Wie eine Geschichte aus Kindertagen

Asla blickte in Isleifs frostrotes Gesicht. Er hatte Fieber, und sein Atem stank nach Branntwein. Am Ende seiner Kräfte, hatte man ihn vor dem Tor in der Palisade gefunden, die Fimstayn schützte.

Das Tor wurde jeden Tag bei Sonnenuntergang geschlossen. Doch am frühen Abend schon hatte man die Rauchsäule weit im Norden gesehen. So kam es, dass ein Posten am Tor gewacht hatte.

Isleif war völlig durchgefroren und am Ende seiner Kräfte gewesen, als man ihn hereingeholt hatte. Er hatte unzusammenhängend von Ungeheuern aus den Bergen geredet. Jetzt kauerte er in Decken gehüllt bei Asla an der Feuergrube. Ihr Haus war das größte im Dorf, deshalb hatte man ihn hinaufgebracht. Fast alle Einwohner drängten sich in der Halle.

»Es sind Riesen ... größer als Höhlenbären ...«, stammelte der Einödbauer. »Sie haben mir den Hof angezündet.« Er blickte zu Asla. »Hast du noch was zu trinken? Du weißt schon ... was die Seele wärmt.«

»Der ist doch betrunken«, raunte jemand hinter Asla. »Jeder weiß, dass er säuft wie ein Loch. Wahrscheinlich hat er eine Kerze umgeworfen und seinen Hof selbst abgebrannt. Und jetzt erzählt er Geschichten.«

»Was ich gesehen hab, das hab ich gesehen!« Taumelnd richtete sich Isleif auf. »Groß wie Höhlenbären sind sie!«

»Vielleicht ist ja tatsächlich ein Höhlenbär von den Bergen heruntergekommen?«, sagte Kaff. »Manchmal erwachen sie schon mitten im Winter.«

»Es waren viele ... Eine ganze Herde ...« Der Einödbauer rülpste. »Asla, wo ist der Schnaps?«

»Du hast genug!«, entgegnete sie scharf. »Sind dir diese Riesen gefolgt?«

Der Bauer zuckte mit den Schultern. »Weiß nich ... Ein ganz kleines Schlückchen nur, Asla. Ein ganz kleines ... Für die Seele!«

Erek kauerte sich neben seinen Freund. Er legte ihm den Arm um die Schultern. »Du musst jetzt schlafen, alter Junge. Morgen gehen wir dann hinauf zu deinem Hof und sehen nach dem Rechten.«

»Nein! Nicht zu den Riesen«, wehrte Isleif entschieden ab.

»Nicht zu den Riesen. Hab gesehen, was sie mit Reißzahn gemacht haben. Ein Keulenhieb ... So ein großer Hund ... Hat Wölfe zerfleischt, wisst ihr. War ein guter Hofhund ... Einer von Oles besten Bluthunden ... Ein Keulenhieb, und dann haben sie ihm die Läufe ausgerissen. Er hat noch gelebt.« Isleif fing an zu schluchzen. »So ein guter Hund! Ich gehe nicht zurück!«

»Jetzt reicht es aber! Ich höre mir diesen besoffenen Kerl nicht länger an.« Svenja griff nach ihrem Umhang und trat zur Tür. »Wir alle wissen nur zu gut, dass er ständig trinkt ...«

»Und wenn er doch Recht hat?«

»Mit diesem Unsinn? Riesen, die ihm seinen Hof anzünden ... Komm, Asla. Das sind Geschichten für Kinder. Es gibt keine Riesen. Es sei denn, man ist sturzbetrunken.« Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

Asla konnte ihre Nachbarn verstehen. Aber das alles erinnerte sie an eine Geschichte aus Kindertagen. Jene Geschichte, die sie öfter als jede andere von ihrem Vater zu hören bekommen hatte, weil er ein Teil davon war. Die Geschichte von Mandred und dem Manneber. Jenem Ungeheuer, das aus den Bergen hinabgestiegen war. Auch damals war ein Mann ins Dorf gekommen und hatte vor dem Ungeheuer gewarnt. Und man hatte ihm nicht geglaubt.

»Wir sollten jemanden zu Isleifs Hof schicken, der nachsieht, was geschehen ist. Jemanden, dem wir alle trauen.« Sie blickte zu Kaff.

Der große Fischer nickte. »Ja, es ist vernünftig, hinaus zum Hof zu gehen. Vielleicht kann ich ja sein Vieh zusammentreiben, wenn es nicht im Stall verbrannt ist.«

»Geh nicht, Junge!«, rief Isleif »Sie schlachten dich wie meinen Hund. Meinen guten Hund ...« Es war still geworden in dem großen Raum. Der Einödbauer saß am Feuer und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Wir müssen auch Boten zu den anderen Gehöften schicken!«, entschied Asla. »Und wir sollten uns bereit machen, das Dorf zu verlassen. In zwei Tagen könnten wir in Honnigsvald sein, wenn kein Sturm aufzieht. Wir brauchen Schlitten!«

Iwein, der Bauer, dem das meiste Vieh im Dorf gehörte, trat aus der Menge. Er war ein korpulenter, rothaariger Mann und berüchtigt für seinen Jähzorn.

»Dein Mann ist nicht hier, und du hast die Elfen in deinem Haus. Ich kann verstehen, dass du ängstlich bist, Asla. Aber jetzt übertreibst du. Es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen. Nehmen wir einmal im schlimmsten Fall an, dass ein paar Räuber Isleifs Hof angezündet haben. Sie würden sich niemals ins Dorf wagen. Wir sind zu viele, als dass sie uns gefährlich werden könnten.«

»Und wenn es doch Riesen sind oder Trolle?«, beharrte Asla.

Iwein lief rot an. »Das ist dummes Geschwätz! Es gibt keine Riesen. Und Trolle haben sich noch nie so weit in den Süden gewagt.« Plötzlich schlug seine Stimmung um, und er lächelte breit. »Außerdem sind die Trolle doch alle in Albenmark, um Krieg gegen die Elfen zu führen.«

Asla sah ihre Nachbarn an, und sie konnte in deren Gesichtern lesen, dass sie dabei war, sich zur Närrin zu machen. Man würde sie bis ans Ende ihrer Tage verspotten, wenn Isleif sich wirklich alles nur eingebildet hatte. Sie traute ihm durchaus zu, dass er, betrunken wie er war, aus Versehen selbst sein Haus angesteckt hatte. Aber die Geschichte mit dem Hund ... So etwas dachte man sich nicht aus!

»Einige von euch sind alt genug, um meinen Schwiegervater Mandred gekannt zu haben. Ihr kennt die Geschichte vom Manneber, und ihr erinnert euch vielleicht an die Nacht, als die Elfenkönigin kam, um meinen Mann zu holen.« Asla deutete zu der Nische, in der Emerelle lag. Yilvina stand mit verschränkten Armen davor. Sie hatte bislang schweigend zugehört.

»Ihr seid selbst Teil geworden von Ereignissen, die man schon in Honnigsvald nicht mehr recht glauben mag«, fuhr Asla fort.

»Glaubt ihr, ich würde meine Kinder einfach so hinaus in die Winternacht zerren? Kalf wird losgehen, um zu sehen, was geschehen ist. Und sollte uns Gefahr drohen, dann entzündet er das Signalfeuer auf dem Hartungskliff. Ich kann euch nicht befehlen, nur raten. Und ich nehme es auf mich, dass ich von dieser Nacht an für alle Zeiten als ein verrücktes Weib gelten werde ... Aber ich rate euch, bereitet alles für eine schnelle Flucht vor. Ich jedenfalls werde den schweren Schlitten anschirren. Lieber habe ich eine unruhige Nacht und lasse mich anschließend verspotten, als dass ich ein Feuer auf dem Kliff sehe und nicht bereit bin.«

»Ich bin ihrer Meinung«, sagte Kaff.

Asla hätte ihn umarmen können für seine Worte. Jetzt nickte auch Svenja. Die Stimmung schlug langsam um. »Na schön, seien wir bereit«, murmelte Iwein. »Packen wir ein paar Vorräte zusammen und fetten wir unsere Stiefel.«

»Damit ist es nicht getan. Deine Söhne sind längst Männer, Iwein. Du hast leicht reden. Aber für meine Kadlin brauche ich einen warmen Platz. Ich muss ihre Windeln wechseln können. Draußen auf dem zugefrorenen Fjord wäre eine nasse Windel ihr Tod.«

Der Viehzüchter schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Bist du jetzt vollkommen närrisch, Weib? Willst du vielleicht dein Langhaus auf Kufen setzen? Wie stellst du dir das vor, einen warmen Platz zu haben?« Sie klopfte mit dem Knöchel auf die aufgebockte Tischplatte. »Ganz so, wie du es sagst, Iwein. Ich dachte an eine Hütte auf Kufen. Statt eine Plane über die Pritsche meines Fuhrwerks zu spannen, die nur den Wind abhält, aber nicht vor der Kälte schützt, zimmern wir einen Aufbau aus Tischplatten, Brettern, Türen. Und wir stellen eine Feuerschale hinein. So bekommen wir einen warmen Platz für die Kinder, für die Alten und die Erschöpften.«

Iwein schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn dein Mann sieht, was du mit der schönen Kutsche angestellt hast. All diese Aufregung wegen eines Betrunkenen ... Wir schlagen uns die Nacht um die Ohren, und morgen zeigt sich, dass deine Trolle nur dem Rausch eines einsamen Mannes entsprungen sind. Du wirst es sehen, Asla.«

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