Das Wolfspferd

Missmutig schlüpfte Halgard in ihre gefütterten Pelzstiefel. Das Mädchen hasste es, so früh am Morgen aus dem Bett geholt zu werden. Am Abend zuvor waren sie lange in Aslas Haus gewesen. Das ganze Dorf hatte sich dort versammelt. Gundar hatte zu ihnen gesprochen und mit ihnen gemeinsam gebetet. Halgard liebte die kräftige, warme Stimme des alten Mannes. Sie war für sie wie Sonnenlicht auf dem Gesicht: einfach behaglich. Müde rieb sie sich den Schlaf aus den Augen.

»Nun mach schon!«, hetzte ihre Mutter und drückte ihr ein Stück hartes Brot in die Hand. »Trödel nicht so herum. Ich bin schon seit einer Stunde auf und murre schließlich auch nicht!« Ihre Mutter half ihr, die breiten Lederschlingen des geflochtenen Wäschekorbs über die Schultern zu streifen. Dann bettete sie den Umhang warm über ihren Leib und den Korb. Mutter musste ihn vor das Feuer gehängt haben. Mit einem Seufzer rieb Halgard ihre Wange über den Wollstoff. Wenn sie doch nur noch ein bisschen in ihrem Bett bleiben könnte! Knarrend ging die Tür auf. Der kalte Atem des Fjords drang in die kleine Hütte. Halgard tastete sich am Tisch entlang und stieß sich ihr Knie an der Bank. Mutter hatte sie schon wieder von der Stelle gerückt! »Weißer Nebel steigt die Ufer hinauf«, sagte ihre Mutter mit leiernder Stimme. »Es sieht aus, als seien die Wolken vom Himmel hinabgestiegen.«

Halgard zog die Tür hinter sich zu und folgte der Stimme, die unablässig beschrieb, was sie sah. Wie schon hunderte Male zuvor wünschte Halgard sich, Mutter würde von Dingen sprechen, die sie begreifen konnte. Aber sie machte sich keine Gedanken. Halgard konnte sich Wolken nicht wirklich vorstellen. Es mussten große Dinger sein, die über den Himmel liefen, obwohl sie keine Beine hatten. Man konnte sie wohl deutlich sehen, obwohl man sie nicht anfassen konnte. Und was war weiß? Nur ein Wort ohne Inhalt! Wie so viele Wörter, die Mutter bei ihren endlosen Beschreibungen aufsagte.

Der Weg, dem sie folgten, war weich und schlammig. Halgard mochte das schmatzende Geräusch, das ihre Stiefel machten, wenn es geregnet hatte. Dann hörte es sich so an, als gäben ihre Füße der Erde bei jedem Schritt einen nassen, übermütigen Kuss.

»Hinter dem Regenfass an der Ecke von Ereks Hütte lauert wieder die schwarze Katze. Es sieht aus, als habe sie auf uns gewartet. Seltsam, dass sie hier fast jeden Morgen steht.« Mutters Schritte verharrten. »Wehe, wenn ich dich dabei erwische, dass du sie fütterst!« Ihre Stimme klang ein wenig anders. Sie musste sich umgedreht haben. »Wir haben selbst nicht genug zu beißen! Wir müssen nicht noch irgendwelches Viehzeug durchfüttern!« Halgard biss in ihren Brotkanten und zuckte mit den Schultern. Mit Mutter zu reden, war sinnlos. Sie wurde schneller wieder friedlich, wenn man einfach gar nichts sagte.

»Katzen können sich gut alleine versorgen!« Mutter ging weiter.

Die Katze strich leise schnurrend um Halgards Beine. Es war ein wunderbares Gefühl. Das Mädchen beugte sich vor und tastete nach dem zarten Fell. Die Katze drückte ihr schnurrend den Kopf in die Hand und leckte ihre Finger.

»Heute hab ich leider keinen Fisch«, flüsterte das Mädchen.

»Vielleicht morgen wieder.« Sie brach ein kleines Stück von ihrem Brot ab und hielt es der Katze hin. Halgard wusste, dass ihre kleine Freundin Brot nicht sonderlich mochte. Aber etwas anderes hatte sie nun einmal nicht. Und sie wagte es auch nicht, ihr gar nichts zu geben, denn sie hatte Angst, dass die Katze vielleicht nicht mehr auf sie warten würde, wenn sie einmal kein Futter bekam.

»Wo steckst du?«, rief Mutter.

»Bis morgen.« Halgard tätschelte der Katze noch einmal über den Kopf und beeilte sich, ihrer Mutter zu folgen. Deren Schritte knirschten schon auf dem Kies. Sie hörte das Scharren des schweren Korbs auf Stein und den Seufzer, den Mutter jedes Mal ausstieß, wenn sie ihre Last abstellte.

»Es ist noch ganz dunkel«, erklärte Mutter. »Die Sonne versteckt sich noch hinter den Bergen. Der Wind rührt im Nebel.«

Für mich ist es immer ganz dunkel, dachte Halgard wütend und wünschte sich, ihre Mutter würde mit diesen endlosen Selbstgesprächen aufhören.

Als hätte sie den Gedanken gehört, hielt sie tatsächlich den Mund. Wäsche raschelte leise. Mutter würde sie jetzt in kleine Haufen sortieren und mit Steinen beschweren, bevor sie mit der Arbeit begann. Halgards Gedanken schweiften ab zu jenen wunderbaren Tagen, als sie noch nicht jeden Morgen vor der Sonne aufgestanden waren. Damals, als Vater noch bei ihnen war. Im Frühjahr des letzten Jahres war er mit dem Jarl auf einen Kriegszug gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Seitdem wohnte der Hunger bei ihnen.

Halgard dachte oft an ihren Vater. Seine Stimme hatte immer ein wenig heiser geklungen. Seine großen, knochigen Hände hatten ihr oft über das Haar gestrichen. Dann hatte sie geschnurrt wie eine kleine Katze. Abends, wenn sie nicht schlafen konnte, lauschte sie hinaus. Und immer noch hoffte sie, irgendwann seine vertrauten Schritte zu hören. Er war so groß und stark gewesen. Wer hätte ihn denn umbringen können? Er war nur verloren gegangen! Bestimmt würde er eines Tages wiederkommen. Es musste nur jemanden geben, der noch daran glaubte! Mutter glaubte nicht daran. Sie war so entsetzlich dickköpfig! Halgard hatte selbst gehört, wie Jarl Alfadas ihrer Mutter angeboten hatte, für sie zu sorgen. Aber sie wollte das nicht. Stattdessen holte sie Aslas Wäsche und wusch sie frühmorgens am Fjord. Auch ein paar anderen Frauen machte sie die Wäsche. Dafür bekam sie Brot und Käse und manchmal auch etwas Fleisch. Mutter mochte es nicht, wenn ihr die anderen Frauen beim Waschen zusahen. Sie tat so, als hätte sich nichts verändert, seitdem Vater nicht wiedergekommen war. Dabei wussten alle im Dorf, was für eine Arbeit sie machte.

»Träumst du wieder?«, herrschte Mutter sie an. Und dann war da das verhasste Geräusch. Das satte Klatschen eines nassen Wäschestücks, das vor ihr auf den Waschstein fiel. Widerwillig tastete Halgard danach. Nach Größe und Gewicht musste es ein Hemd sein. Die Kälte biss ihr in die Hände. Sie mühte sich ab, den nassen Stoff, so gut es ging, auszuwringen, während Mutter schon das nächste Wäschestück in den Fjord tauchte und über den rauen Fels rieb.

Nach so einem Morgen wollten ihre Hände nicht einmal über einem Feuer wieder richtig warm werden. Halgard stöhnte. All ihre Wut ließ sie an der Wäsche aus. Sie drehte sie und spürte, wie das eisige Wasser ihre Finger entlangrann. Die Kälte fraß sich bis tief in ihre Knochen hinein. Am besten war es dann, weit weg zu reisen. In Gedanken in so weite Ferne zu gehen, dass man gar nichts mehr spürte.

Asla war nett. Manchmal steckte ihr die Frau des Jarls einen Honigkuchen zu, wenn Mutter die Wäsche hinaufbrachte. Das musste aber immer heimlich geschehen, denn Mutter nahm außer dem vereinbarten Lohn nichts an. Sie war so verdammt stur!

Wenn sie Mutter nicht helfen musste, dann spielte sie oft mit Ulric. Das war ein bisschen langweilig, weil er immer dasselbe spielen wollte. Sie war eine wunderschöne Prinzessin, die von einem Ungeheuer entführt worden war, das sie mit Käse und Brot zum Frühstück fressen wollte. Und er war der Held, der sie befreite und das Ungeheuer erschlug. Danach gingen sie oft zu Asla, und es gab wirklich etwas zu essen. Allein das war es wert, das blöde Spiel immer wieder mitzumachen.

Gestern hatte Ulric ihr erlaubt, seinen Zauberdolch zu berühren. Er hatte ihn von dem Elfenprinzen geschenkt bekommen. Es war wohl derselbe, der am Hartungskliff zu ihr gesprochen hatte, dachte Halgard. Seine Stimme war sehr seltsam gewesen. Halgard hatte die ganze Zeit über geglaubt, gleich wolle er singen. Sein Haar hatte sich wunderbar angefühlt. So weich wie Katzenhaar, nur dass es viel länger war. Er hatte auch gut gerochen. Gar nicht nach Schweiß oder Zwiebeln oder Met wie die anderen Männer, die sie manchmal auf den Arm nahmen. Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken. Etwas fehlte. Eine ganze Weile schon! Das Geräusch, wie Mutter die Wäsche über den Fels rieb.

»Mutter?«

»Still!«, zischte es neben ihr. Mutters Stimme war voller Angst. Halgard lauschte. Sie konnte viel besser hören als irgendwer sonst im Dorf. Sie hielt den Atem an. Da war das stete Flüstern der Wellen, die nach den Kieseln am Ufer tasteten und sich wieder zurückzogen. Das Geräusch des Windes, der über den Fjord heraneilte und durch die Äste der Bäume am Ufer strich. Sie hörte auch ihr Herz klopfen und das leise Rauschen ihres Blutes. Und ... Ja, da war noch etwas! Ein hölzernes Knarren, begleitet von einem regelmäßigen Platschen. Ein Boot war draußen auf dem Wasser. Aber es war noch ein ganzes Stück entfernt. Wenn es immer noch nebelig war, würde Mutter es kaum sehen können.

»Ist es das Boot?«, fragte sie leise.

»Nein, es ist ...« Mutters Kleider raschelten. »Steh auf! Lauf! Es hat uns gesehen! Es kommt!« Mutter packte sie und zerrte sie hoch. »Lauf!«

Stolpernd kam Halgard auf die Beine. Sie konnte nicht laufen! Mutter wusste das doch. Wenn sie lief, verlor sie die Orientierung. Und sie stolperte dauernd!

»Der Weg ist vor dir. Geradeaus!« Mutters Atem ging keuchend. »Am Ufer entlang. Wir müssen zum Priester! Nur er kann uns helfen. Schnell! Da ist nichts im Weg! Mach schon!«

Sie waren auf dem Lehmpfad. Wieder schmatzten die Schritte. Doch diesmal schien der Lehm sie festhalten zu wollen. Und er war so entsetzlich glitschig. Sie rutschte und konnte sich mit rudernden Armen gerade noch fangen. Hinter ihnen war kein Geräusch! Nichts konnte sich so lautlos bewegen! »Wovor laufen wir fort?«

»Das Tier! Mach schnell. Bitte, Halgard, bleib nicht stehen! Es ist aus dem Wasser gekommen. Seine Zähne ... Lauf! Bei allen Göttern, lauf!«

Halgard mühte sich ab, so gut sie konnte. Mutter beschrieb ihr den Weg. Sie blieb immer dicht hinter ihr, obwohl Mutter sie leicht hätte überholen können.

Halgard stieß gegen einen Stein. Diesmal konnte sie sich nicht mehr fangen. Der Länge nach stürzte sie auf den aufgeweichten Weg. Kalter Schlamm spritzte ihr ins Gesicht. Sie begann zu weinen. Sie konnte doch nicht laufen!

»Hoch! Hoch mit dir, mein kleines Täubchen.«

Halgard wurde emporgerissen. Dann spürte sie Mutters Atem auf dem Gesicht. »Du läufst jetzt zu Gundar und holst ihn. Ich halte das Tier auf. Es ist nicht mehr weit bis zur Hütte.«

»Was ist das?«, fragte sie schluchzend.

»Es ist groß wie ein Pferd. Aber es hat Zähne wie ein Wolf. Und es sieht aus wie Nebel. Jetzt geh! Schnell! Halt dich geradeaus, bis du die Schatten der Weiden spürst. Und dann nach links. Du kennst den Weg! Von den Weiden sind es nur noch zwanzig Schritt.«

»Warum höre ich es nicht?«

»Weil es wie Nebel ist!« Mutters Stimme klang nach mühsam zurückgehaltenen Tränen. »Frag nicht mehr. Lauf jetzt. Bitte! Gleich ist es hier.«

Halgard ging so schnell sie konnte. Der Wind vom Fjord schnitt durch ihre nassen Kleider. Sie zitterte am ganzen Leib. Ängstlich lauschte sie auf jedes Geräusch. Als sie die Weiden erreichte, hörte sie einen leisen Schrei. »Mutter?«

Halgard konnte die Bäume nicht sehen, aber sie spürte ihre Nähe. Es war, als seien jetzt noch dunklere Schatten in der Finsternis, die sie immer umgab. Und sie hörte, wie die dünnen Äste im Wind gegeneinander schlugen. Sie hielt sich links. Plötzlich war da kein Schlamm mehr. Sie hatte den Weg verloren. Hastig drehte sie sich und ging ein Stück zurück, doch sie fand nicht mehr zum Weg. Wenn wenigstens die Sonne da wäre! Das Licht auf ihrem Gesicht würde ihr helfen, sich zu orientieren.

Der Wind war eingeschlafen. Jetzt hörte sie nicht einmal die Äste der Weiden. Sie konnte nicht weit von Gundars Haus fort sein. Halgard rief seinen Namen. Hoffentlich war er schon wach! Sie wusste, dass der alte Mann gerne lange schlief.

Kurz überlegte sie, ob sie weitergehen sollte. Doch dann würde sie sich nur noch mehr verirren. Und wenn sie zu weit vom Haus des Priesters entfernt war, dann könnte er sie nicht mehr hören. Es war besser, einfach stehen zu bleiben und zu rufen!

Plötzlich wurde es kälter. Sie spürte keinen Wind auf dem Gesicht. Etwas stieß in ihre Brust. Ihre Rippen wurden wie Eis. So wie die Knochen in ihren Fingern, wenn sie zu lange das Wasser aus der Wäsche gewrungen hatte.

Ganz leise hörte Halgard das Knarren einer Tür.

Sie zitterte so sehr, dass sie nicht mehr zu stehen vermochte. Sie konnte auch nicht mehr rufen. Ihre Zähne klapperten so laut wie die Knochenrassel, die ihr Vater ihr einmal geschenkt hatte.

»Halgard, bist du das?«, erklang die warme Stimme des Priesters. Ja, sie war wie der Sommer, dachte das Mädchen. Wie der Sommer.

Da waren Schritte in nassem Gras.

»Halgard? Bei allen Göttern!«

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