Unter dem Aschebaum

Sie tanzte im warmen Wind. Weit unter ihr waren Flammen, die verloschen, wenn ihr Blick sie traf. Stimmen raunten in ihrem Kopf. Sie flüsterten ihr zu, die Flammen zu ersticken. Doch so sehr sie sich auch mühte, das Feuer blieb, ja, es gewann an Kraft. Jetzt schlug es höher. Ihr Kleid brannte. Jemand riss es ihr vom Leib. Eine schattenhafte Gestalt. Starke Arme umschlangen sie. Das Feuer rückte in weite Ferne. Kalter Atem streichelte ihre Wangen.

Lyndwyn blinzelte. Sie lag im Schnee. Etwas Bedrohliches war ganz nah. Sie wagte kaum zu atmen. Wie war sie hierher gekommen? Sie erinnerte sich an die Halle des Feuers, den Chor der Zauberweber ... Und an jene eine Nacht mit Ollowain.

Etwas Durchscheinendes huschte vorüber. Schnüffelnd, gierig. Lyndwyn spürte den Albenstein auf ihrer Brust. Nichts konnte sie besiegen. Sie streckte sich und richtete sich dann auf. Schnee fiel von ihrem Kleid. Sie lag an einem Berghang. Dicht neben ihr ragte eine Schlittenkufe aus einer Schneewehe.

Die Zauberweberin blickte auf, als sie des fernen Grollens gewahr wurde. Sie lag am Fuß eines Berges. Meilen entfernt erhob sich eine riesige, dunkelgraue Rauchsäule. Ihre Spitze war aufgefächert wie eine Baumkrone. Der Wind zerrte den Rauch nach Westen. Dunkelrotes Glühen flackerte entlang der Unterseite der Rauchwolke. Einzelne Funken stiegen durch den Rauch, um in weitem Bogen aus dem Himmel hinabzustürzen. Dort, wo sie auf den Berghang fielen, schoss heller Wasserdampf empor. Weiter oben am Berg war der Schnee unter grauer Asche verschwunden. Der Gipfel hatte sich verändert. Er wirkte breiter. Der Schnee war dort völlig verschwunden. Lyndwyn sah einen roten Strom, der sich den Südhang hinabwälzte. Mehrmals spürte die Magierin den Boden unter den Füßen erbeben.

Sie erinnerte sich an den Chor. Und sie fühlte, dass all ihre Sänger verstummt waren, für immer.

Wie kam sie hierher? Sie sah sich um. Weiter unten am Hang lag eine zusammengekrümmte Gestalt, halb im Schnee begraben. Ein wenig wackelig auf den Beinen, stieg sie hinab. Ihre Knie schmerzten bei jedem Schritt. Das lange blonde Haar ... Der weiße Waffenrock! Lyndwyn begann zu laufen, strauchelte schon nach wenigen Schritten im tiefen Schnee, raffte sich auf und versuchte es erneut. Es war Ollowain! Er war sie holen gekommen!

Mit zitternden Händen umfasste sie sein Gesicht. Seine Wangen waren wie Eis! Eine tiefe Wunde klaffte in seiner Schulter. Die Zauberweberin legte eine Hand auf seine Stirn. Sie schloss die Augen und fühlte seinen Leib. Sein Herz schlug schwach, aber regelmäßig. Er hatte sehr viel Blut verloren. Das Schlüsselbein links vom Hals war zersplittert, sein Schulterblatt eingekerbt. Auch eine Rippe war gespalten.

Sie schenkte ihrem Liebsten Wärme. Mehr, als es das Amulett an seinem Hals vermochte. Dann griff sie nach der Macht des Albensteins. Kraft ihrer Gedanken heilte sie die Knochen und ließ zerfetzte Muskelstränge wieder zusammenwachsen. Nur das viele Blut, das er verloren hatte, konnte sie nicht ersetzen.

Sein Herzschlag war stärker geworden. Er lag in tiefem Schlaf. Lyndwyn bettete sein Haupt auf ihren Schoß. »Es ist doch immer wieder ergreifend, zum Zeugen junger Liebe zu werden.«

Die Zauberweberin fuhr auf. Die Stimme war in ihrem Kopf!

»Ich bin es, Shahondin. Hab keine Angst, meine Enkelin!«

»Wo bist du?« Lyndwyn sah sich verwundert um. Außer ihr und Ollowain war niemand auf dem weiten Berghang zu sehen.

»Bitte versprich mir, dich nicht zu erschrecken.« Die Stimme klang nun unendlich traurig. »Die Trolle haben mich gefangen. Und sie haben mir Schreckliches angetan, mein Mädchen. Ich bin nicht mehr der, den du kanntest.«

»Beweise mir, dass du mein Großvater bist! Erzähl mir etwas, das nur er wissen kann.«

»Kluges Mädchen! Warum solltest du einer fremden Stimme auch trauen. Klug warst du immer schon. Erinnerst du dich, als wir im Pavillon am Meer den Lichtvogel ersonnen haben? Der Mond stand tief über der Bucht, als du zum allerersten Mal den Vogel hast fliegen lassen. Du warst noch ein kleines Mädchen. Er sah ein wenig unförmig aus, dein erster Vogel. Seine Schwingen waren wie Pergamentbögen und der Kopf nur eine Kugel.«

Lyndwyn musste lächeln. Ja, sie erinnerte sich an diesen ersten Vogel. Sie war noch ein Kind gewesen. Shahondin hatte sie danach gelehrt, wie wichtig es war, genau hinzusehen, und dass nichts Lebendiges eine zufällige Form hatte. »Zeige dich, Großvater.«

»Bitte, Kind, lass dich nicht von meinem Aussehen blenden. Die Trolle haben Ungeheuerliches an mir verbrochen. Aber ich spüre die Macht, die dich umgibt. Eine Macht, die alles zu ändern vermag. Du kannst mich zurückholen.«

Lyndwyn hatte sich für alles Erdenkliche gewappnet, doch das, was sich aus dem Schnee erhob, war etwas, worauf man nicht vorbereitet sein konnte. Der riesige geisterhafte Hund mit dem einen blutroten Auge hatte gar nichts mehr mit ihrem Großvater gemein außer dessen Erinnerungen.

»Erschrick nicht, mein Kind. Taste nach meinem Geist. Fühle, dass ich es bin!« Die Kreatur öffnete sich ihr, und was die Zauberweberin fand, war ihr wohl vertraut. Auch die Düsternis in Shahondins Seele! Dies war das Einzige, was er vor ihr abschirmte. Seine dunkle Seite. Und sie wollte sie auch nicht sehen.

»Ruf mich zurück! Erinnere dich an den Mann, der ich war. Du kannst mir allein Kraft deiner Gedanken all das zurückgeben, was die Trolle mir gestohlen haben. Denk an den Großvater, mit dem du so viele Stunden gemeinsamer Studien verbrachtest. Nutze den Albenstein! Er hat die Macht, mich zurückzuholen.«

Lyndwyn dachte fest an die fernen Tage in Arkadien, an die gemeinsamen Reisen mit dem gestrengen und so gelehrten Großvater. Daran, wie er die Stirn runzelte, wenn sie seinen Gedanken nicht zu folgen vermochte, an sein glockenhelles Lachen, wenn sie sich beim Zaubern gar zu unbedarft angestellt hatte. Sein Lachen war vergangen mit den Jahren. Zuletzt hatte sie sich gar Geheimnisse erschlossen, die ihm immer verborgen geblieben waren.

Die Zauberweberin spürte, wie sich der Albenstein auf ihrer Brust erwärmte. In Gedanken erschuf sie einen Funken aus hellem Licht und ließ ihn tanzen. So wie damals, in Vahan Calyd, als sie den Lichtvogel erschaffen hatte. Zunächst zog er nur grobe Konturen. Dann wob er Faden um Faden und zog dabei an der Essenz des Geisterhundes. Lyndwyn stahl ihm schließlich das Lebenslicht und verwob es mit der neu erschaffenen Gestalt ihres Großvaters.

Als sie ihr Werk vollendet hatte, verblasste das Licht. Nackt stand Shahondin vor ihr im Schnee. Er hob die Hände, tastete ungläubig über seinen Leib. »Welch ein Wunder!« Seine Stimme klang fremd, dunkler. Und die Worte waren verwaschen, wie von einem Betrunkenen gelallt. »Ich muss wohl erst wieder lernen zu sprechen.« Er streckte die Hand aus. »Welch eine Macht! Nun gib mir den Albenstein. Wir werden ihn nutzen, um die Trolle zu vertreiben.«

Sie wich einen Schritt zurück. Die dunkle, fordernde Stimme war ihr unheimlich. Etwas an ihrem Zauber schien missglückt zu sein.

»Du wirst dich doch nicht deinem Großvater widersetzen! Den Stein! Wir wollten ihn schon in Vahan Calyd haben. Oder hast du das vergessen? Er gehört in die Hände eines richtigen Zauberwebers. Nicht in die eines Mädchens! Du ...« Er fasste sich an die Brust. Etwas in seinem Leib war in Bewegung geraten. Seine Rippen wölbten sich vor. Unter der Haut seines Bauchs malte sich etwas ab wie ein Gesicht, das gegen dünnen Seidenstoff drückte.

Shahondin schrie. Er drückte beide Hände auf seinen Bauch. Blut war auf seinen Lippen. Etwas Dunkles zwang sich aus seinem Leib. Knirschend bogen sich die Rippen auseinander. Sie zerrissen Muskeln und Haut. Ein dunkler Hundekopf, bedeckt mit schwarz schillernden Schuppen, schob sich aus seiner Mitte. Shahondin stürzte in den Schnee. Pfoten mit langen Krallen zerrissen den Leib, den Lyndwyn erschaffen hatte. Eisige Kälte wehte von der Hundegestalt. Eine Kälte, die selbst den Winter zittern machte.

»Erschrick nicht, mein Kind.«

Wieder war diese Stimme in ihrem Kopf. Sie klang lüstern und falsch! »Ein Unfall. Ein kleines Missgeschick nur. Dein Zauber war unvollkommen, wie damals bei dem ersten Vogel, den du erschufst. Gib mir den Stein! Wir können das ändern. Alles können wir ändern.«

Lyndwyn rief ein Wort der Macht. Ein flammender Bannkreis brannte im Schnee. Sie hatte sich täuschen lassen. Was immer dort aus dem Leib des Großvaters geboren wurde, es war nicht mehr Shahondin. Diese Kreatur durfte nicht sein!

Die Zauberweberin dachte an ihren Tanz über dem Feuer. Den Traum. Den Chor der Magie. An die Hitze. Den Gedanken an die Hitze wob sie in den Leib, den sie erschaffen hatte.

Der Hundekopf bog sich zurück.

»Du kannst mich nicht... «

Lyndwyn verschloss sich vor der Stimme in ihr. Sie trug den Albenstein! Sie vermochte jeden Zauber zu meistern, dachte sie zornig.

Die schwarze Gestalt schien in Shahondins zerrissenen Leib zurückkriechen zu wollen. Sie winselte wie ein junger Welpe. Plötzlich schien sie von innen heraus zu leuchten, einem dunklen Seidenlampion gleich, in den man eine Kerze stellte. Flammen schlugen aus der Schnauze.

Der Leib, den Lyndwyn erschaffen hatte, verging in blendendem Licht. Nur ein paar Ascheflocken blieben, die vom Wind den verschneiten Hang hinabgetragen wurden.

Erschöpft sank sie in den Schnee. War diese Kreatur wirklich ihr Großvater gewesen? Sie hatte so viel über sie gewusst... Doch sie war nicht der Shahondin gewesen, mit dem sie ihre Kindheit verlebt hatte! Sie sah den Ascheflocken nach. Weit unter ihr am Hang bewegte sich etwas. Trolle! Sie mussten das Licht gesehen haben. Lyndwyn blickte zu ihrem Geliebten. Es würde noch Stunden dauern, bis Ollowain erwachte. Und auch dann wäre er zu geschwächt. Sie hatte nicht die Kraft, ihn zu tragen. Und es gab kein Versteck. Zwei Stunden vielleicht, dann wären die Trolle hier. Es sei denn ...

Traurig beugte sie sich über Ollowain und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. »Du bist gekommen, um mich aus dem Feuer zu holen, mein weißer Ritter. Nun werde ich dich retten.« Sie drückte ihm den Albenstein in die Rechte. Um zu zaubern, fehlte es ihr an Kraft, nachdem sie ihrem Großvater einen Leib erschaffen und ihn dann wieder vernichtet hatte. Aber es gab noch einen anderen Weg, ihren Geliebten zu retten.

Sie erhob sich. Ein letztes Mal sah sie wehmütig zu Ollowain zurück. Dann ging sie den Trollen entgegen.

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