Das Geschenk der Freiheit

Die Leiche der falschen Königin war mit zwei Stricken auf den Schild Branbarts gebunden worden. Ihr Kopf hing leicht zur Seite. Damit die Krone nicht herabfiel, hatte man sie mit dünnen Nägeln an ihren Schädel geheftet. Der Schild lehnte an der rußgeschwärzten Säule, die sich in der Mitte des Muschelfischermarktes erhob. Jeder, der vorüberging, konnte die Schwanenkrone deutlich erkennen. Und glaubte man Skanga, sollte die Krone allein reichen, jedes Auge zu blenden. Die verbrannte Tote sah Emerelle ähnlich genug. Die Albenkinder sollten in einigen Schritt Abstand an der vermeintlichen Leiche vorbeigeführt werden. Zu ihren Füßen lagen der falsche Ollowain und andere, wahrhaftige Fürsten Albenmarks.

Orgrim fand diesen Betrug eines Trolls unwürdig. Er vermutete, dass die alte Schamanin die Intrige ersonnen hatte. Dass er zu den Wachen gehörte, die bei der Königin standen, war allerdings gewiss Branbarts Idee gewesen. Von hier aus sah er all die Herzöge und Rudelführer, die sich zum Siegesfest um den König geschart hatten. Deutlicher konnte man ihm seinen Fall nicht vor Augen führen. Auch Gran und Boltan gehörten zu den Wächtern der Leichen. Süßlicher Verwesungsgeruch ging von den Toten aus. Die Hitze und die unzähligen Fliegen hatten den Kadavern bereits übel mitgespielt.

Auf dem weiten Platz herrschte ängstliche Stille. Alle Albenkinder, welche die Eroberung Vahan Calyds überlebt hatten, waren hier zusammengetrieben worden. Nur ihre Fürsten wurden an einem anderen Ort gefangen gehalten. Viele waren verwundet und am Ende ihrer Kräfte. Manche warteten schon seit Stunden in der Hitze. Im Morgengrauen hatten die Trolle damit begonnen, die Überlebenden hierher zu treiben.

Auf Branbarts Geheiß hatte man Wasserfässer und Brot gebracht. Doch dem König war es nicht gelungen, durch diese freundliche Geste die Angst zu vertreiben. Kaum jemand wagte es, dem Blick eines Trolls zu begegnen. Wie hatten diese Wichte sie einst besiegen können, fragte sich Orgrim.

Der Ruf von Hörnern durchbrach die Stille. Branbart trat aus der Gruppe seiner Anführer hervor und stellte sich neben die Tote mit der Schwanenkrone. Geräuschvoll zog er die Nase hoch und spuckte aus.

»Albenkinder!«, rief er mit lauter Stimme. »Ich bin gekommen, euch die Freiheit zu schenken. Die Tyrannin ist tot!« Er wandte sich halb zu Emerelle herum, und plötzlich rammte er der Toten die Faust in die Brust. Ihre dünnen Rippen zerbarsten. Stinkende bräunliche Flüssigkeit troff von der Wunde. Branbarts Finger wühlten in der Brust der Toten. Dann riss er den Arm hoch und streckte den Albenkindern einen fauligen klumpen Fleisch entgegen. »Ein verrottetes Herz hat Albenmark vergiftet!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.

»Ich habe es herausgerissen, damit das Land wieder gesunden kann. Die Alben haben nie gewollt, dass eines ihrer Kinder über allen anderen steht. Dass einer von uns allein entscheidet, was Recht und was Unrecht ist. Dass eine allen sagt, wie sie leben sollen, und jene, die ihr nicht gehorchen, davonjagt oder gar ermordet. In der letzten Nacht haben wir Trolle altes Unrecht gesühnt. Doch wir führen keinen Krieg gegen Albenmark. Wir kämpfen allein gegen Emerelle und gegen alle, die der Tyrannin treu ergeben sind. Deshalb seid ihr frei zu gehen. Kommt her, seht der toten Königin ins Antlitz und tragt die Kunde in alle Winde hinaus. Die Völker Albenmarks sind frei. Ich bin der König meines Volkes, doch die Schwanenkrone wird niemals mein Haupt krönen. Und niemand wird sich mehr vor ihr verbeugen.«

Branbart schnauzte sich und spuckte erneut aus. Ohne diese Geste wäre das Ende seiner Rede ergreifender gewesen. Doch selbst Orgrim musste sich eingestehen, dass die Worte seines Königs ihn aufgewühlt hatten. Branbart war ein wahrer Herrscher! Von ihm konnte er noch viel lernen.

Seine Fürsten begrüßten die Rede des Königs mit Jubelrufen, und auch die übrigen Trolle ließen Branbart hochleben. Überall in der Stadt wurden Hörner geblasen. Die Albenkinder auf dem Muschelfischermarkt waren so eingeschüchtert, dass dort zunächst nur einzelne in das Geschrei einstimmten. Nach und nach stimmten mehr ein, doch es blieb ein schwächlicher Jubel, dem seine Halbherzigkeit nur allzu deutlich anzuhören war. Jahrhunderte unter der Knute Emerelles hatten die Herzen der Albenvölker gefesselt, dachte Orgrim. Der Wind der Freiheit war wie ein Sturm über sie hinweggezogen, und noch wagten die meisten kaum zu atmen. Was für jämmerliche Wichte!

Der Troll konnte beobachten, wie stattliche Kentauren und die bärenstarken Minotauren trotzig mit verschränkten Armen dort standen. Und doch wagten sie es nicht, einen der Sieger mit Blicken zu fordern, sondern sahen verschämt zu Boden. Wie erbärmlich! Aber Orgrim war zuversichtlich, dass sie wieder zu ihrem Stolz finden würden. Und wäre es erst die nächste Generation von Albenkindern, jene, die in Freiheit geboren sein würden.

Die Wachen auf dem Platz packten einige Elfen und zerrten sie vor den Kadaver der Königin. »Seht sie euch an! Emerelle ist nur noch ein verrottendes Stück Fleisch. Seht genau hin, damit ihr es nicht vergesst.« Bleiche Maden kullerten aus der klaffenden Wunde in der Brust der falschen Herrscherin. Der Geruch, den sie verströmte, war ganz und gar nicht königinnenhaft. Eine Elfe brach schluchzend zusammen, als sie gezwungen wurde, sich dem Kadaver bis auf wenige Zoll zu nähern. Viele, die an der Herrscherin vorbeimarschierten, hatten Tränen in den Augen. Orgrim war unbegreiflich, warum sie der Tyrannin nachtrauerten.

Er sah zum falschen Schwertmeister hinab. Die Ereignisse der Nacht hatten Orgrim nicht erlaubt, sein Festmahl zu halten. Nun war der Zeitpunkt verpasst. Es war eine Schande, dass er diesem Elfenhelden nicht die letzte Ehre erweisen konnte, indem er sein Herz verspeiste. Wenn er daran dachte, wie viel verdorbenes Fleisch in der Stadt lag, packte ihn die kalte Wut. Was für eine Verschwendung! Er war froh, dass die Flotte schon bald Vahan Calyd verlassen würde, um einen nördlichen Kurs zu steuern.

Branbart ging zu seinem Gefolge herüber. Sie würden jetzt irgendwo ein Fest feiern, dachte Orgrim eifersüchtig. Und er war sich sicher, dass sie sich ein paar saftige Braten aufgehoben hatten. Ein paar Elflein, die man jetzt erst schlachtete. Helden, die wacker gekämpft hatten und in Gefangenschaft geraten waren. Und sein Heer hatte Branbart um den besten Teil der Beute betrogen! Es tat schon in der Seele weh, all diese Elfen, die auf dem Platz versammelt waren, ziehen zu lassen. Man hätte noch wochenlang Festgelage mit ihnen feiern können! Orgrim starrte einem Minotauren nach, der an der falschen Königin vorüber geschritten war. Wie sein Fleisch wohl schmecken würde? Wie Rind?

Schwere Schritte ließen ihn aufblicken. Ein Trollkrieger mit breiten Schmucknarben im Gesicht kam auf ihn zugelaufen.

»Bist du der Kerl, dem die Elfen das Schiff versenkt haben?«

»Schon möglich«, entgegnete Orgrim gereizt.

»Du bist zu den Ehrenwachen an der Festtafel des Königs befohlen.« Orgrim traute seinen Ohren kaum. Würden die Demütigungen denn gar kein Ende mehr nehmen? Sollte er nun noch zusehen, wie sich Branbart mit allerlei Köstlichkeiten den Bauch voll schlug? »Wer schickt dich, Kerl? Der König?«

»Nein, erhabener Schiffeversenker!« Der Bote grinste frech.

»Es ist Skanga, die deine Anwesenheit wünscht. Und wenn du schon so dämlich warst, diesen Wichten zu erlauben, mit einem ihrer zerbrechlichen Schiffchen eine unserer stattlichen Galeassen zu versenken, solltest du nicht auch noch den Fehler machen, dich mit der Schamanin anzulegen. Nimm die Beine in die Hand und lauf!« Er deutete auf einen Turm, der halb von Heckenrosen zugewachsen war. »Dort drüben findest du den König und sein Gefolge. Ich werde hier deinen Platz einnehmen.«

Orgrim merkte sich das Gesicht des dreisten Kerls. Als Rudelführer hätte er ihn einfach niederschlagen können, aber den einfachen Kriegern war es für die Dauer des Feldzugs verboten, Zweikämpfe auszutragen. Der Krieg dauerte gewiss nicht mehr sehr lange, und dann würde er diesem hirnlosen Dreckhaufen zeigen, was es hieß, ihn zu verspotten!

Wütend stapfte Orgrim hinüber zum Rosenturm. Voller Verachtung betrachtete er die Gitter, an denen die Blumen hinaufrankten. Wenn er jemals einen Palast besäße, dann würde er ihn gewiss nicht mit wucherndem Grünzeug schmücken. Was sagte das aus? Dass darin ein Freund der Auenfeen lebte? Oder jemand, der gerne Wasser auf Blütenblätter goss und sich an deren Duft erfreute? Er würde die Köpfe seiner erschlagenen Feinde auf Holzpflöcke stecken und sie auf seine Mauern stellen. Solcher Schmuck taugte wenigstens was! Jeder, der kam, wusste dann sogleich, woran er war, und dass man besser höflich blieb.

Der Lärm des Festes führte Orgrim auf den Lichthof, auf dem Branbart und sein Hofstaat feierten. Um ein Becken, aus dem eine kleine Wasserfontäne sprühte, gab es einen Kreuzgang, an dessen Säulen Weinreben wucherten. Orgrim klaubte eine der großen Trauben ab und stopfte sie sich in den Mund. Er hatte heute noch gar nichts gegessen. Das hier war wenigstens nützliches Grünzeug.

Der König und einige seiner liebsten Speichellecker saßen um einen schweren Holztisch am Becken des Springbrunnens. Ein paar Schritt weiter hatte man eine Feuerstelle auf dem Mosaikboden eingerichtet, die von Kobolden mit dem Holz zerschlagener Möbel versorgt wurde. Über dem Feuer drehte sich ein riesiger Braten auf einem Spieß. Irgendetwas Großes, Vierbeiniges, was Orgrim nicht richtig zuordnen konnte. Der Bratenduft ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Der Troll war unschlüssig, was er nun tun sollte. Etwas abseits der Festtafel saß Skanga in einem hohen Lehnstuhl. Die Schamanin schien eingenickt zu sein, und Orgrim verspürte nicht die geringste Lust, sie zu wecken und zu fragen, aus welchem Grund sie ihn hierher befohlen hatte. So hielt er sich im Schatten des Kreuzgangs, pflückte Trauben von den Weinranken und sah Branbart zu. Der König war allerbester Laune und redete von seinen Zukunftsplänen. Er wollte die ganze Stadt niederreißen, doch dazu fehlte die Zeit. Stattdessen sollte jedes Haus in Brand gesetzt werden. Jeder, der hier wohnte, würde flüchten müssen. Und alle Toten sollten hinab in die großen Höhlen unter Vahan Calyd geworfen werden, damit das Trinkwasser für lange Zeit vergiftet war.

»Willst du wirklich alle Albenkinder laufen lassen? Sogar die Elfen?«, fragte Dumgar, der Herzog vom Mordstein. »Diese verschlagenen Wichte werden sich aufs Neue gegen uns erheben, sobald sie Gelegenheit dazu haben.«

Der König spuckte ins steinerne Antlitz einer Elfensängerin im Bodenmosaik zu seinen Füßen. »Nein, mein Freund. Weil ich nicht nach der Königswürde von Albenmark strebe, werden sie sich jahrelang darum streiten, wer an Emerelles Stelle die Schwanenkrone tragen soll. Zanken und Intrigen spinnen, das ist ihr Leben. Mit den Elfen werden wir lange nichts mehr zu tun haben. Außer mit jenen, mit denen wir noch alte Rechnungen begleichen wollen. Die Normirga werden wir auslöschen. Und wer war der Kerl, der die fliehenden Schiffe befehligt hatte? Halliwan von Weißnichtmehr ...« Der König sah sich Hilfe suchend um.

»Hallandan von Reilimee«, sagte schließlich Mandrag, der alte Schildbruder des Herrschers. Der grauhaarige Troll war nach der Schlacht bei der Shalyn Falah von den Elfen als tot liegen gelassen worden. Bei Nacht hatte er sich zwischen die Klippen geschleppt, und so war er Zeuge des Mordes geworden, den Emerelle an den Fürsten der Trolle begangen hatte. Mandrag hatte sein Volk in den ersten Jahren der Verbannung angeführt. Nachdem Skanga in Branbart die Seele des wiedergeborenen Königs erkannt hatte, war der Krieger zurückgetreten, doch der König ehrte ihn, indem er Mandrag zu seinem engsten Vertrauten machte.

»Also, die Stadt dieses Halliwan soll brennen! Seine Männer haben eines unserer Schiffe versenkt, und was noch schwerer wiegt, sie halten uns Trolle wohl für Trottel. Der Kerl dachte, er müsste uns nur eine Leiche mit Krone hinlegen, und schon würden wir jauchzen und jubeln und denken, die Tyrannin sei tot. So täuscht man vielleicht einen Welpen wie diesen Rudelführer von der Donnerer, aber doch nicht mich, den König. Mich beleidigt man mit solchen einfältigen Spielchen. Und dafür wird die Stadt dieses Halliwan büßen. Den anderen Elfen wird es ein Beispiel sein, was wir mit den Freunden der Tyrannin tun. Das wird den paar Kriegern, die vielleicht an Rache denken, das Mütchen kühlen.«

In stummer Wut drückte sich Orgrim die Fingernägel in die Handflächen, bis er zu bluten begann. Der König ließ keine Gelegenheit aus, ihn lächerlich zu machen. Und das Schlimmste war, dass Branbart auch noch Recht hatte. Er war auf die Täuschung der Elfen hereingefallen und hatte sein Schiff verloren. Aber hatte er eine Wahl gehabt?

»Die Holden und die Kobolde halten wir fest«, erklärte Branbart vollmundig. »Die meisten von ihnen waren Elfendiener. Jetzt sollen sie uns dienen! Sie brauchen es, dass man ihnen sagt, was sie zu tun haben. Und kein anderes Albenkind wird ihnen eine Träne nachweinen. Mit Freiheit können die sowieso nichts anfangen. Die eine Hälfte von ihnen soll auf Schiffe verladen werden, damit man sie auf unsere Burgen in der Menschenwelt bringt. Dort sind uns viel zu wenige Kobolddiener verblieben! Die anderen begleiten das Heer, wenn wir nach Norden ziehen.«

»Wir sollten sie auf mehrere Schiffe aufteilen«, riet Dumgar.

»Dann werden wir wenigstens nicht alle auf einmal verlieren, falls ...«

»Schweig!«, herrschte ihn der König an. »Wehe dem, der mich noch einmal an den Preis für den Weg in diese Welt erinnert.« Er warf Skanga einen finsteren Blick zu. »Kaum ein Trollkönig hat bei seinen Niederlagen so viele Krieger verloren wie ich bei meinem Sieg.«

Orgrim hatte am Morgen die Gerüchte gehört. Gestern Nacht während des Angriffs hatte sich die Nachricht nicht verbreiten können. Doch nun, in der Stadt, ging sie von Mund zu Mund. Angeblich waren sieben Schiffe auf ihrem Weg durch das Nichts verschwunden. Zusammen mit den vier, die verbrannt waren, und der Donnerer war das mehr als der zehnte Teil ihrer Flotte. Über zweieinhalbtausend Krieger waren tot, bevor sie in ihr erstes Gefecht gestürmt waren.

Niemand wusste sicher, warum die Schiffe im Nichts verschwunden waren. Sie mussten vom goldenen Pfad abgekommen sein. Aber wie hatte das geschehen können? Skanga hatte jedem Rudelführer eindringlich eingeschärft, dass die geringste Nachlässigkeit den Tod bedeuten würde. Ihr Weg durch das Nichts war nicht weit gewesen. Nur ein paar Schiffslängen, so war es Orgrim zumindest erschienen.

Ein Trupp Wachen betrat den Hof. Zu viert umringten sie einen Elfen. Der Wicht war ganz in Blau gekleidet, und obwohl er Fesseln trug, bewegte er sich mit einer so selbstbewussten Arroganz, als sei er der Sieger der vergangenen Nacht.

»Ich begrüße dich in meinem Haus, Branbart von den Trollen«, sagte er mit wohlklingender Stimme. »Ich hoffe, meine Diener haben es dir in meiner Abwesenheit an nichts fehlen lassen.«

Orgrim verschluckte sich fast an einer Traube. Dieser Wicht hatte Schneid! Wie lange er wohl noch seinen Kopf auf den Schultern behalten würde?

Branbart setzte sein Trinkhorn ab und musterte den Elfen aus seinen tief liegenden Augen. Ganz offensichtlich war der König überrumpelt und wusste nicht gleich, was er antworten sollte.

»Wer bist du?«, stieß er schließlich hervor. Mit dieser eher einfältigen Frage hatte er kläglich im Vergleich zu dem Elfen abgeschnitten, fand Orgrim. Selbst ein Keulenhieb wäre eine bessere Antwort gewesen.

»Der Besitzer dieses Palastes, Fürst Shahondin von Arkadien.« Er trat an die Festtafel und stach mit einem Finger in den riesigen Spießbraten. »Mir scheint, dieser Lamassu ist nicht ganz durch. Soll ich einen meiner Köche rufen lassen, damit du bedient wirst, wie es für einen großen Heerführer angemessen ist?«

»Wir mögen das Fleisch blutig«, grunzte Branbart. »Was willst du von mir, du Wicht?«

Der Elf lehnte sich an die Festtafel und sah sich gelassen um, bevor er dem König eine Antwort schenkte. »Ich wollte dir dazu gratulieren, mir mein Wild gestohlen zu haben. Zwei Jäger hatte ich ausgeschickt, das Leben der Tyrannin Emerelle zu beenden. Und wie es scheint, bist du mir fast zuvorgekommen, großer Feldherr.«

»Was soll das heißen?«

Der arrogante Elf schaffte es, den König, der mehr als fünf Köpfe größer war als er, anzuschauen, als stünde eine dümmlich glotzende Büffelkuh vor ihm. »Das Fürstenhaus Arkadien liegt in Blutfehde mit Emerelle. Ich hatte beschlossen, dass die Königin die vergangene Nacht nicht überleben werde. Dank deinem Eingreifen konnte sie entkommen. Man hat mir berichtet, dass ihre Sänfte den Lotussteig hinauf geschafft wurde. Und bei allem Respekt für dein Maskenspiel, Heerführer, die Leiche, die du auf dem Muschelfischermarkt ausstellst, trägt nicht einmal das Kleid, mit dem Emerelle gestern Abend angetan war. Vielmehr ist sie gekleidet wie jene unglückliche Jungfer, die der Königin die Schwanenkrone brachte.«

Branbart fiel sein Trinkhorn aus der Hand. Auf dem Hof herrschte Totenstille. Orgrim fragte sich, wie viele Albenkinder die Täuschung durchschaut haben mochten. Emerelle war vor ihrer Krönung im Triumph durch die halbe Stadt gezogen. Tausende mussten sie gesehen haben.

Orgrim dachte, dass er ihrem Kleid wohl kaum Beachtung geschenkt hätte. Zahl und Bewaffnung ihrer Leibwächter hätten ihn interessiert. Aber diese Elfen waren anders. Er konnte sich vorstellen, dass einige, die ihr nahe genug gekommen waren, sogar wussten, welchen Duft die Tyrannin aufgelegt hatte.

»Ich wollte dir meine Hilfe dabei anbieten, die flüchtige Königin zu stellen. Wenn wir unsere Kräfte vereinen, sollte es ein Leichtes sein, sie zu finden.« Shahondin schnippte lässig mit den Fingern und deutete auf einen der Kobolde, die am Feuer schufteten. »Slavak! Bring mir einen Becher mit Wein, leicht gekühlt. Du weißt, was mir um diese Tageszeit mundet.«

»Warum sollte ich dir trauen?«, fragte der König und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Er maß den Elfen mit einem Blick wie ein Fleischhauer, der sich überlegt, wie er eine Büffelhälfte aufteilt. Shahondin blieb davon unbeeindruckt. Er runzelte die Stirn, ging zum Stapel mit dem Brennholz und zog eine kleine, geschnitzte Figur daraus hervor. Kopfschüttelnd wischte er mit dem Ärmel den Schmutz ab und stellte sie zur Seite. »Ein Bildnis meines Großvaters. Ich habe es geschnitzt, als ich sehr jung war. Es ist weit entfernt von jeglicher Vollkommenheit, doch wie es mit den Dingen aus Jugendtagen so ist, hängt mein Herz daran. Es wäre sehr entgegenkommend, wenn ihr davon absehen könntet, diese kleine Statue in die Zubereitung eures Mittagsmahls mit einzubeziehen. Und was deine Frage angeht, Branbart: Weder Freundschaft noch Liebe sind so beständig wie brennender Hass. Welchen besseren Verbündeten könntest du dir also wünschen?« Der Kobold brachte Shahondin einen Trinkbecher aus Kristall und Silber. Der Elf prostete Branbart zu. »Ich trinke mit dir auf den Untergang der Tyrannin, großer Feldherr.«

Branbart war so überrumpelt, dass er sich tatsächlich nach seinem Trinkhorn bückte. Merkt dieser Trottel denn nicht, wie er sich zum Lakaien des Elfen macht?, dachte Orgrim wütend.

Der König ließ sich auf einem der schweren Holzstühle nieder und fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »Was für eine Hitze!«, murrte er und winkte den Wachen, die Shahondin vorgeführt hatten. »Bringt mir das Hirn dieses überheblichen Elfen auf einem Holzbrett. Vielleicht werde ich ihn besser verstehen, wenn ich davon gekostet habe.«

»Du machst einen Fehler, Troll«, sagte der Elf gefasst. »Wenn du Emerelle nicht schnell fasst, wird sie es nicht dabei bewenden lassen, dich und dein Gefolge von einer Brücke zu stürzen. Sie wird dafür sorgen, dass du niemals mehr wiedergeboren wirst.«

»Glaubst du, ich lasse mir von einem Wicht wie dir drohen?«, keifte der König. »Los, zu Boden mit ihm. Ich zerdrücke seinen Schädel unter meinem Fuß wie einen fauligen Apfel.«

Die Wachen packten Shahondin, der nicht den geringsten Widerstand leistete. »Ich drohe dir nicht, Branbart. Ich sage lediglich, was sein wird.«

»Halt!« Skanga hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. Mit müden, schleppenden Schritten trat sie zu dem Elfen. Die Wachen hielten Shahondin noch immer zu Boden gedrückt. »Du bist ein tolldreister Mistkerl, Fürst. Ein Mann nach meinem Geschmack.« Sie bückte sich und strich mit ihrer knotigen Hand durch sein langes Haar. »Gibt es noch mehr Fürsten, die von so bewundernswertem Hass auf Emerelle erfüllt sind?«

»Ohne durch übertriebene Ansprüche unangenehm auffallen zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass dies keine Lage ist, in der ich gewöhnlich ein gepflegtes Gespräch führe. Wenn es also nicht zu viele Umstände macht, wäre es sehr zuvorkommend von dir, wenn du diese beiden Knochenbrecher veranlassen könntest, mich loszulassen.«

Skanga bedeutete den Wachen mit einem Wink, den Fürsten freizugeben. Shahondin richtete sich auf und klopfte sich den Staub von den Gewändern. »Meinen Dank für dein Einschreiten, Teuerste.«

»Beantworte meine Frage, wenn dir an deinem Leben liegt.«

Der Elf schürzte, pikiert über ihre direkte Art, die Lippen.

»Mein Sohn, Vahelmin, hat der Königin ebenfalls Blutrache geschworen. Er ist ein berühmter Jäger und Bogenschütze. Ich bin sicher, er wird von großem Nutzen sein, wenn wir Emerelle nachstellen.«

Skanga strich sich über ihr breites Kinn. »Ja, Elflein, das mag wohl sein. Wen hattest du denn damit beauftragt, die Königin zu töten?«

»Du wirst verstehen, dass ich über so delikate Angelegenheiten nicht gern rede. Deshalb sei nur so viel gesagt, dass meine Sippe den Tod Emerelles als eine Familienangelegenheit betrachtet.«

»Soll ich aus ihm herausprügeln, wer seine Meuchler sind?« fragte Dumgar.

»Ich versichere euch, eine Behandlung dieser Art würde auf immer meine Lippen versiegeln«, entgegnete der Elf stolz.

»So fest wollte ich eigentlich nicht zuschlagen«, erwiderte Dumgar. »Zumindest noch nicht am Anfang. Wirst du ihn mir überlassen, mein König?«

»Ich beanspruche ihn und seinen Sohn als meine Kriegsbeute«, sagte Skanga leise, »und ich wünsche nicht, noch länger darüber zu schachern.«

Der Elf machte eine galante Verbeugung vor der Schamanin.

»Ich bin entzückt, die Beute einer so ... liebreizenden Dame zu sein.«

»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite.« Skanga bedachte ihn mit einem zahnlückigen Lächeln, dann gab sie den Wachen ein Zeichen. »Führt ihn ab und achtet gut auf ihn. Findet seinen Sohn, diesen Vahelmin! Bringt mir die beiden eine Stunde vor der Dämmerung in mein Zelt.« Die Schamanin zog sich in den Schatten des Kreuzgangs zurück und überließ den König und seine Kumpanen ihrem Gelage. Bald darauf setzte sie sich neben Orgrim nieder. Jetzt wirkte die Alte wieder schwach und ausgebrannt. Orgrim fragte sich, wer sie wirklich war: eine energische Furie, die jeden Widerstand brach, selbst dem König Befehle erteilte und ihre Macht hinter der Maske der Hinfälligkeit verbarg? Oder war sie tatsächlich nur eine erschöpfte alte Frau, die in ihren Sternstunden noch einmal zu ihrer alten Macht zurückfand? Orgrim hoffte, dass er nicht oft genug mit ihr zu tun hatte, um die Wahrheit herauszufinden. Ohne es wie eine Flucht aussehen zu lassen, versuchte er sich davonzumachen, denn in einem Punkt war er sich sicher: Skanga war ihm unheimlich!

»Hast du etwas gelernt, Welpe?«, fragte sie ihn mit ihrer leisen, eindringlichen Stimme. »Ist dir an dem Elfen etwas aufgefallen?«

»Tja ...« Die Frage überraschte Orgrim. Was sollte das? Hatte die Alte etwa beschlossen, ihn zu ihrem Zögling zu machen? Ihn schauderte bei dem Gedanken. »Er war überheblich ... Aber mutig.« Orgrim senkte seine Stimme. »Mir hat gefallen, wie er dem König zugesetzt hat.«

»Branbart ist nicht so ein Trottel, wie es scheint. Hüte dich vor ihm, Orgrim. Wenn er dein Feind ist, wirst du nicht mehr sehr alt werden.« Skanga rieb sich ihre milchigen Augen und rückte tiefer in den Schatten. »Ist dir aufgefallen, dass dieser Mistkerl von einem Elfen Branbart nicht ein einziges Mal mit seinem Königstitel angesprochen hat? Er hat ihn mit jedem seiner Sätze verspottet und beleidigt. So sind sie, die Elfen. Es ist kein böses Wort über seine Lippen gekommen, und doch hat er sein Bestes gegeben, Branbart bloßzustellen. In einem hast du allerdings Recht. Er ist wirklich mutig. Mutig und von Hass durchdrungen. Und er hält uns für dumm. Er wird ein nützlicher Verbündeter sein.«

»Du traust einem Elfen?«, fragte Orgrim überrascht.

Skanga schnalzte mit der Zunge. »Habe ich das vielleicht gesagt? Du musst lernen, genau zuzuhören, Welpe. In dir stecken alle Anlagen zu einem Herzog.« Sie lächelte hintersinnig. »Ich rate dir, halte dich in meiner Nähe. Womöglich hat auch Branbart erkannt, was in dir steckt. Dann wird er versuchen, dich umbringen zu lassen. Ich bin sicher, er wäre ein guter Herrscher geworden, wenn ihn nicht dieser mörderische Schlag vor die Stirn getroffen hätte. Der Dickkopf hat mir damals verboten, meine Kräfte zu nutzen, ihn zu heilen. Er befürchtete wohl, ich könnte ihn umbringen. Seitdem läuft ihm ununterbrochen die Nase. Deshalb spuckt er dauernd Schleim. Das hat sein Selbstbewusstsein zerstört. Er hat treue Krieger erschlagen, nur weil er sich einbildete, sie hätten ihn spöttisch angesehen. Sein Makel macht ihn langsam wahnsinnig. Er fürchtet mich, weil er glaubt, ich würde ihn eines Tages töten, damit sich seine Seele in einen neuen Körper kleiden kann.« Sie strich sich wieder über ihre Augen. »Nur eine Närrin würde es wagen, in das empfindliche Gleichgewicht von Tod und Wiedergeburt einzugreifen. Seine Stunde wird kommen, ohne dass ich etwas dazutue.«

Orgrim hütete sich, auf ihre Bemerkung einzugehen. Er hatte das Gefühl, dass jedes Wort nur falsch sein konnte. Schon jetzt war er dem Königshof viel zu nahe gekommen. Es wäre besser, unter einfachen Kriegern an einem der vielen Feuer zu sitzen und den Sieg mit einem Festmahl zu feiern.

Skanga erhob sich mit einem Seufzen. »Ich erwarte dich eine Stunde vor der Dämmerung in meinem Zelt am Hafen. In dieser Nacht wird sich etwas ereignen, was du sehen solltest.« Sie wirkte jetzt weniger hinfällig als vorhin, als sie sich von ihrem Stuhl in der Sonne erhoben hatte. Vielleicht weil sie ein Geschöpf des Schattens war? Orgrim bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, in das Zelt der Schamanin geladen zu sein. Zur selben Stunde, in der auch die Elfen kommen sollten! Was hatte sie vor?

»Ach, Orgrim.« Skanga war stehen geblieben, drehte sich aber nicht zu ihm um. »Du solltest von dem Lamassu auf dem Spieß kosten. Sein Fleisch schmeckt wie Rind, aber auch ein wenig wie Geflügel. Sehr ungewöhnlich. Einen solchen Braten wird es so schnell nicht wieder geben. Und es heißt, er hat gut gekämpft. Im Wassergarten, nahe den Baumsümpfen, hat er eine ganze Meute Krieger niedergestreckt. Eine zweite Jagdmeute hat ihn in den Höhlen unter der Stadt gestellt und erschlagen. Das ist sehr gutes Fleisch, Orgrim. Sehr gutes Fleisch.«

Загрузка...