Eine blasse Kinderhand

Der große Hund war am Ende seiner Kräfte. Meile um Meile hatte er sie den Fjord hinab bis zu einem engen Seitenarm geführt, der von steilen Berghängen eingefasst war. Einer von Bluts Hinterläufen war bandagiert und mit zwei hölzernen Schienen abgestützt. Dennoch hinkte er zum Erbarmen. Immer wieder strauchelte er, und jedes Mal dauerte es ein klein wenig länger, bis er sich wieder hoch kämpfte.

»Er führt uns in die Irre«, sagte Lambi vorsichtig. Er mochte dieser Quälerei nicht länger zusehen. »Die Überlebenden sind hinauf in die Berge geflohen. Hier wirst du Asla und Kadlin nicht finden.«

»Du täuschst dich«, entgegnete der Herzog entschieden. Er schien wie im Fieber. Er war kaum noch der Mann, den Lambi einmal gekannt hatte. Nach der Schlacht hatte Alfadas die Leber des Trollfürsten an den Hund verfüttert. Es war ein uralter Brauch im Fjordland, auf diese Weise mit seinen Todfeinden abzurechnen, aber hätte Lambi es nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte niemals geglaubt, dass Alfadas, der Elfenjarl, dazu fähig wäre. Seit sie den Dolch in jenem Knochenhaufen am Ufer bei Honnigsvald gefunden hatten, war etwas in dem Herzog entfesselt worden, das Lambi Angst einjagte. Es war eine dunkle, zerstörerische Kraft. Vielleicht ein Erbe seines Vaters? Lambi kannte viele der Geschichten über Mandred. Er war ein Axtkämpfer, der mit der Wut eines Berserkers focht. Im Zorn vermochte ihn niemand mehr aufzuhalten, hieß es. Und so gebärdete sich jetzt auch Alfadas. Der kühle, stets selbstbeherrschte Anführer war verschwunden. Er hatte einem Getriebenen Platz gemacht, der ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg zu Ende ging. Seit drei Tagen hatte der Herzog kaum noch geschlafen. Eigentlich müsste er jeden Augenblick zusammenbrechen ...

Lambi blickte zurück. Die kalten Augen der Elfenkönigin nahmen ihn gefangen. Wusste sie, was hier vor sich ging? Warum hatte sie sich der kleinen Gruppe angeschlossen, die den Herzog auf seiner verzweifelten Suche begleitete? Vielleicht war sie es, die für die dunkle Seite von Alfadas verantwortlich war. Sie war so unnahbar, als sei sie in einen Panzer aus Eis eingeschlossen. Lambi hatte sie neben den Sterbenden auf dem Schlachtfeld stehen sehen. Bei den Maurawan, die ihnen in der letzten Schlacht den Sieg gebracht hatten. Der Tod der Elfen schien Emerelle nicht zu berühren. Ihr Volk begegnete dem Tod anders als die Menschen. Keiner schrie oder wimmerte. Selten stöhnte einer ihrer Verwundeten. Eine junge Frau, deren Leib durch einen Axthieb zerfetzt war, hatte sich vor Lambis Augen in silbernes Licht aufgelöst. Er hatte das auch bei den Kämpfen in Phylangan ein paar Mal beobachtet. Aber dass es auch hier, an seinem Fjord, zwischen altvertrauten Bergen und Wäldern geschah, machte es noch unheimlicher. Die Sterbende war in diesem Licht aufgegangen. Und trotz ihrer schrecklichen Wunden hatte sie zuletzt gelächelt. Den Krieger schüttelte es bei der Erinnerung. Die Elfen mochten ihre Waffengefährten sein, aber sie blieben Furcht einflößend.

An der Seite der Königin ging Ollowain. Sie beide trugen fleckenloses Weiß und wirkten in ihrer kalten Unnahbarkeit, als seien sie Kinder des Winters. Lambi begriff den Schwertmeister nicht. Ollowain kannte Alfadas besser als irgendein anderer. Er war der Ziehvater des Herzogs! Warum redete er ihm diesen Unsinn hier nicht aus? Wenn Alfadas sich nicht bald Ruhe gönnte, würde er sich noch umbringen! Und er musste über die Zukunft des Fjordlands entscheiden. Die überlebenden Jarls hatten nach der Schlacht so entschieden. Aber Alfadas wollte sie nicht anhören! Sie würden gewiss nicht ewig warten.

Außer den beiden Elfen waren nur Veleif Silberhand und der junge Jarl Oswin auf diese nutzlose Suche mitgekommen. Und sie alle wussten es eigentlich besser, denn sie hatten Überlebende gefunden, die bezeugten, dass Asla und die anderen Flüchtlinge aus Sunnenberg den Rentierpfad hinauf geflohen waren. Dort suchten jetzt Silwyna und alle, die noch Kraft genug hatten. Wie es schien, war auch ein größerer Trupp Trolle über den Rentierpfad geflohen.

Kraftloses Kläffen ließ Lambi aufblicken. Blut hatte einen breiten Eichenstamm erreicht, der im Eis gefangen war. Das Ufer hinauf erstreckte sich ein Windbruch. Der Wald sah aus, als habe ein riesenhafter, wütender Schnitter seine Sense geschwungen. Die Stämme waren zersplittert oder vollends entwurzelt. Sie lagen wild durcheinander. Manche waren hinab in den Fjord gestürzt. Blut zwängte sich unter einem Baumstamm hindurch, der halb aus dem Eis ragte. Nur wenige Schritt hinter der Barriere aus totem Holz endete der Seitenarm des Fjords vor einer steilen Felswand. Blut hatte sie in die Irre geführt! Nun war es ganz offensichtlich. Von hier gab es keinen anderen Weg fort als jenen unter den gestürzten Bäumen hindurch. Und auf dem Eis war nichts! Alfadas stützte sich mit einem Seufzer auf den Eichenstamm, während der große Hund sich weiter vorwärts schleppte.

»Unser Weg endet hier wohl«, sagte Lambi leise. »Luth allein weiß, was in den Hund gefahren ist. Lass uns nun reden, Herzog. Die Jarls wollen dir die Königskrone antragen. Und du wärst ein ausgemachter Trottel, wenn du nicht zustimmst. Das Fjordland braucht einen Mann wie dich. Einen weisen Herrscher, der zugleich stark genug ist, dass alle ihn anerkennen werden.«

»Wie soll ich über ein Land herrschen, wenn ich nicht einmal meine Familie zu schützen vermag?«, fragte der Herzog verbittert. »Ich will keine Krone! Ich werde meine Frau und mein Kind suchen. Nichts anderes ist jetzt mehr von Bedeutung für mich.«

Das war genug! Alfadas musste wieder anfangen, klar zu denken! Verzweifelt packte Lambi ihn bei den Schultern. »Komm wieder zu dir! Was läufst du diesem lahmen Kläffer hinterher? Ich weiß nicht, was der Troll zu dir gesagt hat, als er vor deinen Füßen verreckt ist, aber diese dreckigen Bastarde sind Lügner. Vergiss ihn! Seine Worte waren die letzte Waffe, die ihm noch blieb. Dieser stinkende Misthaufen wollte dich verletzen, begreif das doch endlich! Und so wie es aussieht, hat er dich wirklich tief in deinem Herzen getroffen. Wir sind Waffenbrüder. Wir sind zusammen durch das Blut von Freunden und Feinden gewatet. Du hast mich in eine fremde Welt und wieder zurückgeführt. Traue meinen Worten und nicht diesem Mistkerl von einem sabbernden Trollfürsten! Ich kann verstehen, dass du deine Familie suchst. Aber warum hier?« Lambi deutete auf die steile Felswand vor ihnen. »Das führt zu nichts! Warum bist du nicht in den Bergen auf dem Rentierpfad? Das hier macht keinen Sinn! Ich hätte nicht übel Lust, dir mit einer Keule eines über den Schädel zu ziehen, damit du ein paar Stunden zur Ruhe kommst. Wenn du erst einmal geschlafen hast, wirst du einsehen, dass du hier nur Gespenstern nachjagst!«

Alfadas machte sich los. »Du verstehst das nicht. Blut ist der Hund meiner Tochter Kadlin. Er gehorcht niemandem außer ihr. Er wird mich zu ihr führen. Es kann gar nicht anders sein. Du wirst schon sehen.« Mit diesen Worten duckte sich der Herzog unter dem Baumstamm hindurch.

Blut war nur ein paar Schritt von der Steilwand entfernt. Wie besessen kratze er am Eis, doch seine Pfoten rutschten nur haltlos vom kalten Panzer ab, mit dem der Fjord sich für den Winter gewappnet hatte. Kalter Wind fegte den Schnee in dünnen Schleiern über den Fjord und heulte in den Felsen.

Lambi standen Tränen der Wut in den Augen. Was konnte er denn noch tun, um seinen Freund wieder zur Vernunft zu bringen? Er wünschte, er wüsste, was dieser verfluchte Troll gesagt hatte. Ollowain, der daneben gestanden hatte, wollte es ihm nicht verraten. Was für Worte vermochten einen Mann wie Alfadas in den Wahnsinn zu treiben?

Veleif trat neben den Jarl. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte der Skalde.

»Die Krone kümmert ihn einen Dreck! Und er wäre kein Mann, dem ich folgen würde, wenn es anders wäre. Gib ihm ein paar Tage, bis er sein Weib und seine Tochter gefunden hat.«

Veleif schüttelte den Kopf. »Menschen warten, Königreiche nicht. Das muss er begreifen. Ich glaube nicht, dass die Jarls ihn ein zweites Mal fragen werden. Eine Krone weist man nicht zurück.«

»Wen sollten sie sonst fragen? Jeder von ihnen hätte zu viele Neider. Nein, Alfadas ist der einzige Mann, auf den sich alle einigen können. Sie werden ihn wieder fragen!«, sagte Lambi mit Nachdruck.

»Und wenn man dich fragen würde?«

Der Jarl schnaufte. »Mich? Hast du jemals von einem König mit einer halben Nase gehört? Vergiss es, Veleif. Ich erinnere mich noch an die grinsenden Gesichter, als ich in Ketten nach Albenmark geschleppt wurde. Die betrachten mich nicht einmal als ihresgleichen. Eher findest du ein Schaf, das Goldstücke scheißt, als dass diese eingebildeten Hurenreiter mich über sich stellen.«

Der Skalde kauerte sich in den Windschatten des Stammes.

»Vielleicht sollte ich ein Heldenlied über dich dichten. Mit der Zeit würde man dich in einem anderen Licht sehen.«

»Worüber willst du singen? Über einen Helden, der goldene Türen klaut? Lass es! Wenn du mehr als zwei Verspaare über meine Heldentaten zusammenbringen wolltest, müsstest du hemmungslos lügen.« Lambis Blick wanderte zu den Elfen. Sie verharrten in einigem Abstand. Der eisige Wind zerrte an ihren Gewändern. Die Königin trug nicht mehr als ein dünnes Kleidchen und war barfuß! Fröstelnd wünschte sich der Jarl, er hätte sein goldenes Amulett behalten können.

Oswin kam zu ihnen herüber. Lambi fühlte sich unwohl in Anwesenheit des jungen Jarls. Oswin war zu hübsch für einen Mann! Mit seinen grünen Augen, dem langen, rotblonden Haar und den bartlosen Wangen sah er aus wie eine Jungfer. Und zu allem Überfluss benahm er sich in Gegenwart der Männer, die aus Albenmark zurückgekehrt waren, so unbeholfen wie ein Jüngling, der zum ersten Mal in Liebe entflammt war. Für ihn waren alle, die ins Elfenreich gezogen waren, Helden.

»Darf ich mich zu euch stellen?«, fragte Oswin. Lambi war versucht, es ihm zu verbieten, nur um zu sehen, wie der junge Jarl reagieren würde. »Mach nur«, brummte er stattdessen und sah zu Alfadas hinüber. Der Herzog kauerte auf dem Eis und starrte in das dunkle Wasser darunter. Noch immer versuchte der verrückte Hund, ein Loch ins Eis zu kratzen.

»Was Blut wohl erzählen würde, wenn er reden könnte«, sagte Veleif und rieb sich fröstelnd die Arme.

»Hunde, die reden? Man muss wohl Skalde sein, um sich so einen Unsinn auszudenken.«

»Na, irgendeinen Grund wird Blut schon haben, dass er Alfadas hierher schleppt.« Das dumme Geschwätz ärgerte Lambi.

»Ich hab auch nicht für alles einen Grund, was ich tue. Stell dir vor, manchmal kratz ich mich am Hintern, ohne dass es mich gejuckt hat.«

Oswin blickte betreten zu Boden. Offensichtlich war das kein Gespräch, wie er es von Helden erwartet hatte. Lambis Laune besserte sich sofort, als er sah, wie verlegen der junge Jarl wurde.

»Du vergleichst dich also mit einem Hund?«, fragte Veleif spitz.

»Wie kommst du darauf? Soll das ein Scherz sein? Mach noch so einen Spruch, und ich verknote dir deine Finger so, dass du in einsamen Nächten in Zukunft deine Füße zu Hilfe nehmen musst!«

»Du sagtest doch ...«, begann Veleif.

Oswin ließ sich auf die Knie nieder. »Seht ihr das?« Er wischte etwas Schnee zur Seite. »Bei allen Göttern! Das sind ja Kinder!«

Lambi sah nur weiße Schemen. Etwas hatte sich im Wasser zwischen den dunklen Ästen verfangen. Es bewegte sich sanft mit der Strömung. Plötzlich strich eine Hand über das Eis. Eine blasse Kinderhand! Ein Gesicht erschien. Einen Augenblick nur. Doch lange genug, es zu erkennen. Lambi hatte den Jungen nur ein einziges Mal zuvor gesehen ... Aber der Elfendolch ... Wie war das möglich? Der Kleine war doch schon in Honnigsvald ...

Die Strömung drückte den Jungen etwas tiefer. Wieder war er nur ein heller Schemen. Lambis Magen zog sich zusammen. Er blickte hinüber zu Alfadas. Wie sollte er ihm das sagen? Sollte er es sagen?

»Es ist sein Sohn, nicht wahr?«, flüsterte Veleif. »Ich dachte ...« Alfadas sah auf. Noch immer kratzte der Hund am Eis. »Hier ist eine Bruchstelle«, sagte der Herzog mit schwerer Stimme.

Lambi zog sich am Baumstamm hoch. Warum hatte er nur mitkommen müssen! Alfadas musste es wissen. Er sollte von seinem Jungen Abschied nehmen können!

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