Alfadas blickte zum Gipfel des Hartungskliffs auf der anderen Seite des Fjords. Das Haupt des steilen Felsens schmückte eine steinerne Krone. Sie war das Tor in eine andere Welt. In Albenmark würde jetzt bald der Winter anfangen, dachte der Jarl wehmütig. Was würde er dafür geben, dieses Tor noch einmal durchschreiten zu können!
Manchmal, wenn er allein tagelang durch die Wälder streifte, stieg er hinauf zum Steinkreis. Sein Vater hatte es geschafft, ihn aus eigener Kraft zu durchschreiten. Voller Bitternis dachte Alfadas daran, dass ihm diese Gabe versagt geblieben war, obwohl er mehr als zwanzig Jahre unter den Elfen gelebt hatte. Gewiss, er war ein Schwertkämpfer, wie es im Fjordland keinen zweiten gab. Ollowain, der beste Fechter Albenmarks, hatte ihn ausgebildet. So vieles war der Elf im Lauf der Jahre für ihn gewesen – Ziehvater, Lehrer und Freund. Den meisten bei Hof war der Schwertmeister unnahbar erschienen. Eine lebende Legende, der weiße Ritter von der Shalyn Falah. Er hatte sich ganz dem einen Ziel verschrieben, ein vollkommener Schwertkämpfer und Krieger zu sein. Und er war so weit auf diesem Weg gegangen, dass kein Elf gegen ihn bestehen konnte.
So widersinnig es klingen mochte, gerade das hatte es Alfadas leicht gemacht. Ein halbes Leben lang hatte er sich bemüht, wie ein Elf zu sein, und war doch stets nur der belächelte Menschensohn geblieben. Nur bei Ollowain verhielt es sich anders. Niemand war wie der Schwertmeister, und deshalb hatte Alfadas manchmal an dessen Seite Frieden finden können. Natürlich hatte er sich stets bemüht, alle Feinheiten des Kampfes und der Kriegskunst zu meistern, doch neben Ollowain war es weniger bitter gewesen, nur ein Mensch zu sein.
Der süßlich herbe Duft von frischem Apfelmost ließ die Bilder der Vergangenheit verblassen. Alfadas leckte sich die Lippen und lächelte. Manches hatte er hierher mitgebracht. In Firnstayn hatten sie keinen Apfelwein gekannt. Zuerst hatten die Krieger ihn verspottet und erklärt, dass er ein Säftchen für bartlose Jünglinge braue. Aber jetzt kamen sie aus allen Nachbardörfern, wenn Firnstayn das Apfelfest feierte.
Sein Blick schweifte über das kleine Dorf am Fjord: ein paar Langhäuser und Hütten, umgeben von einem Holzwall. Nicht einmal hundert Familien lebten hier. Verglichen mit der Pracht Albenmarks war es ...
Nein, es war dumm und ungerecht, Firnstayn mit Albenmark zu vergleichen. Kinder mit Kriegern zu vergleichen war so, als wolle man Menschen an Elfen messen. Solange ich so denke, werde ich nie wirklich einer von ihnen sein, ermahnte er sich. Doch in seinem Innersten wusste er, dass es aussichtslos war. Er würde niemals ganz einer von ihnen sein! So sehr er sich bemühte, er konnte die Leute hier nicht begreifen. Ihre Art zu denken, wie sie lebten ... Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, um ihnen ähnlicher zu sein. Aber das waren Äußerlichkeiten.
Wenn er Firnstayn verließ, dann gab es manchmal Augenblicke, in denen er untertauchen konnte. Wenn er seine Waffen versteckte, die zu gut waren. Wenn er es schaffte, den rauen, schleppenden Tonfall nachzuahmen, in dem sie sprachen ... Doch sobald sein Name fiel, war es vorbei. Jeder im Fjordland kannte die Geschichte von Alfadas Mandredson. Sofort gehörte er nicht mehr dazu, und er wusste nie einzuschätzen, ob die anderen ihn fürchteten oder bewunderten. Sie waren einfach seltsam, die Menschen, zu denen er gehörte, ohne dass seine Seele einen Weg zu ihnen zu finden vermochte.
Es machte die Geschichte die Runde, sein Vater Mandred habe ihn mit der Elfenkönigin gezeugt. Dabei gab es im Ort noch Leute, die seine Mutter gekannt hatten und die sich erinnern konnten, wie Emerelle gekommen war, um ihn zu holen. Wer gesehen hatte, wie die Reiterkavalkade im geisterhaften Feenlicht über das Eis des Fjords kam, hatte diesen Anblick sein Lebtag nicht mehr vergessen.
»Du bist tot, riesiger Troll!« Ulric bohrte ihm die Spitze eines Holzlöffels ins Wams. »Los, fall um, du stinkender Troll. Ich habe dich erschlagen!«
»So kämpft kein ehrenhafter Krieger. Du hättest mich herausfordern müssen.«
»Dann hätte ich aber nicht gewonnen. Keiner kann dich im Schwertkampf besiegen, Vater. Das weiß doch jeder.« Ulric hatte aufgehört zu lachen. Er sah jetzt vorwurfsvoll zu seinem Vater auf, weil er die einfachsten Dinge nicht begreifen wollte.
»Ein wahrer Krieger würde sich eher auf einen aussichtslosen Kampf einlassen, als einen Gegner heimtückisch anzufallen und so seine Ehre zu verraten.«
Ulric ließ den Löffel sinken. »Ist das nicht ziemlich dumm?«
Alfadas musste lachen. »Es ist nie klug, sich mit einem Troll einzulassen.« Er beugte sich vor, grunzte wild und warf sich Ulric auf die Schulter. »Wenn du versuchst, mit ihnen zu reden, werden sie das Gespräch beenden, indem sie dich fressen.«
Sein Sohn jauchzte vor Vergnügen und drosch ihm nach Leibeskräften mit dem Löffel den Rücken. Sie waren schon halb den Hügel hinab, als hinter ihnen jemand rief. »Verdammt, das hatte ich ganz vergessen«, zischte der Junge.
»Was?«
»Mutter hat mich geschickt. Sie hat gesagt, ich soll nachsehen, ob du wieder irgendwo herumstehst und träumst.« Man merkte ihm an, dass es ihm peinlich war, Aslas Worte zu wiederholen. »Sie ist wütend, weil sie den ganzen Mittag an der Apfelpresse steht und du ihr nicht hilfst.«
»Alfadas!«, hallte es den Hügel hinab.
»Tja, ich fürchte, ich habe mich nicht gerade ehrenhaft verhalten.« Er setzte seinen Sohn ab. »Du musst mir etwas versprechen.«
»Was denn?«
»Nimm mich bloß nicht als Vorbild. Ich bin kein guter Ehemann. Deine Mutter ist dauernd wütend auf mich.«
Ulric schenkte ihm ein zahnlückiges Grinsen. »Ich bin lieber ein Ehrenmann als ein Ehemann.« Er stach wild mit dem Holzlöffel auf irgendwelche unsichtbaren Gegner ein. »Wenn ich groß bin, werde ich der Heerführer des Königs sein. Und ein Held. Und ich werde noch berühmter sein als du. Und ...« Er blickte ihn mit seinen großen Kinderaugen an. »Du schenkst mir doch dein Zauberschwert, wenn ich groß bin? Das brauche ich, um ein Held zu werden.«
Alfadas seufzte. »Ich habe kein Zauberschwert. Wie oft soll ich dir das noch sagen!«
Ulric schmollte. »Ich weiß, was wahr ist! Dein Schwert kann jeden Schild und jede Rüstung zerschlagen. Es ist verzaubert! Großvater sagt das auch!«
»Es ist einfach nur ein sehr gutes Schwert.« Alfadas kniete vor seinem Sohn nieder, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Mein Schwert ist von Elfen geschmiedet. Es ist eine sehr gute Waffe. Aber es steckt keine Magie darin. Und was Helden angeht ... Es ist nicht die Waffe, die einen Helden schmiedet. Der Mann, der das Schwert führt, muss etwas Besonderes sein – so wie du.«
»Werde ich also ein Held sein, wenn ich so groß bin wie du?«
»Ganz bestimmt, Ulric.« Er grinste. »Jedenfalls wenn du dir abgewöhnst, dich heimtückisch an Trolle heranzuschleichen. Und jetzt lass uns zu deiner Mutter gehen.«
Sie stiegen den kleinen Hügel hinauf, auf dem das neue Langhaus stand. Das ganze Dorf hatte mitgeholfen, es zu bauen, nachdem er Asla geheiratet hatte. Alfadas wusste, dass manche der neuen Dorfbewohner nur nach Firnstayn gezogen waren, weil er hier lebte. Alfadas der Elfenfreund, Alfadas der Heerführer des Königs. Sie waren immer höflich zu ihm; aber sie liebten ihn nicht. Er war so etwas wie ein besonders gefährlicher Hofhund. Wo er war, da kam der Fuchs nicht. Sie fühlten sich sicherer in seiner Nähe.
Kalf stand an der Apfelpresse. Der blonde Hüne war Jarl von Firnstayn gewesen. Er war der Hofhund gewesen, bevor Alfadas gekommen war. Alfadas mit dem prächtigen Schwertgurt, dem berühmten Vater ...
Asla sah Alfadas vorwurfsvoll an. »Wo hast du gesteckt?«
Ulric stellte sich vor ihn. »Er hat mir gezeigt, wie man ehrenhaft kämpft.«
»Ich wünschte, mir würde gelegentlich die Ehre zuteil, dass du mir hilfst. Was hast du getan? Wieder zu diesem verfluchten Berg hinauf gestarrt, auf dem dein Vater mit seinen Elfenfreunden verschwunden ist?«
»Sie haben Namen. Farodin und Nuramon hießen seine Freunde.«
»Ich geh dann wohl besser«, sagte Kalf. Er war ein großer, stiller Kerl. Alfadas wusste, dass er Kalfs Leben ruiniert hatte. Er wäre immer noch Jarl. Und er hätte Asla geheiratet. Nie hatte es ein böses Wort zwischen ihnen gegeben. Alfadas wusste, dass Kalf Asla noch immer liebte. Er hatte kein anderes Weib genommen. Seit all den Jahren lebte er allein in seiner kleinen Hütte unten am Fluss. Alfadas konnte ihm nie lange in die Augen sehen. Traurige himmelblaue Augen.
Kalf tippte zum Gruß flüchtig an seine Stirn, »‘n Abend, Alfadas.«
Der Jarl nickte nur.
»Ich kümmere mich um die Presse.«
Asla winkte ab. »Die Arbeit ist erledigt. Ich hatte nach dir gerufen, damit du die Fässer mit dem Saft hereinträgst. Kalf hat das an deiner Stelle getan. Es sind nur noch die ausgepressten Apfelstücke übrig.« Sie deutete auf den Trog neben der Presse.
»Du ... Nein, Kadlin, nicht schon wieder!«
Ihre Tochter tastete sich am Rand des Trogs entlang und griff dann mit beiden Händen in den goldenen Obstbrei. Sie blickte zu Alfadas auf, schüttelte lachend den Kopf und rieb sich dann mit beiden Händen den zähen Apfelbrei in Gesicht und Haare.
Asla ließ sich erschöpft auf den Hackklotz sinken. »Sie ist wie du, mein schöner, fremder Mann. Sie weiß genau, was sie nicht tun soll, und macht es trotzdem. Und ich kann ihr nicht mal lange böse sein.«
Alfadas ließ sich neben ihr nieder. Sanft legte er ihr den Arm um die Schultern. Ihr Kleid war durchtränkt von Apfelduft.
»Warum bist du so zornig?«
Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab. »Wegen des Berges«, sagte sie leise. »Manchmal wünschte ich, wir würden woanders leben, wo ich ihn nicht jeden Tag sehen müsste. Und du auch nicht. Ich kann es nicht ertragen, wie du zum Gipfel blickst.«
»Es ist nur ein Berg.«
Sie starrte auf ihre roten, schwieligen Hände. »Nein, das ist es nicht. Von dort kamen die Elfen, die dich für mehr als zwanzig Jahre fortgeholt haben. In den Märchen heißt es, dass ihre Herzen so kalt wie Wintersterne sind. Sie ...«
»Das ist Unsinn!« Immer wieder fing sie damit an. »Du hast Farodin und Nuramon kennen gelernt. Hatten sie kalte Herzen?«
»Farodin war mir unheimlich. Er hatte nichts Menschliches, er...«
»Was erwartest du? Er ist ein Elf!«, unterbrach Alfadas sie.
»Aber sie sind nicht kaltherzig.«
»Kanntest du viele von ihren Frauen? Es heißt, dass ihre Schönheit niemals verblüht.« Sie blickte wieder auf ihre zerschundenen Hände. »Mehr als acht Jahre sind vergangen, seit wir gemeinsam um den Stein getanzt sind. Ich werde langsam ein altes Weib. Ich habe Angst, dass sie kommen und dich mir wegnehmen. Tanzen auch Elfen um einen Stein und versprechen sich ewige Liebe?«
»Nein.« Er griff nach einem der Holzspäne, die neben dem Hackblock lagen, und rieb ihn zwischen den Fingern. »Sie versprechen sich nie etwas für die Ewigkeit. Dafür leben sie zu lange. Sie versprechen einander, sich zu trennen, bevor die erste Lüge zwischen ihnen steht. Sie glauben, wenn es etwas gibt, über das man nicht mehr miteinander sprechen kann, dann ist es an der Zeit, einander freizugeben.«
»Wären wir noch ein Paar, wenn wir Elfen wären?« Alfadas konnte spüren, wie sie zitterte. Warum marterte sie sich mit solchen Fragen? Sah sie denn nicht, dass er sie liebte? Alfadas drückte sie sanft an sich. »Ich habe dich noch nie belogen.«
»Ich dich auch nicht.«
»Die Arbeit zermürbt dich, Asla. Soll ich dir im nächsten Sommer aus Gonthabu eine Sklavin mitbringen?«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Nur wenn du eine findest, die hässlich wie die Nacht ist.« Sie lächelte, doch ihre Augen waren rot von ungeweinten Tränen.
»Awa!« Kadlin kam auf wackeligen Beinen zu ihnen herüber. Ihr ganzes Gesicht war von Obstbrei verschmiert. Sie hatte die Augen ihrer Mutter, kastanienbraun und voller Wärme.
»Awa...« Erwartungsvoll streckte sie Alfadas die Arme entgegen. Er hob sie hoch, und sie langte mit ihren klebrigen Fingern in sein Haar. Dabei quiekte sie vor Vergnügen.
Er nahm eine ihrer Hände und leckte den süßen Brei ab. Kadlin kicherte, als seine Zunge sie kitzelte. »Da!« Sie streckte ihm auch die andere Hand hin.
Asla erhob sich mit einem Seufzer. »Bald kommen die ersten Gäste. Kümmerst du dich um die Feuergrube? Es wird schon früh kalt an den Abenden.«
Alfadas nickte.
In Aslas Augen war das Lächeln zurückgekehrt, als sie auf sie beide hinabsah. »Es gibt wohl keine Frau, die dir widerstehen kann, mein schöner, fremder Mann.«
Der Jarl spürte etwas Lauwarmes sein Hosenbein hinablaufen. Er hob Kadlin hoch. Ein dunkler Fleck malte sich auf seiner Hose ab.
Asla lachte. »Kümmerst du dich um die Kleine? Ich muss das Brot aus dem Ofen holen.«