Eine neue Welt

Alfadas ging von Mann zu Mann. Die meisten hatten gar nicht mitbekommen, dass etwas auf dem Weg durch das Nichts geschehen war. Unsicher blickten sie sich in der neuen Welt um. Sie waren in ein tief verschneites Tal gelangt. Ringsherum erhoben sich sanft ansteigende, bewaldete Hügel. Die Elfen hatten einige seidene Zelte aufgeschlagen, und farbenprächtige Banner knatterten im Wind. Über ihnen spannte sich ein klarer blauer Himmel. Die Sonne stand im Zenit, doch sie spendete keine Wärme. Eisiger Wind fuhr über die Lichtung, und er trug Eiskristalle, fein wie Staub, mit sich. Alfadas rieb sich die Hände. Die Kälte ging ihm durch Mark und Bein. Doch noch tiefer berührte ihn das Entsetzen. Er blickte zu dem großen, grauen Menhir, der den Ort markierte, an dem sich die Albenpfade kreuzten. Verschlungene Kreismuster waren in den Stein geschlagen. Sah man sie länger an, so begannen die Linien vor den Augen zu tanzen. Alfadas wandte den Blick ab. Was war geschehen? Mit seinem Vater und Ollowain war er mehrmals durch solche Tore gegangen, als sie nach Noroelles Sohn gesucht hatten. Stets hatten sie Angst gehabt, das Gefüge der Zeit könnte sich verschieben. Aber dass man auf den Pfaden angegriffen werden konnte, davon hatte er nie gehört. Ganz in der Nähe kauerte Mag im Schnee. Er redete auf seinen jüngeren Bruder ein. Der Fährmann hatte Torad eine Hand auf die Schulter gelegt. Sein Bruder hielt das Gesicht in den Händen vergraben.

»Etwas Eiskaltes hat in meine Brust gegriffen. Ich konnte es nur ganz kurz sehen.« Torad schluchzte. »Ich ... Es war etwas Großes, Weißes. Es war plötzlich da. Ich konnte gar nichts tun. Der Mann vor mir ist zur Seite gesprungen und in der Finsternis verschwunden. Es war ...« Er hob den Kopf. Sein blondes Haar war schütter geworden. Falten durchzogen sein Gesicht. Er sah aus wie ein Mann, der schon vierzig Sommer gesehen hatte. Alfadas wusste, dass Torad erst sechzehn war. Er wandte sich ab. Niemand hatte ihm sagen können, was auf dem Albenpfad geschehen war. Selbst die Elfen wirkten verunsichert. Immer wieder hatten sie behauptet, dass die Pfade der Alten sicher vor den Angriffen der Geschöpfe der Finsternis waren. Die Wahrheit sah anders aus, dachte Alfadas bitter.

Ragni kam auf ihn zugeeilt. »Ich habe mit allen Kriegsjarls gesprochen. Wir haben siebzehn Männer verloren. Und mehr als zwanzig sind ...« Er sah den Herzog hilfesuchend an, als fände er keine Worte für das, was geschehen war. »Mehr als zwanzig sind verändert«, sagte er schließlich. »Es gibt noch ein Problem. Glaubst du, die Elfen können das Tor noch einmal öffnen?«

»Warum?«

»Komm mit mir. Ich habe sie in eines der Zelte gebracht, damit niemand merkt, was geschehen ist. Jemand hat sich uns angeschlossen ...« Der Jarl sah sich besorgt um. »Wir werden große Schwierigkeiten bekommen.«

»Könntest du mir vielleicht ...«

Statt einer Antwort griff Ragni den Herzog beim Arm und zog ihn mit sich. »Es darf auf keinen Fall bekannt werden. Lambi und seine Halsabschneider würden ihn umbringen.« Der Kriegsjarl zog ihn in ein Zelt. Dort warteten Dalla, die Heilerin des Königs, Veleif, Horsas Skalde und ein Krieger. Das Gesicht des dritten Mannes verbarg sich im Schatten seiner tief in die Stirn gezogenen Kapuze.

»Was soll das?«, fragte Alfadas gereizt. Er begriff, was Ragni meinte. Horsa würde es gewiss so auffassen, dass er ihm seinen Skalden und seine Bettgefährtin gestohlen hatte.

»Mein König braucht meine Dienste nicht weiter, hat er mir heute Morgen erklärt.« Dalla hatte himmelblaue Augen. Sie sah den Herzog fest an. »Du weißt, warum! Das Gespräch gestern Nacht hat ihn verändert. Und es ist gut so. Ich möchte meine Dienste deinen Männern anbieten.«

Ragni grinste anzüglich. »Das hättest du mir auch gleich sagen können.«

»Nicht diese Dienste! Mir ist gleich, was du von mir denkst, aber ich bin keine Hure! Ich habe Horsa geliebt. Und ich tauge zu mehr als nur dazu, einem Mann im Bett Vergnügen zu bereiten! Ich kann schwere Blutungen stillen, tiefe Wunden vernähen und das Gleichgewicht der Säfte wiederherstellen, wenn deine Krieger erkranken.«

»Das Gleichgewicht meiner Säfte bringt dein Anblick ganz schön durcheinander.«

»Genug, Ragni!«, fuhr Alfadas den Kriegsjarl scharf an. »Keiner hier wird Hand an dieses Weib legen. Sie ist willkommen, nun, wo sie bei uns ist.« Er wandte sich an Veleif. »Und du, Skalde? Was führt dich hierher?« Der Dichter lächelte entschuldigend. »Ich fürchte, meine Absichten sind eigennütziger. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen, für Horsa Lügengeschichten zu verbreiten. Dieser Feldzug ist die größte Heldengeschichte seit vielen Generationen. Ich muss einfach dabei sein. Du wirst Geschichte machen, Alfadas, und ich werde sie in schöne Worte fassen, damit künftige Generationen sich ein Beispiel an deinem Mut und deiner Kühnheit nehmen. Keine zwei Stunden bin ich bei deinem Heer, und schon habe ich mehr Wunderbares erlebt als in den vierzig Jahren zuvor. Ich bin auf einem goldenen Pfad durch die Dunkelheit geschritten, in einem Heerlager der Elfen, und deine Krieger erzählen von einem Geisterpferd, das ihnen begegnet ist. Ich werde eine Saga über dich verfassen, Alfadas Elfensohn.«

Der Herzog zuckte innerlich zusammen, als er den verhassten Beinamen hörte. Er konnte Veleif nicht zurückschicken. Lyndwyn, die das Tor geöffnet hatte, war unmittelbar nach der Ankunft des Heeres gemeinsam mit dem größten Teil der Elfen, die das Lager aufgebaut hatten, wieder verschwunden. Es gab kein Zurück mehr. Aber das wusste der Skalde ja nicht.

»Ich bin kein Freund von Lügen und schamlosen Übertreibungen, Veleif, und ich bin geneigt, dich zurück auf den Pfad aus Licht zu schicken. Vielleicht begegnest du dort dem Geisterpferd. Nun geh hinaus und sieh dir die Männer an, die diese Bestie angegriffen hat. Sieh dir an, wie es ist, binnen eines Augenblicks um Jahrzehnte zu altern. Beweise dich als ein wahrhaft großer Skalde. Singe das Lied der Wahrheit.«

»Ich singe immer ...«

Alfadas schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab.

»Ich weiß, was du für Horsa getan hast. Ich war dabei, als er die Elfenkönigin traf, und es geschah nicht in einem Zelt auf einem Floß!«

»Der König hat mir aufgetragen, was ich dichten soll. Ich habe es nicht gern getan. Du weißt doch ...«

»Ich weiß, dass ich dich an dem Tag zurückschicken werde, an dem du noch einmal solche Lügen verbreitest. Geh hinaus, Veleif! Sieh der Wirklichkeit ins Antlitz. Kleide sie in all ihrer Schrecklichkeit und Pracht in Worte. Du bist entlassen.« Der Skalde sah ihn empört an. Mit wehendem Umhang verließ er das Zelt. Alfadas wandte sich nun an den vermummten Krieger. »Und wer bist du?«

»Egil Horsason.« Er schlug die Kapuze zurück.

Der Herzog sah den jungen Mann entsetzt an. Horsas Sohn! Als hätte er nicht schon genug Sorgen. Egils Gesicht war schmal und feiner geschnitten als das seines Vaters. Seine blauen Augen hatten etwas Fiebriges und waren von dunklen Ringen umgeben. Er trug ein kostbares, engmaschiges Kettenhemd und fein gewobene Kleider. Nur sein Umhang war aus grober Wolle wie bei den einfachen Kriegern des Heeres. »Weiß dein Vater, dass du hier bist?«

Egil schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, er hätte mich niemals ziehen lassen. Er behandelt mich wie einen Sklaven und tut alles, um mich zu demütigen.«

Alfadas wusste nicht, was er sagen sollte. Er hielt nicht viel von Egil. Er hatte nur Schlechtes über ihn gehört. »Warum bist du mitgekommen?«

»Um mich als Krieger zu bewähren. Ich werde eines Tages über das Fjordland herrschen, aber ich weiß sehr wohl, dass viele der Jarls mich verachten. Ich war niemals auf einem deiner Kriegszüge, Herzog. Nie konnte ich mich als Krieger beweisen. Ich will mir die Achtung der Männer verdienen, deshalb bin ich hier.« Der Herzog sah zu Ragni. »Ich nehme ihn zu meinen Männern«, sagte der Kriegsjarl.

»Das ist kein guter Gedanke.« Alfadas seufzte. »Ich werde Lambi und seinen Kriegern gleich die Ketten abnehmen lassen. Ich kann keine gefesselten Kämpfer gebrauchen. Dir ist klar, dass sie dich aufmerksam beobachten werden, Ragni? Ihnen wird nichts entgehen, was um dich herum geschieht. Sie würden Egil umbringen, nur damit du bei Horsa in Ungnade fällst.« Alfadas wandte sich an den Königssohn. »Du wirst bei den Viehtreibern mitgehen, die unsere Schafe hüten. Dort kennt dich keiner, und du bist in Sicherheit. Ragni, besorge dem Jungen Kleider, die dieser Aufgabe angemessen sind. Es gibt keine Viehtreiber in Kettenhemd und feinem Tuch.«

»Du kannst doch nicht ...«, begann Egil, brach aber ab, als Alfadas ihn zornig anblickte.

»Was kann ich nicht? Dir Befehle erteilen? Ich bin der Herzog. Mein Wort ist hier Gesetz. Du willst ein Krieger sein? Dann lerne zu gehorchen! Das ist die erste Tugend eines Kriegers. Respekt muss man sich verdienen, Egil, der wird einem nicht in die Wiege gelegt. Erzähle niemandem, wer du bist. Lass deine Taten für dich sprechen, und wenn du Glück hast und die nächsten Wochen überlebst, dann wirst du als geachteter Mann ins Fjordland zurückkehren. Und solltest du gegen mich aufbegehren, dann sei dir sicher, dass ich dich wie jeden anderen Mann behandeln werde. Ich wollte keinen Königssohn hier haben und werde mich so verhalten, als gäbe es dich nicht. Von nun an heißt du Ralf! Dalla! Du hast weder gesehen noch gehört, was hier vor sich gegangen ist!« Die Heilerin nickte stumm. Wütend verließ Alfadas das Zelt. Was bildete sich dieser unreife Trottel ein? Und wie würde Horsa reagieren, wenn er begriff, wo sein Sohn war?

»Herzog?« Ollowain kam ihm entgegen. »Graf Fenryl wünscht dich zu sprechen. Er möchte das Lager abbrechen lassen.«

»Warum hat er es so eilig?«

»Eine Karawane ist vom Rosenberg nach Phylangan unterwegs. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil wir die kleinen Siedlungen der Snaiwamark nicht verteidigen können. Fenryl wünscht, dass wir uns mit den Flüchtlingen vereinen, denn sie haben nur eine sehr kleine Eskorte. Der Graf möchte sich nicht in deine Entscheidungen einmischen, aber seine Frau und sein Kind sind bei den Flüchtlingen.«

»Wie weit sind sie entfernt?«, fragte Alfadas. Jetzt, wo sein Zorn über Egil verrauchte, spürte er wieder die Kälte. Fröstelnd rieb er sich die Arme.

»Wir könnten sie etwa drei Tagesmärsche entfernt von hier treffen. Das würde nur einen kleinen Umweg bedeuten. Auch die Flüchtlinge müssen nach Phylangan. Es ist der einzige Weg zur Hochebene von Carandamon.«

»Gut, dann suchen wir die Flüchtlinge. Es ist besser für die Männer, wenn wir schnell aufbrechen. Sie sollten keine Zeit haben, um darüber nachzudenken, was auf dem Weg durch das Tor geschehen ist.« Alfadas begannen die Zähne zu klappern.

»Du solltest die Kälte nicht unterschätzen, mein Freund. Sie wird dich umbringen. Komm mit!« Ollowain brachte ihn hinter die Zelte in einen Bereich des Lagers, wo dicht an dicht die Lastschlitten der Elfen standen. Mehr als zweihundert Wolfshunde kauerten hier im Schnee. Sie waren nicht angepflockt und beunruhigend ruhig. Mit aufmerksamen Blicken verfolgten sie jeden, der in ihre Nähe kam.

Ein Stück weiter hatte Lambi seine Männer um sich geschart. Der Kriegsjarl stand auf einem der Schlitten und hielt eine Rede.

»Ich hoffe, ihr habt mich verstanden, ihr hirnlosen Hurenböcke. Die Elfen haben uns diese Amulette nur geliehen! Wenn ihr sie verliert, oder, was ich eher glaube, versucht, sie zu stehlen, dann habt ihr mehr Ärger, als ihr schlucken könnt! Die Amulette schützen euch vor der Kälte des Landes. Das ist irgendeine Art von Magie. Legt sie an, und ihr könnt in einer Schneewehe vögeln gehen, ohne dass euch die Arschbacken zusammenfrieren. Ihr braucht keine Decken oder Kleider mehr, um euch vor der Kälte zu schützen. Aber werdet mir nicht übermütig. Diese Amulette schützen euch allein vor der Kälte, vor sonst nichts! So, und jetzt kommt her und holt sie euch. Und vergesst nicht, wir werden sie zurückgeben, sobald wir Albenmark verlassen. Und wenn ein Troll einem eurer Freunde den Schädel zermatscht, sich jemand die Gedärme auskotzt oder beim Scheißen vom Schlag getroffen wird, dann nehmt ihm sein Amulett ab. Wir müssen sie alle zurückgeben! Und ich meine wirklich alle!«

Die Krieger drängten sich um Lambi, der aus einem kleinen Silberkästchen die kostbaren Kleinode herausnahm. Die Amulette sahen wie sehr dünne Goldmünzen aus. Alfadas war überrascht, wie schlicht sie gehalten waren. Ihre einzige Verzierung waren ein paar Wellenlinien, ein Sonnenrad oder ein kleiner Rubinsplitter. Sie alle hingen an schlichten roten Lederschnüren.

Einer der Krieger, ein dicker Kerl mit rotem Backenbart, kam auf Lambi zugestampft. Er hatte sein Amulett an seine Pelzmütze gebunden.

»Mein Zauber ist kaputt«, schnaufte er.

»Du musst ihn auf der nackten Haut tragen«, mischte sich Ollowain ein. »Wenn das Amulett deinen Leib nicht berührt, kann es seine Kraft nicht entfalten.«

Lambi blickte zu dem Elfen. »Verdammt, das hatte ich ganz vergessen.« Er wandte sich noch einmal an seine Männer.

»Habt ihr gehört? Tragt das Elfengold auf der nackten Haut, sonst wirkt der Zauber nicht.«

»Egal wo?«, fragte der Bärtige grinsend.

»Meinetwegen steck dir dein Amulett sonst wo hin, wenn du Spaß dabei hast. Aber wenn du es mir zurückgibst, und es stinkt, dann quetsch ich dir die Eier, bis du es mir blitzblank geleckt hast.«

Der Bärtige lachte. »Habt ihr das gehört, Leute? Unser Kriegsjarl will mir an die Eier. Hoffen wir, dass er bald eine willige Elfe findet, die sich an dem Ding in seinem Gesicht, über das man nicht spricht, nicht stört, sonst wird der geile Bock uns noch der Reihe nach bespringen.«

»Reden die manchmal auch von was anderem?«, fragte Ollowain in seiner Muttersprache.

Alfadas lächelte. »Erfundene Heldentaten lieben sie fast ebenso. Würden sie für jede Lüge ein Kupferstück bekommen, wären sie allesamt reich wie Könige.«

»Und denen willst du die Ketten abnehmen lassen?«

»Machst du dir Sorgen, dass sie einer Elfe zu nahe treten könnten?«

Jetzt war es Ollowain, der lächelte.

»Wenn sie ihre schmutzigen Finger nach einer Elfe ausstrecken, dann können sie diese Finger hinterher einzeln im Schnee aufsammeln gehen. Was glaubst du, was Lysilla oder Silwyna mit diesen Kerlen machen, wenn sie ihnen zu nahe treten?«

»Wir werden mit einigen Männern Probleme bekommen, wenn sie zu lange keine Frau haben«, entgegnete Alfadas ernst.

»Aber das soll nicht die Sorge dieses Tages sein. Verteilen auch die anderen Kriegsjarls die Schutzamulette an ihre Männer?«

»Es geschieht alles so, wie du es geplant hast, Alfadas«, versicherte Ollowain.

Beruhigt trat der Herzog zu Lambi und nahm sich eines der Elfenamulette aus dem Silberkästchen. Kaum hielt er das verzauberte Goldstück in der Hand, durchfloss ihn wohlige Wärme.

Wie viel Macht musste man haben, um so etwas zu erschaffen, dachte er. Und wie viel Weisheit musste ein Volk besitzen, um diese Macht nicht zur Erschaffung von Waffen zu nutzen ...

All die Zauberschwerter, die die Skalden seines Volkes den Elfen so gerne andichteten, könnten sie gewiss Wirklichkeit werden lassen, wenn sie es nur wollten. Und im Augenblick wünschte er sich, sie hätten es getan. Alfadas wusste, dass sie jede Waffe im Kampf gegen die Trolle brauchen würden.

Selbst die Elfen mussten das begriffen haben, warum sonst nahmen sie die Hilfe von Menschen an?

Загрузка...