenlandschaft zu pflegen, musste unendliche Mühen kosten. Mühen, die vermutlich auf den Schultern unzähliger Kobolde lagen. Die Himmelshalle mochte größer geworden sein, aber an den wesentlichen Dingen, die die Gesellschaft der Normirga ausmachten, hatte sich nichts verändert. Und Ollowain war erschrocken, wie schnell er zu dem überheblichen Tonfall seines Volkes zurückgefunden hatte. Oder hatte er ihn niemals abgestreift?
Auf einem schmalen Tisch waren auf einer Silberplatte Trauben, Birnen, Äpfel und Nüsse zu einem malerischen Stillleben arrangiert. Eine Kristallkaraffe mit rotem Wein und vier kostbare Gläser rundeten das Bild ab. Ollowain nahm sich eine große Weintraube und aß sie. Ronardin stand am Eingang des Pavillons und wich jedem Blick aus. Den verleumderischen Vorwurf, Lyndwyn anzüglich angesehen zu haben, hatte er offensichtlich noch nicht verwunden. Er achtete nun peinlich darauf, ihr stets den Rücken zuzuwenden. Der Schwertmeister lächelte. Ronardin musste noch sehr jung sein, sonst wäre ihm bewusst, dass er mit diesem Verhalten den Vorwurf herausforderte, einen Gast nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu behandeln.
Der Ausblick in die riesige Höhle mit ihren künstlichen Terrassenwäldern hatte etwas Beruhigendes. Ollowain genoss die süßen Trauben und den mit Honig, Zimt und Nelken veredelten Wein. Es war leicht, sich in Phylangan wohl zu fühlen, wenn man sich den Gesetzen der Normirga fügte.
Lyndwyn hatte sich auf einer Bank niedergelassen. Die Beine weit gespreizt, saß sie in wenig damenhafter Haltung da. Sie hatte sich weit zurückgelehnt. Ihr Gesicht spiegelte Langeweile und Müdigkeit. Auch sie hatte sich eine Traube genommen. In Gedanken verloren, rieb sie eine der Früchte zwischen den Fingern.
Der Pavillon war ein guter Ort, um zu warten. Ollowains Blick wanderte über die Waldterrassen. Er könnte hier Stunden sitzen, ohne des Schauens müde zu werden. Der Anblick der Natur vermag die Seele zu heilen, hatte ihm seine Mutter vor Jahrhunderten erzählt. Damals war er zu ungeduldig gewesen, um sich dieser Wahrheit zu öffnen. Und er war auch zu jung gewesen, um an einer verletzten Seele zu leiden. Erst die Zeit hatte ihn von der Weisheit in den Worten seiner Mutter überzeugt.
»Mein Junge! Es ist schön, dich zu sehen!« Lautlos war Landoran in den Pavillon getreten. Er hatte es schon früher geliebt, überraschend zu erscheinen. Und gleich mit den ersten beiden Worten machte er Ollowain klar, dass sich an ihrem Verhältnis zueinander nichts geändert hatte. Für den Fürsten war er noch immer ein Junge. Aller Ruhm vermochte den Makel nicht aufzuheben, der ihm anhaftete. Was dies anging, waren die Gesetze der Normirga klar und gnadenlos. Wer nicht in der Lage war, sich aus eigener Kraft und völlig mühelos gegen die eisige Kälte des Landes zu schützen, der galt als Kind. Ganz gleich, wie alt er war und was er geleistet hatte. Ihm war verboten, die Felsenburgen ohne Begleitung zu verlassen, denn die eisige Kälte des Landes konnte einen binnen Stunden töten. Doch was auf den ersten Blick wie Fürsorglichkeit erscheinen mochte, war ersonnen, um die Herrschaft der Zauberweber zu stärken. Kein anderes Elfenvolk war so stolz auf seine magischen Kräfte wie die Normirga. Und weil jene, denen diese Gabe nicht geschenkt war, kaum einen Weg aus den Felsenburgen fanden, lernten die übrigen Albenkinder meist nur mächtige Zauberer aus dem Volk des Nordens kennen. Auch stammte die bedeutendste aller Zauberweberinnen, Emerelle, von den Normirga.
Dass Ollowain es gelungen war, aus dieser Tyrannei auszubrechen, war vielen seines Volkes unliebsam. Ollowain erinnerte sich, dass auch er die Gabe geerbt hatte. Doch am Tag des Todes seiner Mutter war seine Zauberkraft verloschen. Manchmal dachte der Schwertmeister, dass vielleicht nur der Wille, sich dieser Mächte zu bedienen, in ihm gestorben war. Er sah seinen Vater an, der wie kaum ein anderer das Bild der Normirga unter den Albenkindern verkörperte. Er strahlte Kälte und Macht aus, und es war schwer, seinem Blick standzuhalten. »Du hast dich auch nicht verändert«, entgegnete Ollowain. Er streckte Landoran die Hand entgegen, um ihn auf Distanz zu halten und eine Umarmung zu verhindern.
Landorans Handdruck war fest. Der Fürst hatte silbergraues Haar. Er trug ein langes, fließendes Gewand aus dunkelgrüner Seide. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt. Ein dünner, silberner Stirnreif hielt sein langes Haar zurück. Sein Vater war sichtbar gealtert, seit sie einander das letzte Mal begegnet waren. Nur in seinen grauen Augen brannte noch die alte Kraft. Ein Duft nach frischem Grün haftete ihm an, so als habe er eben noch die Zweige eines Rosenbuschs beschnitten.
»Es ist schön zu sehen, dass du nicht zu den Toten gehörst, Junge.« Der Fürst lächelte. »Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn die Nachrichten gestimmt hätten.«
»Ich sehe, du bist im Bilde, Fürst.«
»Schlechte Neuigkeiten haben Flügel.« Landoran rupfte ein paar Trauben ab. »Es heißt, die Königin sei tot. Die Trolle haben sie auf einem Platz ausgestellt und alle Überlebenden gezwungen, an ihr vorüberzugehen.«
»Ich nehme an, die Leiche war in keinem sonderlich ansehnlichen Zustand mehr.«
Der Fürst schob sich eine Traube in den Mund. »Sie trug die Schwanenkrone.«
»So einfach ist das? Eine Krone reicht aus, eine Tote zur Königin zu machen?«
»Du weißt, wie das mit Emerelle ist, Junge. Sie hat nicht nur Freunde.« Er blickte flüchtig zu Lyndwyn. »Für manche Fürstengeschlechter ist es in der Tat so einfach.«
»Gilt das auch für ihre eigene Sippe?«
Landoran hob eine Braue. »Was genau willst du? Warum bist du gekommen, Ollowain? Der Weg hierher ist dir doch sicherlich nicht leicht gefallen.«
»Ich wollte dich vor den Trollen warnen. Du weißt, dass sie hierher kommen werden. Es werden gewiss ein paar tausend sein.«
»Leg in Gedanken noch ein paar tausend drauf, und dann verdoppele diese Zahl.« Landoran schob sich eine weitere Traube in den Mund. »Es heißt, es sind zwanzigtausend.«
Ollowain sah ihn verblüfft an. »Das kann nicht sein! So viele...«
»Glaub mir ruhig. Ein Flüchtling hat es mir erzählt. Vor dem Hafen von Vahan Calyd sollen fast hundert Trollschiffe gelegen haben. Und jedes hatte mehr als zweihundert dieser Blut saufenden Ungeheuer an Bord. Die Zeit in der Welt der Menschen scheint ihnen gut bekommen zu sein. Sie haben sich vermehrt wie die Kobolde.«
»Zwanzigtausend?«, wiederholte der Schwertmeister ungläubig. Er versuchte, sich eine solch ungeheure Menge von Trollkriegern vorzustellen. Das war kein Heer mehr. Das war eine Naturgewalt! »Sie werden hierher kommen«, sagte Ollowain noch einmal nachdrücklich. »Wie willst du sie aufhalten, Landoran?«
»Niemand hat jemals die Wälle von Phylangan überwunden! Ihre Heerscharen werden an unseren Festungsmauern zerschellen, wie auch die mächtigste Welle an einer Steilküste zerbricht. Der steinerne Garten wird niemals erobert werden!«
»Nein, wird er nicht? Man hat niemals davon gehört, dass Trolle auf Schiffen fahren! Auch hat man niemals von einem so großen Trollheer gehört. Das Wort niemals scheint seine Bedeutung für die Trolle verloren zu haben.«
»Verfällst du jetzt nicht ein wenig in Panik, Junge?«
»Ich hätte mir auch niemals vorstellen können, Vahan Calyd brennen zu sehen!«, entgegnete der Schwertmeister schroff.
»Und doch ist es geschehen. Mach nicht den Fehler, in blinder Zuversicht vor dem, was kommen wird, die Augen zu verschließen.«
»Ich war in der Tat ernsthaft beunruhigt, bevor ihr eingetroffen seid«, gab Landoran zu. »Aber ihr habt ja freundlicherweise die Lösung aller Probleme mitgebracht.« Er wandte sich lächelnd an Lyndwyn. »Diese junge, ein wenig unpassend gekleidete Dame, die offensichtlich keine höfische Erziehung genossen hat, wird uns eine unermessliche Hilfe sein. Vor allem das, was sie – für neugierige Blicke so wohl verborgen – um ihren Hals trägt. Als Ronardin dich nach einem Beweis dafür gefragt hat, dass ihr tatsächlich Boten der Königin seid, hättet ihr ihm ruhig eingestehen können, dass Emerelle euch mit ihrem Albenstein geschickt hat. Hast du vielleicht geglaubt, ich würde die Aura seiner Macht nicht spüren? Mit seiner Kraft wird es uns gelingen, alle Bedrohungen zu überwinden.«
Ollowain hätte Lyndwyn ohrfeigen können. Sie hatte der bewusstlosen Königin das kostbarste Artefakt des Elfenvolkes gestohlen. Jenen Stein, der ihnen einst von den Alben geschenkt wurde, bevor die rätselhaften Alten für immer verschwanden. Es hieß, jedes ihrer Völker habe einen solchen Stein erhalten. In ihnen wohnten ungeheure Kräfte. Wer sie weise einsetzte, konnte mit ihrer Hilfe die Welt verändern.
Landoran durfte auf keinen Fall wissen, dass Lyndwyn den Stein gestohlen hatte. Andernfalls hätte er wohl keine Skrupel, sich seinerseits das kostbare Artefakt anzueignen. »Erkennst du nun die Bedeutung unserer Mission?«, fragte Ollowain herausfordernd. »Emerelle hat Lyndwyn ermächtigt, die Kraft des Albensteins im Sinne der Verteidigung von Phylangan zu nutzen. Die Königin möchte um jeden Preis verhindern, dass sich ein Massaker wie in Vahan Calyd wiederholt.«
»Wo ist Emerelle jetzt?«, fragte der Elfenfürst in beiläufigem Ton.
»An einem Ort, von dem aus sie die Verteidigung Albenmarks vorbereitet.«
»Wäre der beste Ort dafür nicht unsere Festung?«
Schwang eine Unsicherheit in der Stimme des Fürsten mit? Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühle. Aber er wirkte angespannt. Er drückte mit Daumen und Zeigefinger auf die letzte Traube in seiner Hand, sodass sie jeden Moment zerplatzen mochte. Als Landoran Ollowains Blick bemerkte, schob er die Frucht in den Mund.
»Emerelle ist keine Kriegerin«, antwortete der Schwertmeister entschieden. Er wusste nicht, was den Fürsten verunsicherte, doch er spürte deutlich, dass er dieses eine Mal die Oberhand gewinnen konnte. Er – der gedemütigte Junge, der vor Jahrhunderten Carandamon verlassen hatte, weil es ihm nicht gelungen war, den Schutzzauber gegen die Kälte zu erlernen – war zurückgekehrt, und er würde dem Fürsten, seinem Vater, seinen Willen aufzwingen! »Der Platz der Königin ist nicht innerhalb der Mauern einer Festung, die bald von zwanzigtausend Trollen bestürmt werden wird. Sie wird versuchen, die Völker Albenmarks im Kampf gegen die alten Feinde zu vereinen. Überall anders wird sie mehr bewirken als hier. An ihrer Stelle hat sie mich geschickt. Ihr Schwert! Ihren ersten Krieger. Im Namen Emerelles fordere ich hiermit das Kommando über Phylangan und alle Truppen, die bis zur Belagerung aus den Felsschlössern von Carandamon herangeführt werden können.«
Eine steile Falte erschien zwischen den Brauen des Fürsten. Einen Augenblick nur. Dann entspannten sich seine Züge, und er brach in herzhaftes Gelächter aus.
»Du, der du nach den Gesetzen unseres Volkes noch ein Kind bist, forderst das Kommando. Das ist absurd! Meine Krieger würden dir nicht folgen, Junge. Und damit nicht genug! Du wagst es, dich das Schwert der Königin zu nennen? Ich weiß, dass du das Kommando über ihre Wachen geführt hast, und ich habe es niemals begriffen. In meinen Augen verdient es kein Krieger in Albenmark weniger als du, diesen Titel zu führen. Ich war Zeuge, wie du die Königin verraten hast, als die Schärfe des Schwerts verlangt wurde!« Er deutete hinaus zu der Brücke, die mitten über dem Abgrund endete. »Du weißt, an welcher Stelle der Albenstern liegt? Dort, wo der König und die Fürsten der Trolle in den Abgrund gestoßen wurden. Dort, wo der Ort deiner Schande ist! Der Platz, an dem du der Königin den Befehl verweigert hast. Erinnerst du dich an die Nacht, in der du dich gegen alle Elfenvölker gestellt hast? Wer das Leben von Trollen verschont, der raubt unseren Frieden!«
»Für mich ist dies der Platz meiner Ehre, Landoran. Ich konnte das Unrecht nicht verhindern. Doch zumindest hatte ich keinen Anteil daran!«
»Was für ein Unrecht? Die Trolle hatten diesen Krieg begonnen. Hast du vergessen, wie sie dein Volk von der Hochebene von Carandamon vertrieben haben? Als es in ganz Albenmark keinen anderen Platz mehr für uns gab als die stickigen, von Fiebern verseuchten Mangroven am Waldmeer? Für mich war die Nacht an der Shalyn Falah nach Jahrhunderten der Triumph der Gerechtigkeit.«
»Du bist verblendet, Landoran. Unser Volk konnte zurück nach Carandamon, dies war Recht. Aber diese Felsenburg hier hat uns niemals gehört. Ebenso wenig wie die Snaiwamark, die den Trollen von den Alben geschenkt wurde. Wir haben dieses Land gestohlen, als wir die Macht dazu hatten. Wir haben seine Fürsten ermordet. In der Nacht auf der Shalyn Falah haben wir Wind gesät, Landoran. Und nun ist die Stunde gekommen, in der wir Sturm ernten werden.«
Der Elfenfürst hatte seine Fassung wieder gefunden. Je mehr Ollowain sich in Rage redete, desto gelassener wirkte Landoran. Er ging wieder hinüber zur Obstplatte und rupfte mit aufreizender Ruhe einige Trauben ab. Dann deutete er hinaus zur Himmelshalle.
»Weißt du, was das hier war, als wir ankamen, Ollowain? Ein Dreckloch. Hier gab es nur ein paar Höhlen, kaum besser als Tierbauten. Es stank nach Fäkalien und räudigem Fell. Nirgends gab es sauberes Wasser. Und nun sieh dir an, was wir daraus gemacht haben! Ja, es gab hier einmal ein paar Höhlen, in denen Trolle gehaust haben. Aber Phylangan, so wie du es nun siehst, der Felsgarten, ist eine Blüte, die dein Volk hat wachsen lassen, Ollowain.«
»Was ich sehe, wenn ich dort hinausblicke, ist der Sieg der Ästhetik über die Ethik. Ich sehe einen Hinrichtungsplatz, der zum landschaftsgestaltenden Mittel wurde. Ich sehe eine Brücke, die ins Leere führt. Damit hast du wahrlich ein Sinnbild für den Weg erschaffen, auf den du unser Volk geführt hast, Landoran!«
Der Fürst lächelte spöttisch. »Schön formuliert für einen Mann des Schwertes, Ollowain. Man merkt dir doch immer noch an, welchem Volk du entwachsen bist. Freilich haftet deiner Argumentation der Makel kindlicher Entrüstung an. Doch was will man von einem Jungen, der nie zum Manne geworden ist, auch anderes erwarten? Alles, was du über die Brücke sagst, zeigt, wie sehr Zorn und Scham dich verblendet haben. Sie ist kein Weg ins Leere. An ihrem Ende liegt ein Albenstern. Der Kundige kann von dort ins Netz der Albenpfade gelangen. So führt dieser Weg also überallhin, wenn man den Mut hat, ihn zu beschreiten.«
»Und er ist ein weit geöffnetes Tor für die Trolle«, mischte sich Lyndwyn plötzlich in das Gespräch ein. »Ich sehe hier keine Verteidigungsanlagen. Was wird geschehen, wenn die Trolle einen Angriff durch den Albenstern wagen?«
»Das ist undenkbar!«, entgegnete Landoran unwirsch.
»Undenkbar? Was glaubst du, wie sie nach Albenmark zurückkehren konnten? Es gibt nur einen Weg, der von der Welt der Menschen hierher führt. Den Weg über die Albenpfade. Sie haben es also schon einmal getan. Warum sollten sie wochenlang die Verteidigungsanlagen von Phylangan bestürmen, wenn es so leicht ist, den steinernen Garten zu erobern?«
»So denken Trolle nicht!«, beharrte der Fürst.
»Du bist ein Schöngeist. Ein Mann, der die völlige Freiheit der Kunst und der Selbstinszenierung über alle Fesseln der Moral und des Geistes verkörpert. Du bist der Schöpfer der Wunder von Vahan Calyd und der Himmelshalle. Glaubst du wirklich, du wüsstest, wie Trolle denken?«, hielt Lyndwyn dagegen.
Der Fürst senkte wie geistesabwesend das Haupt. Die Einwände der Magierin schienen ihn zutiefst berührt zu haben.
Lyndwyn nutzte den Augenblick der Schwäche. »Ich kann verstehen, dass du dich so sehr an die Gesetze deines Volkes gebunden fühlst, dass du dich dem Befehl der Königin widersetzt und Ollowain nicht das Kommando überlassen kannst. Deshalb schlage ich einen Kompromiss vor. Übertrage mir das Kommando. Nach den Gesetzen der Normirga gelte ich als erwachsen, denn ich kann mich mit Leichtigkeit mit meiner Magie gegen die Kälte schützen. Doch was noch schwerer wiegt, Emerelle hat mir den größten Schatz des Elfenvolkes anvertraut.«
Sie zog unter ihrem zerschlissenen Gewand einen rauen Stein hervor, durchzogen von fünf tiefen Furchen. Er wirkte unscheinbar. Wie ein Stück Bruchstein. Und doch erhoben die fünf Furchen ihn zu einem Schmuckstück, ja zu einem Meisterwerk schlichter Harmonie. Er war auf seine Art vollkommen.
»Glaubst du, du kannst mir das Schicksal von Phylangan anvertrauen, wenn Emerelle mich für würdig befand, mich zur Hüterin des Albensteins zu berufen?«
Ollowain verschlug diese Dreistigkeit die Sprache. Kannte diese Diebin und Verräterin denn keine Scham? Er musste sie aufhalten!
Lyndwyn blickte ihn an. »In allen militärischen Belangen werde ich mich dem Rat des Schwertmeisters anvertrauen. Emerelle wollte, dass er die Verteidigung dieser Festung leitet. Ich werde nur die Stimme sein, die seine Befehle trägt. So muss sich keiner deiner Männer dem Wort eines Kriegers unterwerfen, der in den Augen deines Volkes niemals die Mannbarkeit erlangt hat. Auf diese Weise achten wir die Gesetze der Normirga, und zugleich geschieht Emerelles Wille. Wir ...«
Mit ohrenbetäubendem Fauchen schoss eine Fontäne von Wasserdampf aus einem der Quellpfeiler, der sich in der Nähe des Pavillons erhob. Eine dichte weiße Wolke strebte dem falschen Himmel über ihnen entgegen.
Der Fürst war an eine der Säulen des Pavillons getreten. Er wirkte besorgt. Ja, fast schien es, als beschäftige ihn der Dampfausbruch mehr als ihr Streit.
»Dein Vorschlag zeugt von großer Weisheit, Lyndwyn. Ich lege Phylangan in deine Hände, Magierin.« Ollowain konnte nicht fassen, was geschehen war. Diese Intrigantin hatte es binnen weniger Augenblicke geschafft, mit ihren dreisten Lügen das Kommando über eine riesige Festungsstadt an sich zu reißen. Und er konnte nicht gegen sie einschreiten!
Wenn er verriet, dass Lyndwyn den Albenstein gestohlen hatte, würde Landoran ihn ihr vermutlich einfach abnehmen und erklären, es sei zum höheren Wohle aller, wenn sich das mächtige Artefakt in seiner Obhut befinde.
Ohnmächtig vor Wut blickte der Schwertmeister zu der Dampfwolke, die sich immer weiter ausdehnte. Phylangan hatte die weiße Fahne gehisst, und das Schicksal der Stadt lag nun in den Händen jener Elfe, die auch schon den Untergang von Vahan Calyd herbeigeführt hatte. Und er? Er war genauso hilflos wie damals, als sie den Vogel in den Nachthimmel geschickt und das Signal zur Beschießung des Hafens gegeben hatte. Nein, nicht ganz. Diesmal wusste er, wo der gefährlichste Feind seines Volkes stand!
Manche Mären mühen der Worte wunders viel, Von kühner Krieger Kämpfen, mit List im Blick das Ziel, Von fröhlich frechen Festen, von kummervollen Klagen, Da höret nun den Zeugen, nicht den Sänger sagen.
An karger Klippenküste der Elfen Stadt erstrahlte, Wo sengend Sonne stach, wo Reichtum leuchtend prahlte, Wo wilde Wellen wogten, da lag der Stolzen Stadt, Die einst man mit Bedacht Reilimee geheißen hat. Tapfer trugen Trolle den Krieg vor ihre Mauern. Wo Kriegerkeulen klangen, da gab es kein Bedauern.
Wo Schiffe schwammen, der Schnitter schwang sein Blatt, Da vor der starken Stadt, die man Reilimee geheißen hat. Tausend Tote türmten sich unter stolzen Zinnen, Wo Mühen nicht noch Mut halfen zu entrinnen. Wo Königsklage klang, der Listenreiche tat den ersten Schritt zur Mauer, die Reilimee umgürtet hat.