Schlittenkufen

Alfadas hatte seinen Männern befohlen, außerhalb von Honnigsvald zu lagern. Sie hatten den Marsch von Firnstayn hierher in weniger als anderthalb Tagen geschafft. Fast die Hälfte seiner Krieger kam aus der kleinen Stadt oder der näheren Umgebung. Die Angst hatte sie vorangetrieben. Trotz des dichten Schneefalls und der mörderischen Kälte waren sie marschiert. Ohne die Amulette der Elfen empfanden sie den Winter nun umso bitterer, doch die Angst hatte ihnen Flügel verliehen.

Alfadas stand am Ufer, dort, wo einmal Sigvalds Werkstatt gelegen haben musste. Ganz sicher war er sich nicht. Die kleine Stadt hatte ihr Gesicht verloren. Nichts, was ihm vertraut gewesen war, stand noch. Kein einziges der hölzernen Häuser hatte die Feuersbrunst überstanden.

Ein flaches Eisenstück ragte vor ihm auf. Der Herzog bückte sich, schob Schnee und halb verkohltes Holz zur Seite. Wieder nur ein Fassreifen. Alfadas atmete tief aus. Dann richtete er sich auf, suchte nach Orientierung. Was hatte er am anderen Ufer gesehen, als er bei Sigvald gewesen war? Wie konnte er den Platz wieder finden, an dem der lange Schuppen gestanden hatte? War es hier? Oder doch noch ein Stück das Ufer hinauf? Zwei Stunden lang suchte er. Doch er fand keine Spuren. Hier unten am Hafen schienen keine Fuhrwerke und Schlitten mehr gestanden zu haben. Sie hatten die Stadt verlassen! Und nirgendwo anders fanden sich die Überreste einer verbrannten Kutsche. Asla war hier gewesen, dessen war sich Alfadas ganz sicher. Honnigsvald war die nächstgelegene Stadt. Hierher würde man fliehen, wenn Feinde aus den Bergen im Norden kamen. Aber Asla war nicht mehr hier gewesen, als Honnigsvald brannte. Ganz sicher nicht!

Der Herzog ging den Stadthügel hinauf. Er suchte nach anderen Spuren. Obwohl Honnigsvald keine große Siedlung war, fiel es Alfadas schwer, sich zu orientieren. Die breite Straße, die vom Hafen hinauf zur Festhalle geführt hatte, ließ sich nur noch erahnen. All die engen Gassen waren gänzlich verschwunden. Begraben unter verkohlten Dachbalken, eingestürzten Häuserwänden und zersplitterten Schieferschindeln. Und über all dies hatte der Winter sein weißes Leichentuch gezogen.

Jedes Mal, wenn er ein flaches, verbogenes Stück Eisen zwischen den verkohlten Trümmern aufragen sah, packte ihn die Angst. Einmal hatte ihn ein Sensenblatt genarrt. Als er die schweren Balken ringsherum weggeräumt hatte und sicher gewesen war, dass hier kein Schlitten gestanden hatte, hatte er nicht verstanden, wie er in der Sense eine Schlittenkufe hatte sehen können. Es war die Angst...

So wie er, irrten noch dutzende andere Männer durch die Stadt. Männer, die alle Schrecken des Trollkriegs in Albenmark ertragen hatten, brachen zusammen, wenn sie die verkohlten Reste ihrer Hütten fanden. Mag, der bei der Beerdigung seines Bruders Torad keine Träne vergossen hatte, lief blass und verstört durch das Ruinenfeld und rief nach Kodran.

Alfadas biss sich auf die Lippen, bis der metallische Geschmack von Blut seinen Mund füllte. Er durfte sich nicht gehen lassen! Er musste diese Männer führen. Sie brauchten ihn jetzt mehr als je zuvor. Morgen, noch vor Sonnenaufgang, würden sie weitermarschieren. Sie würden diese mordenden Bestien verfolgen, bis der letzte Troll tot war, der hierher gekommen war, um Frauen und Kinder zu morden und zu ... Seine Gedanken setzten aus. Er durfte sich das nicht vorstellen! Es würde ihn zerstören! Asla lebte! Sie war klug. Bestimmt hatte sie nicht gewartet, bis die Trolle nach Honnigsvald kamen. Sie war weiter den Fjord entlang geflohen.

Alfadas hatte nicht einmal die Hälfte der niedergebrannten Stadt durchstreift. Aber hier gab es kein großes Fuhrwerk! Er wollte nicht, dass sie hier gewesen waren. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein!

Tränen traten ihm in die Augen. Er ging hinunter zum Fjord. Was bewies es schon, wenn er die Kutsche nicht fand? Asla und die Kinder konnten trotzdem hier gewesen sein. Vielleicht hatte man ihnen das Fuhrwerk gestohlen. Was mochte sich innerhalb der Wälle abgespielt haben, als die Trolle angegriffen hatten? Vielleicht war der schwere Schlitten auch durch das Eis gebrochen und würde für immer auf dem Grund des Fjords verborgen bleiben?

Alfadas wanderte ein Stück über den zugefrorenen Meerarm. Es war ein wunderschöner Wintertag. Ein strahlend blauer Himmel spannte sich über das verschneite Land. Eisiger Wind wehte von Nordwest. Der Herzog spürte ihn kaum auf seinem Gesicht. Er fühlte sich wie tot.

Seine Schritte führten ihn unbewusst nach Süden. Hier, ein gutes Stück von den Erdwällen der Stadt entfernt, lag dicht am Ufer das verlassene Lager der Trolle. Heute Morgen hatte Alfadas seinen Männern davon berichtet, was es hier zu finden gab, aber nur Einzelne wagten sich hierher. Verloren, still gingen sie zwischen den zugeschneiten Feuerstellen herum, stocherten im Schnee und hofften nichts zu finden. Und dann gingen sie zum Ufer.

Die Überlebenden der Stadt waren hierher gebracht worden. Wie es schien, hatte man Honnigsvald schon im ersten Sturmangriff genommen.

Der Herzog blickte hinüber zu dem schaurigen Hügel, bei dem Lambi und Ollowain standen. Er wusste, was der Schnee dort barmherzig verbarg. Und er wagte es nicht hinüberzugehen. Auch nicht ans Ufer. Jene Männer, die keine Verwandten hier hatten, verrichteten dort ihren schaurigen Dienst. Sie brachten die Erfrorenen zum Ufer, wenn sich die Leichen bewegen ließen. Und aus dem Knochenberg, den Lambi und Ollowain bewachten, bargen sie all das, was Auskunft über die Toten geben mochte. Dinge, die unverwechselbar waren. Bestickte Stiefel, ein buntes Halstuch, einen Rock, auf den kleine Flussperlen aufgenäht waren, Kinderpuppen, Armreife mit auffälligen Verzierungen, eine Bernsteinkette ... Alfadas war heute Morgen kurz bei den Männern gewesen, als sie ihre Arbeit begonnen hatten. Er hatte es nicht vermocht, ihnen zuzusehen. Sie trugen einen Berg von Menschenknochen ab. Man konnte deutlich die tiefen Furchen sehen, die die Steinmesser im Gebein hinterlassen hatten, als die Trolle das Fleisch heruntergeschnitten hatten. Die Markknochen waren zerschmettert und ausgesogen. Selbst die Schädel hatten sie aufgebrochen. Sie fraßen alles, diese Bestien. Alfadas dachte an die zarten Kinderknochen, die überall verstreut gelegen hatten. Sein Magen zog sich zusammen.

»Asla hat die Kutsche genommen. Sie war nicht hier!«, sagte er mit Nachdruck. Es gab keine Spuren von ihr, den Kindern oder der Kutsche!

Wieder blickte er zum Ufer. Dort kauerten zusammengekrümmt jene, die Gewissheit gefunden hatten. Er sollte auch dorthin gehen. Aber er konnte nicht. Es war etwas anderes, in der Stadt nach einem Fuhrwerk zu suchen. Er konnte nicht die Reihe der Erfrorenen abschreiten. Es waren vor allem Alte und ganz kleine Kinder, so wie Kadlin. Eine nasse Hose war hier draußen in der Eiseskälte ein Todesurteil. Er schluckte hart. Daran, dass Asla mit den Kindern über das Eis geflohen war, gab es keinen Zweifel. Aber sie hatten keine Toten auf dem Weg nach Honnigsvald gefunden! Was immer Asla auch getan hatte, sie hatte alle gerettet, zumindest bis in die trügerische Sicherheit der Stadt.

Ollowain hatte seinen Platz am Knochenhügel verlassen. Der Schwertmeister ging ihm entgegen! Alfadas wandte sich ab. Er tat so, als hätte er den Elfen nicht gesehen. Er zitterte. Seine Kraft reichte nicht aus, um davonzulaufen. Er wollte jetzt nicht über seine Pflichten als Heerführer reden. Und er hatte panische Angst davor, dass Ollowain aus einem anderen Grund kam.

Das Eis knirschte leise, sonst hätte er den Elfen nicht kommen hören. Der Schwertmeister bewegte sich lautlos wie eine Katze. Sein Ziehvater wusste, dass er ihn gesehen hatte. Und er wollte, dass er ihn hörte. »Was gibt es?«, fragte der Herzog leise, ohne sich umzudrehen.

»Ich muss mit dir reden.« Der Elf trat vor ihn, sodass Alfadas gezwungen war, ihn anzusehen. Ollowain verbarg etwas unter seinem weiten weißen Umhang.

Alfadas atmete aus. Er konnte den Blick nicht von der verbogenen Hand abwenden. Was versteckte sie?

»Lass uns zum Wald hinübergehen.« Ollowain deutete ein Stück den Fjord hinauf, wo ein lichter Birkenhain lag. »Ich möchte allein mit dir sein.«

»Wir sind hier doch allein.« Alfadas‘ Stimme zitterte, so sehr er sich auch bemühte, sich zu beherrschen. »Niemand soll uns zusehen. Du bist der Herzog. Sie dürfen nicht den Glauben an dich verlieren. Nicht in dieser Stunde.«

»Ich bin nur ein Mensch! Das wissen sie. Einer wie sie!«

»Nein, du bist der Elfenjarl. Ein Mann wie aus den alten Sagas. Ein Held, der noch niemals besiegt wurde. Ein ruhmreicher Heerführer. Das bist du für sie.« Ollowain wandte sich ab und ging in Richtung des Birkenwaldes.

»Du weißt besser als jeder andere, dass ich nur ein Mensch bin, mein Lehrmeister. Das sind bloß Geschichten. Du kennst all meine Schwächen. Du weißt, was ich in Wirklichkeit bin. Diese Sagas sind nur Geschichten, die Skalden wie Veleif erfunden haben. Nichts davon ist wahr!«

Ollowain antwortete ihm nicht. Der Elf ging unbeirrt weiter dem Birkenhain entgegen.

Alfadas unterdrückte den Wunsch, ihm nachzulaufen. Er wusste, dass man sie vom Ufer aus beobachtete. Er durfte sich nicht eine solche Blöße geben! Mit weiten Schritten folgte er dem Elfen und musste sich immer wieder zwingen, nicht doch einfach loszulaufen. So sehr er sich bemühte, er vermochte Ollowain nicht einzuholen. Erst als der Schwertmeister eine Lichtung inmitten des Birkenhains erreichte, blieb er stehen. »Was verbirgst du unter deinem Mantel?«

Ollowain drehte sich um. Sein Gesicht war eine starre Maske. Er hielt einen Dolch in Händen. Es war eine lange, schlanke Waffe. Fast schon ein kurzes Schwert. Der Griff war aus hellem Walbein geschnitten und zeigte zwei Löwen, die auf ihren Hinterbeinen standen und sich in tödlicher Umklammerung hielten. In die silberne Scheide waren kleine Türkissplitter eingefasst. Alfadas wusste, dass es dreiundachtzig Türkise waren. Ulric hatte sie gezählt.

»Ich weiß, was du in Wirklichkeit bist, Menschensohn«, sagte der Elf leise. »Auch wenn du es nicht glauben willst, liegt in den Geschichten über dich viel Wahrheit. Die Männer sehen zu dir auf. Gerade in dieser Stunde der Trauer. Aus dir werden sie Kraft schöpfen.«

Der Herzog nahm den silbernen Dolch an sich. »Er lag zwischen den Knochen?« Ollowain nickte.

»Lass mich bitte allein«, sagte Alfadas leise.

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