6

Der Regen wurde immer heftiger, und das vom Boden nicht mehr aufgenommene Wasser ergoß sich über den Felsvorsprung am Oberrand der Höhle. Jennsen kraulte Betty hinter dem Ohr und versuchte, das meckernde Tier zu beruhigen. Die Ziege war plötzlich überhaupt nicht mehr zu besänftigen; vielleicht spürte sie, daß sie im Begriff waren, ihr Zuhause aufzugeben, oder aber sie war einfach unglücklich, weil Jennsens Mutter ins Haus zurückgegangen war. Betty schien geradezu vernarrt in sie und lief ihr oft auf dem Hofplatz nach wie ein junger Hund.

Sebastian hatte sich den Bauch mit Fisch voll geschlagen und hüllte sich nun in seinen Umhang. Beim Versuch, ihr beim Zudecken des Feuers zuzuschauen, wurden ihm die Lider schwer. Er hob den Kopf und sah mißmutig zu der unablässig hin und her rennenden Ziege hinüber.

»Betty beruhigt sich bestimmt gleich wieder, sobald ich ins Haus hinübergegangen bin«, meinte Jennsen leichthin. Sosehr sie darauf brannte, ihn nach den Ländern jenseits von D’Hara auszufragen, wünschte sie ihm eine gute Nacht, auch wenn er sie bei diesem Regen vermutlich gar nicht hörte. Später würde noch Zeit genug sein, ihm ihre Fragen zu stellen. Bestimmt wartete ihre Mutter schon darauf, daß sie ihr beim Zusammenpacken der Dinge half, die sie mitnehmen wollten. Obwohl sie nicht viel besaßen, würden sie einen Teil ihres Besitzes zurücklassen müssen.

Wenigstens hatte der Tod des ungeschickten d’Haranischen Soldaten sie zu einem Zeitpunkt mit Geld versorgt, da sie es am dringendsten benötigten. Die Summe reichte, um Pferde und Vorräte zu kaufen, mit deren Hilfe sie D’Hara verlassen konnten. Der neue Lord Rahl, dieser uneheliche Sohn eines unehelichen Sohnes aus einer langen, lückenlosen Linie unehelicher Söhne, hatte ihnen, ohne es zu wollen, die Mittel an die Hand gegeben, sich seinem Zugriff zu entziehen.

Das Leben war so kostbar. Sie hatte keinen anderen Wunsch, als daß sie und ihre Mutter endlich ihr eigenes Leben leben konnten, ein Leben, das irgendwo jenseits des fernen, dunklen Horizonts auf sie wartete.

Jennsen warf sich den Umhang über die Schultern und schlug die Kapuze hoch, um sich gegen den Regen zu schützen, doch so, wie es im Augenblick schüttete, würde sie auf ihrer Flucht zum Haus wahrscheinlich trotzdem naß werden. Sie nahm behutsam die Schüssel mit den wenigen übrig gebliebenen Fischstücken vom Boden auf, verstaute sie sicher unter ihrem Umhang, hielt den Atem an und stürzte sich gesenkten Kopfes in den prasselnden Regen. Der Schock des eiskalten Regenwassers verschlug ihr den Atem, als sie mit eiligen Schritten durch die dunklen Pfützen zum Haus hinüberplatschte. Ohne aufzublicken, stieß sie die Tür auf und stürzte hinein.

»Kalt ist es wie das Herz des Hüters!«, rief sie ihrer Mutter zu.

Die Luft entwich mit einem Ächzen aus ihren Lungen, als Jennsen gegen eine massive Wand prallte, die vorher noch nicht dort gestanden hatte. Sie hob den Kopf und sah vor sich einen breiten Rücken sowie eine riesige Hand, die sie zu packen versuchte.

Die Hand bekam nur ihren Umhang zu fassen; beim Zurückweichen wurde ihr der schwere Wollumhang vom Leib gerissen. Die Schüssel fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, wo sie sich wie ein wild gewordener Kreisel drehte. Die Tür prallte von der Wand zurück, fiel krachend hinter ihr ins Schloß und versperrte ihr so den Fluchtweg.

Nach Atem ringend, reagierte Jennsen.

Ihre Reaktion erfolgte rein von Gefühlen bestimmt, nicht etwa als Folge bewußter Überlegung.

Jennsen.

Aus Todesangst.

Gib dich hin.

Aus Verzweiflung.

Die markanten Züge des Mannes waren im Lichtschein des Kamins deutlich zu erkennen. Er stürzte sich auf sie, ein Ungetüm mit strähnigem, nassem Haar, ein wütender Koloß aus angespannten Sehnen und Muskeln. Getrieben von blankem Entsetzen, zückte sie blitzschnell das Messer.

Ihr Schrei glich einem aus Panik und übermenschlicher Anstrengung geborenen Knurren. Das Messer bohrte sich ihm seitlich in den Kopf, die Klinge brach in der Mitte entzwei, als sie auf seinen Wangenknochen traf. Durch den Aufprall wurde sein Kopf herumgerissen. Blut spritzte über sein Gesicht.

Wie von Sinnen um sich schlagend, traf er sie mit seiner fleischigen Hand mitten ins Gesicht, so daß sie mit der Schulter gegen die Wand prallte. Ein stechender Schmerz schoß durch ihren Arm, und irgendwo blieb sie mit den Füßen hängen. Aus dem Gleichgewicht geraten, stolperte sie und stürzte hin, schlug mit dem Gesicht auf den Fußboden. neben einem weiteren der hünenhaften Männer der genauso aussah wie der tote Soldat, den sie verscharrt hatten. Ihr Verstand klammerte sich an die bruchstückhafte Wahrnehmung dessen, was sie vor sich sah. Woher kamen diese Männer? Wieso waren sie überhaupt in ihrem Haus?

Sie stemmte sich hoch. Der Fremde lehnte, in sich zusammengesunken, an der Wand und stierte sie aus toten Augen an. Auf dem Griff mit dem verzierten »R«, schräg unterhalb seines Ohrs, spiegelte sich der Feuerschein. Die Messerspitze lugte aus der gegenüberliegenden Seite seines Stiernackens heraus; sein Hemd war naß und dunkelrot.

Gib dich hin.

Kalte Angst packte sie, als sie einen anderen Mann auf sich zukommen sah.

Eilig rappelte sie sich auf, schnappte sich das abgebrochene Messer und stellte sich der drohenden Gefahr. Dann sah sie ihre Mutter auf der Erde liegen ... Ein Mann hielt sie bei den Haaren gepackt... Überall war Blut.

Das Ganze schien vollkommen unwirklich.

In einer alptraumhaften Halluzination sah Jennsen den abgetrennten Arm ihrer Mutter auf dem Boden liegen, die Finger leicht geöffnet. Rote Einstichwunden.

Jennsen.

Panik bemächtigte sich ihres Verstandes, als sie ihre eigenen kurzen, abgehackten Schreie hörte. Blut war über den Fußboden gelaufen und glänzte im Schein des Feuers, gleich darauf eine wirbelnde Bewegung, Ein Mann rempelte sie an und drängte sie gegen die Wand. Sie war völlig außer Atem, und ein unsagbarer Schmerz schien ihre Brust zu zermalmen.

Gib dich hin.

»Nein!« Ihre eigene Stimme kam ihr unwirklich vor. Mit dem abgebrochenen Messer schlug sie um sich und schlitzte den Arm des Mannes auf. Er brüllte und stieß einen obszönen Fluch aus.

Der Mann, der Jennsens Mutter gepackt hielt, ließ von ihr ab und wollte sich ebenfalls auf Jennsen stürzen. Ziellos, wie von Sinnen stach sie auf die Männer ein. Hände griffen von allen Seiten nach ihr und versuchten sie festzuhalten. Dann schloß sich eine Riesenpranke wie ein Schraubstock um ihren wild um sich schlagenden Messerarm.

Gib dich hin.

Jennsen preßte einen Schrei hervor, wand sich, als hätte sie den Verstand verloren, trat um sich, biß. Die Soldaten fluchten, und der zweite Mann schloß seine Hand mit eisenhartem Griff um ihre Kehle.

Keine Luft. Keine Luft. Sie versuchte es – konnte nicht atmen – versuchte es mit letzter Kraft – bekam einfach keine Luft.

Feixend drückte er ihr die Kehle zu. Aus seiner vom Ohr bis zum Mundwinkel aufgeschlitzten Wange floß das Blut in Strömen; hinter der klaffenden Wunde konnte sie seine rot glänzenden Zähne erkennen.

Jennsen kämpfte, bekam aber einfach keine Luft; seine Faust grub sich in ihren Magen. Sie trat nach ihm, doch er bekam ihren Knöchel zu fassen, bevor sie ein zweites Mal zutreten konnte. Einer war tot, zwei hielten sie gepackt. Ihre Mutter lag am Boden.

Jennsens Gesichtsfeld schrumpfte zu einem schwarzen Tunnel. Ihre Brust brannte. Es tat so weh, so höllisch weh.

Die Geräusche klangen gedämpft.

Plötzlich vernahm sie einen wuchtigen Schlag, der ihr durch Mark und Bein ging.

Der Mann vor ihr, eben noch im Begriff, ihr die Kehle zu zerquetschen, torkelte einen Schritt, während sein Kopf eine ruckartige Bewegung vollführte und sein Griff erschlaffte. Gierig sog sie Luft in ihre Lungen. Dann kippte der Kopf nach vorn. Im Nacken des Mannes steckte eine Axt mit sichelförmiger Klinge; sie hatte sein Rückgrat durchtrennt.

Als er zu Boden ging, beschrieb der Axtgriff einen weiten Bogen. Hinter ihm stand, ganz beherrschtes Ungetüm mit weißem Haar, Sebastian.

Der letzte noch lebende Soldat ließ ihren Arm los und riß mit seiner anderen Hand ein blutverschmiertes Schwert nach oben, doch Sebastian war schneller als er.

Jennsen war sogar noch schneller als Sebastian.

Gib dich hin.

Sie stieß einen Schrei aus, wild und hemmungslos, und schlitzte dem Mann seitlich den Hals auf. Die Klinge drang durch bis auf die Knochen, durchschnitt die Arterie, durchtrennte Muskeln. Er brüllte wie am Spieß; das Blut schien in der Luft zu stehen, als der Mann kopfüber gegen die rückwärtige Wand stieß. Jennsen hatte mit solcher Wucht ausgeholt, daß sie der Länge nach mit ihm zu Boden ging. Sebastians Kurzschwert schlug blitzschnell zu und bohrte sich mit Wucht in die mächtige Brust des Soldaten.

Jennsen krabbelte über die Körper hinweg; sie sah nur noch ihre Mutter auf dem Boden, die in halb aufrechter Stellung an der gegenüberliegenden Wand lehnte.

Blutüberströmt, die Lider halb geschlossen, sah ihre Mutter aus, als sei sie im Begriff wegzudämmern. Und doch war da noch ein Rest von Freude, weil sie Jennsen sah, jener Funken Freude, der stets beim Anblick ihrer Tochter in ihren Augen funkelte. Grobschlächtige Finger hatten blutige Striemen in ihrem Gesicht hinterlassen.

»Meine Kleine ...«, hauchte sie.

Jennsen schaffte es nicht ihr Kreischen und Zittern abzustellen, sie wagte nicht, nach unten zu schauen, auf die entsetzlichen, blutroten Wunden.

Sie sah nur das Gesicht ihrer Mutter.

»Mama. Mama, Mama.«

Der noch verbliebene Arm legte sich um ihre Schultern.

Der Arm um Jennsens Schultern verhieß Liebe, Trost und Schutz. Ihre Mutter lächelte gequält. »Das hast du gut gemacht, meine Kleine.«

Sebastian war derweil wie von Sinnen damit beschäftigt, den Stumpf des rechten Armes ihrer Mutter mit irgend etwas nicht näher Erkennbarem zu umwickeln, um die starke Blutung zu stoppen. Ihre Mutter hatte jedoch nur Augen für Jennsen.

»Ich bin da, Mama. Alles wird gut werden. Ich bin da. Mama ... stirb nicht... stirb nicht. Halt durch. Mama. Halt durch.«

»Hör zu.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.

»Ich hör ja zu, Mama«, wimmerte Jennsen. »Ich höre zu.«

»Ich bin verloren ... werde jetzt ins Reich der Gütigen Seelen hinüberwechseln.«

»Nein. Mama, nein, bitte nicht.«

»Es ist nicht zu ändern, meine Kleine ... Die Gütigen Seelen werden gut für mich sorgen.«

Jennsen hielt das Gesicht ihrer Mutter in beiden Händen und versuchte es durch die Flut ihrer hilflosen Tränen zu erkennen.

»Laß mich nicht allein, Mama. Verlaß mich nicht. Bitte, bitte, tu es nicht. Oh, Mama, ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, meine Kleine. Mehr als alles andere. Ich hab dir alles beigebracht, was ich wußte. Jetzt hör mir zu.«

Jennsen nickte, aus Angst, ihr könnte auch nur ein einziges ihrer kostbaren Worte entgehen.

»Die Gütigen Seelen rufen mich zu sich. Das mußt du verstehen. Wenn ich fortgehe, wird dieser Körper nicht mehr ich sein. Verstehst du? Ich brauche ihn nicht mehr. Ich spüre keine Schmerzen, überhaupt keine. Ist das nicht ein Wunder? Ich bin jetzt bei den Gütigen Seelen. Du mußt stark sein und meinen Körper, der ich nicht länger bin, zurücklassen.«

»Mama.« Jennsen brachte nur ein gequältes Schluchzen zu Stande, während sie das Gesicht in Händen hielt das sie mehr liebte als das Leben selbst.

»Er ist auf dem Weg hierher, um dich zu holen, Jenn. Lauf weg. Hast du verstanden?«

»Nein. Mama, ich kann dich nicht zurücklassen. Ich kann einfach nicht.«

»Du mußt. Sei nicht so dumm, dein Leben zu riskieren, nur um diesen nutzlosen Körper zu beerdigen. Ich bin in deinem Herzen und bei den Gütigen Seelen. Verstehst du das, meine Kleine?«

»Ja, Mama.«

Ihre Mutter nickte schwach. »Gutes Mädchen. Nimm das Messer mit. Ich habe einen von ihnen damit getötet, also ist es auch deiner würdig.«

»Ich liebe dich, Mama.« Jennsen wünschte, ihr würden angemessenere Worte einfallen, doch die gab es nicht. »Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch ... deswegen mußt du fortlaufen, meine Kleine. Dein Leben ist zu kostbar. Lauf fort.« Ihre Augen wanderten zu Sebastian. »Werdet Ihr ihr helfen?«

Sebastian nickte. »Ganz bestimmt, ich schwöre es.«

Dann sah sie wieder Jennsen an, gütig lächelnd und voller Liebe. »Ich werde für immer in deinem Herzen wohnen, Kleine. Immer. Und dich immer lieben.«

»Ach, Mama, du weißt, daß auch ich dich liebe. Für immer.«

Lächelnd betrachtete sie ihre Tochter. Jennsen ließ ihre Finger über das schöne Gesicht ihrer Mutter wandern. Ihre Mutter sah ihr dabei zu – bis Jennsen merkte, daß ihre Mutter in dieser Welt gar nichts mehr sah.

Jennsen warf sich, aufgelöst in Tränen und Entsetzen, ein Schluchzen unterdrückend, über sie. Das war das Ende, ihre verrückte, sinnlose Welt hatte aufgehört zu existieren.

»Jennsen.« Sebastians Mund befand sich unmittelbar neben ihrem Ohr. »Wir müssen ihren letzten Wunsch erfüllen.«

»Nein! Bitte, nein«, jammerte sie.

Er versuchte sie behutsam weiter fortzuziehen. »Ihr müßt tun, was sie von Euch verlangt hat, Jennsen. Wir haben keine andere Wahl.«

Jennsen trommelte mit den Fausten auf den Boden. »Nein!«

»Jennsen, wir müssen fort.«

»Geht Ihr allein«, schluchzte sie. »Ich gebe auf.«

»Nein, das werdet Ihr nicht tun. Das dürft Ihr nicht.«

Er half ihr hoch, packte sie bei den Oberarmen und rüttelte sie. »Jennsen, wir müssen von hier verschwinden.«

Sie drehte ihren Kopf zur Seite und betrachtete ihre auf dem Boden liegende Mutter. »Wir müssen etwas tun. Bitte, wir müssen doch etwas tun.«

»Ja, das werden wir auch. Hört mir zu. Eure Mutter hatte Recht. Wir müssen augenblicklich von hier fort.«

Er wandte sich dem Rucksack zu, der neben der Lampe auf dem Tisch lag. Jennsen aber schleppte sich hinüber zu ihrer – wie sie immer noch meinte – schlafenden Mutter. Sie durfte nicht sterben, auf keinen Fall. Jennsen liebte sie viel zu sehr.

»Jennsen! Trauern könnt Ihr später! Wir müssen von hier verschwinden!«

Draußen goß es noch immer es in Strömen.

»Ich werde sie nicht zurücklassen!«

»Eure Mutter hat sich für Euch geopfert – damit Ihr weiterleben könnt. Laßt ihre letzte mutige Tat nicht vergeblich gewesen sein.«

Er war damit beschäftigt, alles, was ihm in die Finger kam, in den Rucksack zu stopfen. »Ihr müßt tun, was sie gesagt hat.«

Sie starrte auf die Tür. Sie war doch eben noch zu gewesen!

Ein hünenhafter Schatten schälte sich aus dem Regen und schob sich durch die Türöffnung ins Haus.

Die Augen des stämmigen Mannes hefteten sich auf sie, und sogleich ging eine Woge ungezügelter Angst durch ihren Körper. Er kam auf sie zu, immer schneller.

Jennsen sah das Messer mit dem verzierten »R« seitlich aus dem Hals eines Toten hervorragen, das Messer, das ihre Mutter ihr mitzunehmen aufgetragen hatte. Es war nicht weit...

Der Mann, der Sebastian offenbar gar nicht bemerkte, warf sich auf Jennsen, als sie sich auf das Messer stürzte. Ihre Finger bekamen das Heft zu fassen, das ziselierte Metall bot einen guten Halt. Mit zusammengebissenen Zähnen riß sie die Klinge heraus und wälzte sich herum.

Bevor der Mann sie erreichte, streckte Sebastian ihn mit seiner Axt nieder. Der Soldat schlug krachend neben ihr auf den Boden, wobei sein muskulöser Arm über ihre Hüfte fiel.

Mit einem Aufschrei wand Jennsen sich unter dem Arm hervor; Sebastian half ihr auf.

»Sucht zusammen, was Ihr mitnehmen wollt«, kommandierte er. Wie im Traum bewegte sie sich vorwärts.

Die Stimme in ihrem Kopf redete in ihrer merkwürdig fremden Sprache leise auf sie ein. Sie ertappte sich dabei, wie sie beim Zuhören beinahe so etwas wie Trost empfand.

Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.

Jennsen war unfähig zu denken und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie verbannte die Stimme aus ihrem Kopf und erteilte sich selbst den Befehl zu tun, was ihre Mutter ihr aufgetragen hatte.

Dann trat sie zum Schrank und ging daran, rasch ein paar Dinge zusammenzusuchen, die sie immer mitnahm, wenn sie weiterziehen mußten – Dinge, die stets bereit lagen. Sie warf auch ein paar Kräuter, Gewürze und getrocknete Lebensmittel in ihren Rucksack. Einer einfachen Truhe aus geflochtenen Zweigen entnahm sie einige weitere Kleidungsstücke, eine Bürste sowie einen kleinen Spiegel.

Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Vier tote D’Haraner, dazu der eine von heute Morgen, machte insgesamt fünf. Ein Quadron, plus ein zusätzlicher Soldat. Wo mochten sich die anderen drei befinden? Draußen vor der Tür, im Dunkeln? Unter den Bäumen? Lauerten sie im finsteren Wald und warteten nur darauf, sie zu Lord Rahl zu schleppen, damit man sie zu Tode folterte?

Sebastian hielt ihre Handgelenke mit beiden Händen fest. »Jennsen, was tut Ihr da?«

Erst jetzt bemerkte sie, daß sie mit ihrem Messer ins Leere stach.

Teilnahmslos sah sie zu, wie er ihr das Messer aus der geschlossenen Hand hebelte und in die Scheide zurücksteckte. Diese schob er ihr in den Gürtel, dann nahm er ihren Umhang vom Boden auf.

»Beeilt Euch, Jennsen.«

Sebastian filzte die Taschen der Toten, nahm das Geld, das er fand, heraus und stopfte es in seine Taschen. Dann schob er die vier Messer der getöteten Soldaten seitlich in den Rucksack und schnauzte Jennsen erneut an, sich zu beeilen. Während er sich von einem der Toten das seiner Meinung nach beste Schwert aussuchte, ging Jennsen zum Tisch, griff sich einige Kerzen und stopfte sie in ihren Rucksack; sie registrierte kaum, was sie mitnahm, griff einfach, was sie sah, und packte es ein.

Sebastian nahm ihren Rucksack auf, ergriff eines ihrer Handgelenke und schob es durch den Tragegurt, als hätte er es mit einer Puppe zu tun. Dann hielt er ihr den zweiten Gurt hin, schob ihren anderen Arm hindurch und warf ihr den wollenen Umhang über die Schultern; nachdem er ihr die Kapuze über den Kopf gezogen hatte, stopfte er ihr rotes Haar seitlich darunter.

Den Rucksack ihrer Mutter in der einen Hand haltend, zog er mit der anderen zweimal kräftig an seiner Axt und löste sie so aus dem Schädel des Soldaten; Blut lief am Stiel herab, als er sie in seinen Waffengurt hakte.

»Ist das alles?«, fragte er sie auf dem Weg zur Tür.

Jennsen sah über die Schulter auf ihre am Boden liegende Mutter.

»Sie ist tot, Jennsen. Die Gütigen Seelen werden sich ihrer annehmen. Sie schaut jetzt lächelnd auf Euch herab.«

Jennsen sah zu ihm hoch. »Wirklich? Glaubt Ihr das?«

»Ja. Sie ist jetzt in einer besseren Welt.«

In einer besseren Welt! An diesen Gedanken klammerte sich Jennsen. In ihrer Welt existierte nichts als Schmerz und Kummer. Sie war immer so stolz auf ihren klar denkenden Verstand gewesen. Was war jetzt daraus geworden?

Sebastian zog sie am Arm durch den Regen zu dem bergab führenden Pfad.

»Betty«, sagte sie plötzlich und weigerte sich weiterzugehen. »Wir müssen Betty holen.«

Er betrachtete den Pfad, dann sah er hinüber zur Höhle. »Ich glaube, um die Ziege müssen wir uns keine Sorgen machen, aber ich sollte wohl meinen Rucksack und meine Sachen holen gehen.«

Jetzt erst merkte sie, daß er ohne seinen Umhang im strömenden Regen stand; er war bereits bis auf die Haut durchnäßt. Ihr schoß der Gedanke durch den Kopf, daß sie vielleicht nicht die Einzige war, die nicht klar dachte. Er hatte es so eilig fortzukommen, daß er um ein Haar seine Sachen zurückgelassen hätte. Und das wäre sein sicherer Tod gewesen. Betty würde sich als nützlich erweisen, aber plötzlich kam ihr noch ein anderer Gedanke. Jennsen lief zurück ins Haus.

Sie ignorierte Sebastians wütende Rufe. Im Haus lief sie zu einer kleinen Kommode aus Holz unmittelbar hinter der Tür und entnahm ihr zwei zusammengeschnürte Schaffellumhänge – einer gehörte ihrer Mutter, der andere ihr. Er sah ihr ungeduldig von der Tür aus zu, enthielt sich aber jeglichen Kommentars, als er sah, was sie tat. Ohne dem Tod noch einmal ins Auge zu sehen, verließ sie das Haus wieder – zum allerletzten Mal.

Zusammen liefen sie zur Höhle, wo das Feuer immer noch knisternd und knackend brannte. Betty lief aufgeregt hin und her und zitterte, ansonsten aber war sie ungewöhnlich still – als wüßte sie, daß etwas auf entsetzliche Weise nicht stimmte.

»Trocknet Euch erst mal ein wenig ab«, sagte Jennsen.

»Dafür haben wir keine Zeit!«

»Ihr werdet Euch den Tod holen, sonst nichts. Was hätte das Weglaufen dann noch für einen Sinn? Tot ist tot.« Sie war selbst überrascht, wie vernünftig ihre Worte klangen.

Jennsen zog die beiden zusammengerollten Schaffellumhänge unter ihrem Wollumhang hervor. »Sie werden helfen, uns gegen den Regen zu schützen, aber zuvor müßt Ihr erst einmal trocken werden, sonst könnt Ihr nicht genug Wärme speichern.«

Er nickte und stand fröstelnd und sich die Hände reibend am Feuer, während der Sinn ihrer Worte sich endlich gegen sein dringendes Bedürfnis, von hier zu verschwinden, durchsetzte. Sie fragte sich, wie er das alles bloß schaffte mit seinem Fieber. Aus Angst vermutlich, aus nackter, rasender Angst.

Ihr ganzer Körper schmerzte, nicht nur, weil man überaus grob mit ihr umgesprungen war, nein, jetzt sah sie auch, daß ihre Schulter blutete. Die Schnittwunde war nicht tief, aber sie pochte. Am liebsten hätte sie sich einfach hingelegt und losgeheult. Die Worte ihrer Mutter waren im Augenblick das Einzige, was sie noch auf den Beinen hielt; ohne diese letzten Anordnungen wäre Jennsen zu sinnvollem Tun nicht mehr fähig gewesen.

Während Sebastian über das Feuer gebeugt stand, band Jennsen Betty einen Strick um den Hals. Hatten sie diesen Ort erst einmal verlassen und einen wenn auch noch so einfachen Unterschlupf gefunden, würden sie in einer naßkalten Nacht wie dieser kein Feuer mehr entzünden können. Sobald sie ein trockenes Erdloch, einen Platz unter einem Felsvorsprung oder einem umgestürzten Baum gefunden hatten, würden sie sich neben die Ziege kauern, so daß Betty sie wärmen konnte und sie nicht erfrieren mußten. Jennsen sammelte sämtliche Möhren und Eicheln vorn Felssims und verstaute sie ebenfalls in ihrem Gepäck.

Als Sebastian so weit getrocknet war, wie er sich dies selber zugestehen wollte, legten sie ihre Wollumhänge an und darüber die Schaffelle. Jennsen nahm Betty an den Strick, dann brachen sie auf in das alles durchnässende Dunkel. Sebastian steuerte auf den vor dem Haus bergab führenden Pfad zu – den Weg, auf dem er hergekommen war.

Jennsen packte ihn beim Arm, so daß er gezwungen war. stehen zu bleiben. »Dort unten warten sie vielleicht schon auf uns.«

»Aber wir müssen von hier verschwinden.«

»Ich kenne einen besseren Weg. Wir haben einen Fluchtweg angelegt.«

Einen kurzen Augenblick lang starrte er sie im strömenden, eiskalten Regen an. dann folgte er ihr ohne ein weiteres Wort ins Unbekannte.

Загрузка...