Der Pfeil in der Kehle

Hundegekläff ließ Ole aufschrecken. Sein Kopf brummte wie ein Bienenstock. Er war neben der Schüssel mit Hirsebrei eingeschlafen. Der Tisch war klebrig von vergossenem Met. »Still, ihr Mistviecher!«, schrie er, was ihm sofort Leid tat. War der Lärm der Hunde schon wie Dolchstiche in seinen Schädel, so traf ihn sein eigenes Geschrei wie ein Axthieb. Verdammter Met! Er hatte zu früh zu viel getrunken!

Benommen kam Ole auf die Beine. Durch das winzige, mit dünn geschabtem Leder bespannte Fenster drang kaum Licht in seine Hütte. Draußen steigerte sich das Gekläff der Hunde noch weiter. Vor ein paar Wochen hatte er das schon einmal erlebt. Da hatte es ein Fuchs gewagt, zwischen den Zwingern herumzustolzieren, und seine Hunde waren fast durchgedreht, weil sie an den Rotpelz nicht herangekommen waren.

Neben der Tür hing der breite Brustgurt, in dem all seine Peitschen steckten. Eine für jeden Hund. Sieben Stück. Er warf sich den Gurt über die Schulter und griff noch nach einem schweren Holzknüppel, der am Tisch lehnte. Diese Kläffer sollten ihn kennen lernen! Er würde ihnen das Fell gerben. Das war der einzige Weg, wie man einem Hund etwas beibringen konnte.

Als Ole die Tür aufdrückte, verstummten die Hunde schlagartig. Feige Bande! Sie wussten, was ihnen blühte. Er würde sie lehren, sich nicht von einem räudigen Fuchs ärgern zu lassen! Die Sonne stand tief über den Bergen im Westen. Das Licht traf ihn wie zwei glühende Pfeile, die durch seine Augen fuhren. Verfluchter Met! Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse zerspringen. Vor Schmerz wurde ihm übel. Er stützte sich gegen den Türrahmen.

Jetzt erst merkte er, dass auch die Vögel in den Bäumen schwiegen. Unheimlich still war es geworden. Er blinzelte. Da war eine Gestalt! Wie aus dem Nichts stand sie vor ihm. Gegen das Licht sah er im ersten Augenblick kaum mehr als einen Schattenriss. Seine Augen tränten.

»Welches Haus gehört Alfadas?«, fragte eine Frauenstimme, die sich seltsam anhörte. Wer immer dort sprach, kam nicht aus dem Fjordland. Die Stimme war singend. Selbst die einfachen Worte klangen wie ein leises Lied. »Ich beherrsche deine Sprache nicht gut. Du musst entschuldigen.«

Langsam kam Farbe in den Schattenriss. Ole rieb sich die tränenden Augen. Vor ihm stand ein fremdes Weib. Ihr langes Haar war zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Die Kleider starrten vor Dreck. Es waren ungewöhnliche Kleider. Ein sehr enges Lederwams und eine zerrissene Hose, die unanständig viel Bein sehen ließ. Ihre weißen Schenkel hatten etwas Aufreizendes. Ole spürte, wie sein Gemächt sich erhob. Vielleicht war sie eine Wanderhure? Und sie klopfte an seine Türe! Luth meinte es heute gut mit ihm. Sie hielt sogar einen Wanderstab in der Hand. Lange, schlanke Finger hatte sie. Er stellte sich vor, wie diese Finger seinen Stab umschlossen. Sie war vielleicht ein bisschen dürr, aber er wollte nicht mit dem Schicksal hadern.

»Verstehst du mich? Ich habe deine Sprache lange nicht gesprochen.« Sie lächelte entschuldigend.

Unglaublich, dachte Ole. Sie hatte noch alle Zähne, und sie erstrahlten weiß wie Gletschereis. »Ich versteh dich gut, sehr gut.« Er griff nach ihrem Arm. »Ich weiß, was du jetzt brauchst. Komm rein.« Er blinzelte. Jetzt sah er ganz klar. Ihre Augen! Bei allen Göttern! Sie sahen aus wie von einem Wolf. Und die Ohren! Ole ließ sie los. Solche Ohren hatte er noch nie an einem Menschen gesehen. Sie waren lang und spitz.

»Ich brauche Alfadas«, sagte die Fremde immer noch freundlich. »Ist er dort drinnen?«

Ole musste sich am Türrahmen festhalten. Er hatte das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick die Beine wegknicken würden. Der Jarl hatte die Elfen gerufen! Hätte er gestern Nacht nur den Mund gehalten und sich nicht dazu hinreißen lassen, Alfadas zu beleidigen. »Ich ... also ...«, stammelte er. »Bitte tu mir nichts!« Jetzt erkannte er, dass die Elfe keineswegs einen Wanderstab in Händen hielt, sondern einen Bogen, auf den keine Sehne aufgezogen war.

»Du riechst nach Angst wie deine Hunde. Warum? Welchen Grund hast du, mich zu fürchten?«

Ole fühlte sich, als wäre seine Zunge an den Gaumen genagelt. Er brachte kein Wort hervor und zitterte am ganzen Leib.

»Bist du vielleicht krank, Menschensohn? Komm, ich bringe dich hinüber zu den Hütten, damit sich deine Leute um dich kümmern.«

Sie schlang ihm den Arm unter den Achseln hindurch und zog ihn mit sich. Sie roch fremd. Wie der Wald. Ganz anders als Menschen. Der einzig vertraute Duft an ihr war ein schwacher Geruch nach Rauch. Sie war stark. Ohne Mühe stützte sie ihn und half ihm zu gehen.

Die Hunde lagen in ihren Zwingern flach auf den Boden gepresst und verhielten sich ganz still. Sie wussten, wer da gekommen war, ihn zu holen.

Als sie halb um das Haus herum waren, sah er die anderen. Einige Elfen und ein Pferd, aus dessen Brust ein Männerleib wuchs! Ole spürte, wie sich seine Blase entleerte. Bei allen Göttern! Hätte er gestern nur geschwiegen! Er würde nie wieder ein böses Wort über den Jarl verlieren, wenn er diesen Abend überlebte!

Der Pferdemann hielt ein Mädchen mit verbranntem Gesicht in seinen Armen. Und neben ihm lief ein kleiner, hässlicher Kerl her, der Ole verschlagen mit seinen gelben Augen ansah. Einem der Elfen steckte ein abgebrochener Pfeil in der Kehle, aber er lebte! Überhaupt machte die kleine Gruppe einen heruntergekommenen Eindruck. Ihre Kleidung war abgerissen, und fast alle waren verwundet. Der Pferdemann und zwei andere hatten einen seltsamen Hautausschlag. Krätze schien es nicht zu sein, aber es sah nicht gut aus. Dicke, rote Beulen entstellten ihre Gesichter.

Die Elfe, die ihn abgeholt hatte, ließ sich nichts anmerken, als er sich in die Hose machte. Aber der kleine Kerl grinste ihn böse an, als er den Fleck sah.

Oles Hütte lag fast eine Meile von Firnstayn entfernt. Sie stand hoch am Ufer, und man hatte von dort einen guten Blick hinüber zum Dorf. Die Elfe deutete auf die kleine Siedlung und wiederholte noch einmal ihre Frage nach dem Haus des Jarls.

Ole zeigte auf den lang gestreckten Holzbau am Dorfrand. Daraufhin stieß der Kerl mit dem Pfeil im Hals ein Röcheln aus und deutete in weitem Bogen um das Dorf herum. Offenbar wollte er so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Ole hoffte, dass der Wachturm besetzt war. Doch er wusste nur zu gut, wie selten man diese Pflicht noch ernst nahm. Seit vielen Jahren waren keine Feinde mehr in der Gegend gewesen. Die kleine Gruppe machte sich auf den Weg. »Man wird dir sicher helfen«, erklärte die Elfe, die ihn stützte.

»Mir geht es gut«, beteuerte er. »Ich kann selbst nach mir sehen. Ihr braucht euch keine Mühe mit mir zu geben.«

Die Jägerin sah ihn zweifelnd an und sagte dann etwas zu dem Mann mit dem Pfeil im Hals. An seiner Stelle antwortete der kleine Kerl. Es klang irgendwie abfällig. Der Pferdemann lachte.

»Meine Gefährten sind der Meinung, dass du nicht schwer krank bist und wir dich wirklich zurücklassen können. Ich möchte mich im Namen aller entschuldigen, falls wir dich erschreckt haben sollten.« Sie half ihm, sich auf einem Stein am Wegesrand niederzusetzen. Dann zog die kleine Gruppe weiter.

Bald verließen sie den Pfad zum Dorf und suchten Deckung im Dickicht des Waldrandes. Dort verlor auch Ole sie schnell aus dem Blick.

Der Hundezüchter sah zum Hartungskliff hinüber. Der Berg sah aus wie immer. Er hatte erwartet, oben zwischen den stehenden Steinen Banner wehen zu sehen oder noch weitere Elfen zu erblicken. Doch da war nichts. »Dank dir, Luth«, murmelte Ole leise. Er würde hinauf in die Berge steigen und den Eisenbärten ein Opfer bringen. Der Schicksalsweber hatte sich gnädig gezeigt.

Bevor er seine Pilgerreise antrat, sollte er dringend die Einwohner Firnstayns warnen. Sie mussten wissen, was für eine Brut dort gekommen war, um sich unter dem Dach des Jarls zu verbergen. Pferdemänner, Elfen und Kobolde! Er hatte schon immer gewusst, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte, dieses Halbblut Alfadas ins Dorf aufzunehmen. Die Freunde von ihm würden Ärger machen! Sie rochen förmlich danach! Zuallererst aber sollte er seine Hose wechseln.

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