Heimkehr

Seine Welt begrüßte Alfadas mit einem Schlag ins Gesicht. Eisiger Wind zog über das Hartungskliff und trieb feine Eiskristalle vor sich her. Der Sturm zerrte an seinem Umhang, und fast wäre er auf dem eisverkrusteten Felsboden ausgerutscht. Es war Nacht, nur wenige Wolken zogen über den Himmel. Der zu drei Vierteln volle Mond tauchte das verschneite Land in geisterhaftes Licht.

Hinter ihm drängten mehr und mehr Männer durch das Tor. Sie waren zu erschöpft, um zu jubeln, doch in ihren Gesichtern spiegelte sich Erleichterung. Die Wenigsten von ihnen hatten geglaubt, dass sie das Fjordland noch einmal lebend wieder sehen würden. Nach dem Untergang Phylangans hatte die Natur die feindlichen Heere getrennt. Die Trolle zögerten, durch das Netz der Albenpfade einen Angriff zu führen, und die Elfen waren zu geschwächt. Und zwischen ihnen lag ein ganzes Gebirge.

Nun war die Zeit gekommen, Emerelle zurückzuholen. Sie würde die Entscheidung in diesem Krieg bringen, wenn sie denn erwacht war.

Der Wind flaute ab. Alfadas trat vorsichtig an den Rand der Klippe. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Der Fjord und Fimstayn lagen im Dunkel. Er konnte das Dorf nicht ausmachen. Kein Licht brannte mehr. Aber es war ja auch mitten in der Nacht, und wer bei dieser Kälte nicht alle Läden verschlossen hielt, der war ein Narr. Alfadas dachte daran, wie er in die rauchige Wärme seines Langhauses treten würde. Wie Ulric ihm in die Arme spränge, wie sich Kadlin um seine Knie klammern und Asla eine schnippische Bemerkung machen würde, dass er spät komme, und doch die Liebe in ihren Augen strahlen würde.

Er atmete tief aus. Ganz gleich, wie König Horsa ihn empfangen würde, er war erleichtert, zurückgekehrt zu sein. Alles würde sich fügen. Alfadas schmunzelte. Und wenn er an der Spitze seiner Veteranen zum Königshof ritt, würde Horsa es sich gut überlegen, ihn unfreundlich zu empfangen.

Der Herzog blickte hinüber zu dem niedrigen Wall aus Bruchstein, der nahe am Klippenrand errichtet war. Er diente als Windschutz für das Signalfeuer. Es wurde entzündet, wenn jemand Hilfe brauchte, oder zur Warnung, wenn dem Dorf Gefahr drohte. Alfadas dachte an die Geschichte, die sein Vater Mandred ihm erzählt hatte. Wie er sich schwer verletzt auf den Hügel geschleppt hatte, gejagt vom Manneber, dem Tode nahe. Alles, was Mandred noch wollte, war das Feuer zu entzünden, um sein Dorf zu warnen. Er hatte gewusst, dass er den Weg hinab vom Hartungskliff nicht mehr schaffen konnte und dass die Bestie ihm folgte, um ihn zu zerfleischen. Alle Kräfte hatte er darauf ausgerichtet, den Gipfel zu erreichen, nur um zu Tode erschöpft festzustellen, dass ein Steinschlag den Holzstoß auf dem Feuerplatz in den Abgrund gerissen hatte. In dieser Stunde der höchsten Verzweiflung hatte sich das verzauberte Tor im Steinkreis geöffnet. Mandred war schlafend nach Albenmark gelangt. Er hatte nie gewusst, was ihn hinübergeholt hatte in die Welt der Elfen und Kentauren. Manchmal behauptete er, es sei ein Baum gewesen, Atta Aikhjarto, eine uralte, beseelte Eiche. Und manchmal, wenn Mandred betrunken gewesen war, hatte er davon gemurmelt, dass er sich bei Atta bedanken werde. Er wollte ein Fest mit der Eiche feiern. Alfadas schmunzelte. Wenn sein Vater Fest sagte, meinte er eigentlich ein Zechgelage. Ob er seinen verrückten Plan wohl wahr gemacht hatte? Wo Mandred jetzt wohl steckte? Es wäre gut, ihn an seiner Seite zu haben ... Alfadas‘ Lächeln verflog. So war es immer schon mit seinem Vater gewesen. Wenn er ihn brauchte, war er nie da.

Er sah hinüber zu Ollowain, der dicht beim Tor stand. Seit Lyndwyns Tod wirkte der Elfenkrieger gebeugt, auch wenn er sich für die Augen anderer noch immer so aufrecht hielt wie eh und je. Mit versteinerter Miene stand er neben dem Tor, das sich über dem Albenstern geöffnet hatte, und musterte die Männer, die aus dem Nichts traten.

Auf Ollowain hatte er sich immer verlassen können, dachte Alfadas traurig. Wie wenig hatte er seinem Ziehvater dafür zurückgegeben! Er hatte versucht, mit Ollowain über Lyndwyn zu reden, doch der Schwertmeister blieb ganz in sich zurückgezogen. Es war noch nicht die richtige Zeit ... Ob er ihn noch einmal wieder sehen würde? Ollowain war mitgekommen, um Emerelle nach Albenmark zurückzubringen. Er würde nicht mehr von ihrer Seite weichen, sobald sie erst einmal unten im Dorf waren. Betäubte es seinen Schmerz, sich an seine Pflicht zu klammern?

Silwyna trat durch das Tor. Der Herzog wandte sich ab und ging auf den Windschutz am Rand der Klippe zu. Seit jener Nacht auf dem Eis, als sie ihm alles erzählt hatte, mied er sie. Sie durften einander nicht mehr nahe kommen! Er sah in den dunklen Fjord hinab. Dort unten lag sein Zuhause. Seine Kinder warteten auf ihn und Asla ... Mit ihr würde es niemals sein wie mit Silwyna. Er hatte sie erwählt, um die Wunde zu schließen, die Silwyna ihm geschlagen hatte. Jetzt wusste er, dass sich diese Wunde niemals schließen würde. Es sei denn ... Er sah zurück zu der Elfe. Sie drehte sich in seine Richtung, als habe sie seinen Blick wie eine Berührung gespürt. Da war es wieder, das Band, das seit der Nacht auf dem Eis bestand, als hätte es all die bitteren Jahre niemals gegeben. Er durfte diesem Sehnen nicht nachgeben! Asla war ihm immer treu gewesen. Er konnte sie nicht verraten. Er mochte sie ... Er hatte ihre scharfe Zunge vermisst. Wahrscheinlich würde sie ihn mit einem Vorwurf begrüßen und ihm dann um den Hals fallen.

Alfadas lächelte wehmütig. Nein, er würde sie niemals verlassen. Sie nicht und auch nicht die Kinder. Silwyna und Melvyn waren stark genug, ein Leben ohne ihn zu führen. Seine Liebe zu der Elfe war wie ein Ozean. Endlos, von wunderbarer Schönheit, zeigte er jeden Tag tausend neue Gesichter und war zugleich voller verborgener Tiefen, beherrscht von jähen Stürmen.

Seine Liebe zu Asla war anders, wie ein kristallklarer Bach, der nahe der Küste in den Klippen entsprang. Sein Wasser rann eilig schäumend dahin. Es war erfrischend. Ohne Geheimnisse. Er kannte die Quelle des Bachs und wusste, an welcher Stelle er sich ins Meer verlor. Sein Lauf war klar. Er war festgelegt. Alfadas schluckte. Er würde zu Asla zurückkehren. Sein Herz war voller Liebe zu ihr, auch wenn diese Liebe die Sehnsucht nach dem Ozean niemals auslöschen würde.

Silwyna nickte ihm zu. Sie hatte ihn unverwandt angesehen. Wieder schien es, als könne sie in seinem Gesicht jeden seiner Gedanken lesen. Er durfte sie nicht ansehen! Mit jedem Blick, den sie tauschten, wurde das Band stärker. Es war nicht recht! Er wandte sich abrupt um und ging die letzten Schritte zu der Bruchsteinmauer. Dort unten am Fjord lag seine Zukunft!

Der Mond stand schon tief am Himmel. Bald würde das kleine Dorf erwachen. Wenn er sich beeilte, konnte er vielleicht neben Kadlins Lager knien, wenn sie die Augen aufschlug. Liebevoll erinnerte er sich an ihr strahlendes Gesicht, mit dem sie ihm so oft den Anfang eines Tages versüßt hatte. Anders als Ulric vermochte sie noch keines ihrer Gefühle zu verbergen. Manchmal war sie in ihren Launen so wechselhaft wie eine Frühlingsbrise. Und ihr kleines Gesicht war der Spiegel ihrer Seele. Sie war immer rein und unverfälscht. Noch ...

Voller Sehnsucht blickte er in die Dunkelheit. Ulric hatte Yilvina sicher bedrängt, ihm Schwertkampfstunden zu geben. Wenn der scharfe Frostwind von Norden wehte und der Schnee bis halb zum Giebel hinaufreichte, dann saß man gefangen im Langhaus. Manchmal tagelang. Es waren Tage voller behaglicher Langeweile. Alfadas musste lächeln. Hoffentlich hatte Ulric die Schärfe seines Elfendolchs nicht heimlich an Bänken, Stuhlbeinen und Tischplatten erprobt.

Halb verkohlte Holzscheite ragten aus dem Schnee hinter der Bruchsteinmauer. Wie flüchtig skizzierte Runen auf frischem Pergament kündeten sie von einer Geschichte. Alfadas starrte einige Herzschläge lang auf den kümmerlichen Rest des Holzstapels, der einmal hinter der Mauer aufgeschichtet gewesen war, bevor er begriff, was er dort sah. Jemand war hierher gekommen, um Firnstayn vor einer Gefahr zu warnen! Das Signalfeuer war abgebrannt, und was schlimmer war, niemand war seitdem mehr auf das Hartungskliff gestiegen, um einen neuen Holzstapel zu errichten!

Alfadas kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt in die Finsternis. Noch immer zogen dunkle Wolken vor dem Mond.

Was war hier geschehen? Von Unruhe getrieben, ging er zu Ollowain. Er schilderte dem Elfen die Lage und bat ihn, die Männer hinab zum Fjord zu führen.

»Hältst du es wirklich für klug, alleine vorauszugehen, wenn dort unten eine unbekannte Gefahr droht?«

»Ganz gleich, was klug ist oder nicht, ich kann nicht warten. Dort unten lebt meine Familie!« Ohne sich auf weiteres Gerede einzulassen, eilte er davon. Er wusste, dass Ollowain mit seinem Einwand Recht hatte. Der Elf hatte immer Recht.

Alfadas begann zu laufen. Das erste Stück des Hangs war steil. In der Dunkelheit konnte er den Weg nur schlecht einschätzen. Manchmal brach er knietief durch die verharschte Schneedecke, dann trug sie ihn wieder ein paar Schritt weit. Der Herzog rutschte und versuchte mit den Armen rudernd sein Gleichgewicht zu halten. Vergebens. Der Länge nach stürzte er in den Schnee. Sofort rappelte er sich wieder auf, eilte weiter, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, den Schnee aus seinen Kleidern zu schlagen.

Der Weg hinab erschien ihm endlos. Als er schließlich den Fjord erreichte, war er durchgeschwitzt und erschöpft. Die Kälte fraß sich durch seine Kleider. Er blickte über den zugefrorenen Meerarm. Wenn das Eis ihn trug, konnte er den Weg zum Dorf um Stunden abkürzen. Er musste es versuchen!

Vorsichtig tastete er sich voran. Es bestand keine Gefahr. Der Eispanzer knarrte nicht einmal unter seinen Schritten. Wieder begann er zu laufen. Seine Lungen brannten, sein Herz schmerzte bei jedem Schlag. Doch seine Angst peitschte ihn vorwärts.

Als der Mond zwischen den Wolken hervortrat, sah Alfadas in der Ferne den eingestürzten Bootssteg. Dunkel ragten die Trümmer aus Schnee und Eis. Dahinter gab es keine steilen Giebel mehr. Er hätte das windschiefe Bootshaus sehen müssen und Kalfs Hütte. Auch das kleine Haus von Erek, mit der hölzernen Wetterfahne auf dem Dach, lag dicht am Ufer. Doch es war verschwunden. Ebenso das Langhaus auf dem Hügel etwas abseits vom Dorf.

Alfadas wollte schreien, doch er hatte keine Kraft mehr. Sein Atem ging keuchend. Er sank nach vorn, als habe man ihm mit einem schweren Knüppel in die Kniekehlen geschlagen. Alle Stärke war aus seinen Gliedern gewichen. Sein Blick wanderte über die unregelmäßigen Hügel aus Schnee, dort, wo einmal Häuser gestanden hatten. Das kalte Mondlicht zeigte nun alles in unbarmherziger Deutlichkeit. Schwarze Dachbalken, die wie Rippen verrotteter Riesenleiber aus dem Schnee stachen. Halb eingestürzte Wände.

Kälte fraß sich in die Knochen des Herzogs. Leichter Wind strich über den Fjord. Feine Eiskristalle streichelten Alfadas‘ Wangen. Stöhnend wie ein Greis, kämpfte er sich auf die Beine. Es waren nur verbrannte Häuser, ermahnte er sich. Firnstayn gab es nicht mehr. Aber seine Familie ... Vielleicht waren sie ja geflohen. Schließlich hatte oben auf dem Hartungskliff das Signalfeuer gebrannt. Jemand hatte das Dorf also gewarnt! Er blickte zu dem Hügel, auf dem einst sein Langhaus gestanden hatte. Dort würde er die Antwort finden. Jetzt hielten sich Angst und Hoffnung wieder die Waage. Ja, dort oben würde er die Antwort finden.

Müde stieg er das flache Ufer hinauf. Er machte einen Schlenker an Kalfs Hütte vorbei. Zwischen den Trümmern sah er das runde Gestänge einer Fischreuse. Zerbrochene Angelruten lagen zerstreut im Schnee. Der Winter trieb ein eigenwilliges Spiel. An manchen Stellen, entlang eingebrochener Holzwände, gab es mannshohe Verwehungen. Anderswo war die Schneedecke dünn wie ein Leinentuch und vermochte kaum zu verbergen, was auf dem Boden verstreut lag.

Alfadas ging an Svenjas Hütte vorbei. Sein Fuß stieß gegen einen rußgeschwärzten, kleinen Kupferkessel, der leise klirrend davonrollte. Der Herzog hatte Angst davor, den Hügel hinaufzusteigen. Angst vor der Gewissheit, die er dort vielleicht finden würde. Solange er durch das Dorf strich, blieb ihm die Hoffnung.

In keinem der zerstörten Häuser fand er Tote. Langsam wuchs sein Mut. Sie waren rechtzeitig gewarnt gewesen! Aber wer, in Luths Namen, hatte Firnstayn angegriffen? Wer führte Krieg mitten im Winter? Und so wie es aussah, hatten die Angreifer nicht geplündert, sondern die Häuser mit allem, was darinnen war, in Brand gesetzt. Es ging ihnen nur um Zerstörung. Welchen Nutzen hatte solch ein Krieg?

Wieder blickte er zu dem Hügel. Er konnte es nicht endlos hinauszögern. Allein dort würde er eine Antwort auf seine drängendste Frage finden. Waren Asla und die Kinder entkommen?

Schweren Herzens machte er sich auf den Weg. Unzählige Male war er diesen Hügel schon hinaufgestiegen. Und so oft hatte ihn Asla zwischen den Türpfosten stehend erwartet. Oder Ulric war ihm mit Freudenschreien durch die offene Tür entgegengelaufen, um ihm in die Arme zu springen und ihn dabei fast umzuwerfen. Jetzt stand das narbige Antlitz des Mondes zwischen den verkohlten Türpfosten, und Stille empfing Alfadas. Zögerlich trat er in die Ruine, die einmal sein Zuhause gewesen war. Der lange Dachbalken beherrschte das Trümmerfeld auf dem Boden. Umgeben von verkohlten Dachsparren und zersplitterten Möbeln hatte das Feuer ihn nicht vernichten können. Alfadas erinnerte sich noch, wie sie die riesige Eiche in einem alten Waldstück auf der anderen Seite des Fjordes gefällt hatten. Es war eine elende Plackerei gewesen, sie zum Ufer zu ziehen. Von dort hatte man sie mit Booten über den Fjord geschleppt. Erst oben auf dem Hügel hatten sie den mächtigen Balken, der einmal das Dach des Langhauses tragen sollte, aus dem alten Baumstamm geschnitten.

Die Finger des Herzogs strichen gedankenverloren über das Holz. An manchen Stellen bröckelte es verkohlt. Doch nirgends hatte sich das Feuer bis zum Herzen des Stamms fressen können. Selbst der größte Teil des verschlungenen Musters, das er im Winter vor drei Jahren in den Balken geschnitzt hatte, war noch zu erkennen. Sein Blick schweifte über Schnee und Asche. Nichts sonst hatte den Brand so gut überstanden. Von den Schlafnischen waren nur Umrisse geblieben.

Alfadas zog sein Schwert und stocherte zwischen den ausgeglühten Töpfen und Pfannen herum. Sie standen noch dort, wo Asla einst ihre Feuergrube gehabt hatte. Unter einer umgestürzten Bank fand er das Holzpferd, das er einmal für Ulric geschnitzt hatte. Die Beine und der Schweif waren verschwunden. Nur der Rumpf und ein Teil des Kopfes hatten den Brand überstanden.

Alfadas säuberte die Klinge seiner Waffe und schob sie zurück in die Scheide. Hier gab es keine verkohlten Leichen. Asla und die Kinder waren nicht hier gewesen, als das Haus gebrannt hatte. Seltsamerweise verschaffte ihm diese Gewissheit nicht die Erleichterung, die er sich erhofft hatte.

Dicht neben einem Stützbalken sah er eine von Aslas Truhen. Sie war ganz verkohlt, aber nicht auseinander gebrochen. Er ging hinüber. Mit einiger Mühe ließ sich der Deckel öffnen. Zuoberst lag ein kleines blaues Kleidchen. Tränen schossen Alfadas in die Augen. Ungelenk holte er mit seinen frostroten Fingern das Kleidchen hervor. Kadlin hatte es oft gegen Ende des Sommers getragen, in dem sie gerade laufen gelernt hatte. Zärtlich strich der Herzog über den feinen Stoff. Er fand einen dunklen Blutfleck und erinnerte sich an den Tag, an dem sich Kadlin auf den Steinen am Ufer die Knie aufgeschürft hatte. Die Kleine hatte damals kaum geweint. Sie war einfach weitergelaufen, um all den Wundern nachzujagen, die nur Kinder an einem öden Steinstrand zu finden vermochten. Alfadas dachte daran, wie Asla geflucht hatte, weil sich der Blutfleck einfach nicht aus dem blauen Leinen waschen ließ. Wegen Kadlins Knie hatte sie ihn nicht getadelt. Verschorfte Kinderknie waren unvermeidlich. Aber nur ein Nichtsnutz und Tagträumer konnte ihrer Meinung nach auf die Idee kommen, seine Tochter in ihrem besten Kleid mit hinunter zum Kiesstrand zu nehmen. Alfadas legte das Kleid zurück und verschloss dann sorgsam den Truhendeckel. Ein letztes Mal sah er sich um, dann verließ er die Ruine, in der nur mehr der Wind und Erinnerungen hausten. Er stieg an der Rückseite des Hügels hinab und ging zu dem Gräberfeld. Dort sah er all die neuen Steine, und die Angst, die sich für kurze Zeit in einen verborgenen Winkel seiner Seele zurückgezogen hatte, sprang ihn erneut an.

In fliegender Eile hastete er von Stein zu Stein und wischte den Schnee zur Seite. Die meisten der neuen Steine trugen kein Zeichen. Auf einem fand er einen Tierkopf. Er war nur grob und ohne großes Geschick in den Stein geritzt. Es sollte wohl ein Hund oder Wolf sein. Lag hier Ole?

Auf dem letzten Stein fand er eine Spinne. Sie war mit großer Sorgfalt gemeißelt worden. Das Wappentier des Schicksalswebers. Die Wächterinnen der Fäden. Stöcke mit bunten Stoffbändern waren rings um das Grab in die Erde gesteckt.

Traurig kauerte sich Alfadas neben den schneebedeckten Hügel. »Gundar, alter Freund. Haben die Festtafeln Firnstayns nicht mehr genügt, deinen Hunger zu bändigen?« Er riss sich einen Streifen Stoff vom Umhang und knotete ihn an einen der Stecken. »Ich werde es vermissen, mich mit dir über deine Götter zu streiten. Vielleicht hättest du mich ja doch noch als einen Gläubigen gewinnen können.«

Leise murmelte er ein Gebet und wünschte dem Priester eine gute Reise durch die Finsternis. Dann erhob er sich und blickte über die frischen Grabhügel. Lagen auch Asla und die Kinder hier? Nein, bestimmt nicht! Zumindest in Aslas Grabstein hätte man gewiss ein Zeichen geschnitten. Vielleicht eine Ähre in Erinnerung an ihr weizenblondes Haar. Oder eine Eiche als Zeichen für ihre ruhige Kraft. Sie wäre niemals einfach nur unter einem Feldstein begraben worden! Es sei denn ... Vielleicht hatte die Not den Überlebenden keine Zeit mehr gelassen!

»Dort wirst du sie nicht finden«, sagte eine leise Stimme.

Alfadas drehte sich überrascht um. Er blinzelte in die Dunkelheit. Nur undeutlich konnte er Silwyna erkennen. In ihrer weißen Jagdkleidung verschwamm sie fast mit der Schneelandschaft. »Ich habe Spuren gefunden. Der Schnee hatte sie zugedeckt. Kufen haben tiefe Kerben in das Eis geschnitten. Dort sind auch Dellen von großen, beschlagenen Hufen. Sie ist mit der Kutsche geflohen.« Silwyna deutete über den Fjord hinaus nach Süden. »Sie sind in Richtung Honnigsvald gezogen.«

»Wer hat das Dorf verwüstet?«

Statt zu antworten, warf die Elfe ihm etwas Dunkles vor die Füße. Alfadas kniete nieder. Vor ihm im Schnee lag ein Stück grob behauener Feuerstein. »Trolle?«

»Ja. Es ist ein Stück von einem Axtblatt. Ich habe es in einem Balken gefunden.«

»Wann waren sie hier?«

Silwyna zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Der Schnee hat alle Spuren verdeckt. Es ist länger als eine Woche her, aber weniger als einen Mond. Ich kann dir auch nicht sagen, wie viele es waren. Aber gewiss ist hier nicht nur ein Jagdtrupp durchgezogen.«

Alfadas blickte über das Ruinenfeld. »Warum?«

»Die Königin. Sie müssen erfahren haben, dass Emerelle hier ist. Wahrscheinlich von einem deiner Männer, die sie in Phylangan gefangen haben. Wir hätten früher daran denken sollen«, fügte sie leise hinzu.

Der Herzog nickte. Emerelle. Das war die einzige Erklärung. Der Krieg war also ins Fjordland gekommen. Er blickte hinauf zum Hartungskliff. Eine feurige Schlange wand sich den verschneiten Hang hinab. Seine Männer hatten Fackeln angezündet. Zwei, vielleicht drei Stunden, dann mussten sie hier sein. Eine kurze Rast, dann würde er sie weiter den Fjord hinabführen. Honnigsvald mit seinen Erdwällen und Holzpalisaden würde sich nicht lange gegen die Trolle halten können. Ein paar Tage, vielleicht eine Woche ... »Du bist sicher, dass der Überfall länger als eine Woche her ist?«

»Ja«, entgegnete die Elfe knapp.

Alfadas blickte wieder auf das Eis hinaus. Wenn er seinen Männern entgegenging und sie dicht unter dem Hartungskliff vorbei nach Süden führte, würden sie mindestens eine Wegstunde nach Honnigsvald einsparen. Das war lächerlich wenig, wenn es darauf ankam, einen Vorsprung von über einer Woche aufzuholen, aber vielleicht war es zuletzt gerade diese eine Stunde, auf die es ankam.

»Was hast du vor?«, fragte Silwyna. Sie hielt leichtfüßig mit ihm Schritt.

»Einen Krieg zu gewinnen«, entgegnete er bitter. Seine Verzweiflung war wie fortgeblasen. Auch schämte er sich dafür, keinen Herzschlag lang an Emerelle gedacht zu haben, bis die Elfe von der Königin gesprochen hatte. »Du wirst mit Lysilla zurück nach Albenmark gehen. Sucht Orimedes und jeden, der ein Schwert führen kann. Allein sind wir vielleicht zu schwach, um die Trolle zu besiegen.«

»Ich werde zu meinem Volk reiten. Sicher kann ich einige Maurawan für diesen Kriegszug gewinnen.«

»Ihr würdet kämpfen, um Emerelle zu retten? Ich dachte, ihr hasst die Königin.«

»Sie würden meinetwegen kommen und für deine Familie.«

Alfadas sah Silwyna eindringlich an. »Du machst dir Sorgen um meine Familie?« Er war ehrlich überrascht und sich nicht ganz sicher, ob die Worte der Elfe vielleicht ironisch gemeint waren.

»Ich bin Teil deiner Familie, Alfadas, und ich werde es immer sein. Ich habe dein Kind unter dem Herzen getragen. Für mich ist das ein stärkeres Band als irgendwelche leicht dahingesagten Treueschwüre.«

»Ich dachte, niemand in deinem Volk weiß von unserem Kind.« Alfadas war verwirrt. Hatte sie ihn belogen? Der plötzliche Gefühlsausbruch passte nicht zu ihr.

»Jeder weiß, dass ich dich geliebt habe. Das genügt. Sie werden kommen, wenn ich um Hilfe für dich und dein Menschenweib bitte. Sie werden uns helfen, weil wir uns lieben. Für die Königin würde niemand den Wald verlassen. Versuch nicht, sie zu verstehen. Wir denken anders über Liebe und Treue als ihr Menschen. Man muss nicht unter einem Dach leben, um zusammen zu gehören. Nicht einmal in derselben Welt. Ich werde zurück sein, wenn du mich am dringendsten brauchst.« Mit diesen Worten verfiel sie in einen leichten Trab. Alfadas war zu erschöpft, um Silwyna folgen zu können. Er sah ihr nach, bis ihre helle Gestalt in der Ferne mit der Winterlandschaft verschmolz.

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