An den Namen Nathan Rahl erinnerte sich Jennsen. Althea hatte ihr erzählt, sie sei ihm in der Alten Welt begegnet, im Palast der Propheten. Offenbar war es dem alten Zauberer irgendwie gelungen, sich trotz der unüberwindbaren magischen Schilde zu befreien.
Jennsen hielt die Mord-Sith am Ellbogen fest. »Was hat er hier zu suchen, Nyda?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin ihm noch nicht begegnet.«
»Er darf uns auf keinen Fall sehen.« Jennsen schob Nyda, sie zur Eile drängend, vor sich her. »Für Erklärungen habe ich keine Zeit, aber der Mann ist sehr gefährlich.«
Am oberen Treppenende schaute sich Nyda erst nach beiden Seiten um, bevor sie Jennsen in die Augen sah. »Gefährlich? Seid Ihr da wirklich sicher?«
»Ja!«
»Also gut. Dann kommt mit mir.«
»Ich brauche noch meine Sachen«, meinte Sebastian.
»Dort drüben.« Der Captain deutete auf eine nicht weit entfernte Tür.
Während Nyda Schmiere stand, folgte Sebastian dein Captain hinein. Jennsen wartete derweil mit zitternden Knien in der Türnische und sah zu, wie der Captain die Laterne absetzte und drinnen eine zweite Tür aufschloß. Er und Sebastian nahmen die Laterne mit und betraten den dahinter liegenden Raum. Jennsen hörte einen kurzen Wortwechsel sowie das Geräusch der Gegenstände, die aus den Regalen genommen wurden. Kurz darauf trat Sebastian vor dein Captain wieder heraus in den Korridor. »Gehen wir.«
Er wirkte vollkommen unauffällig, ein Mann in einem grünen Umhang, genauso wie zuvor. Kaum einer würde darunter das Waffenarsenal vermuten, das er am Körper trug. Der einzige Unterschied zu anderen Menschen waren seine blauen Augen und sein weißes Stoppelhaar; vielleicht war das der Grund, weshalb ihn die Palastwache angehalten hatte.
Der Captain faßte Jennsen beim Arm. »Wie sie schon sagte« – er deutete mit einem Nicken auf die Mord-Sith – »mögen die Gütigen Seelen stets mit Euch sein.«
Er überließ ihr die Laterne. Jennsen sprach ihm mit leiser Stimme ihren aufrichtigen Dank aus, bevor sie, den Captain der Palastwache allein zurücklassend, den beiden anderen mit großen Schritten den Korridor entlang hinterhereilte.
Nyda führte sie durch schummrige Flure und ungenutzte Räume, sie passierten einen schmalen, nicht überdachten Einschnitt – zumindest konnte Jennsen, als sie nach oben blickte, dort nichts als Dunkelheit ausmachen. Der Fußboden schien aus nacktem Fels zu bestehen, während die Mauer zur Rechten aus eher gewöhnlichen, behauenen Steinen bestand. Auf der linken Seite aber war der Korridor von gewaltigen, rosa gesprenkelten Granitquadern gesäumt. Jeder der glatt polierten Quader war größer als alle Häuser, in denen Jennsen je gewohnt hatte, und doch waren sie so eng verfugt, daß man keine Messerklinge hätte dazwischenschieben können.
Am Ende des Korridors mit den riesigen Steinquadern an den Seiten mußten sie sich durch eine niedrige Tür ducken, um auf einen schmalen, eisernen Steg zu gelangen, der mit Planken ausgelegt war; die strichdünne Fußgängerbrücke überspannte einen breiten Riß im Muttergestein des Felsplateaus. Im Schein ihrer Laterne konnte Jennsen erkennen, daß die blanken Felswände senkrecht in die Tiefe stürzten. Das Licht ihrer Laterne reichte nicht annähernd bis auf den Grund. Hier, auf dem schmalen Steg, der über dieser gewaltigen Leere in der Luft zu schweben schien, kam sie sich winzig wie eine Ameise vor.
Die Mord-Sith, die sich, eine Hand am Geländer, über die Brücke tastete, blieb stehen und sah über ihre Schulter. »Wieso ist Zauberer Rahl eigentlich gefährlich?« Es war nicht zu übersehen, daß die Frage sie schon eine Weile beschäftigte. »Womit könnte er Euch Ärger machen?« Der Klang ihrer Stimme hallte von den umliegenden Felswänden wider.
Mitten auf dem Steg über den schwarzen Abgrund am Weitergehen gehindert, spürte Jennsen das Schwanken der Brücke unter ihren Füßen. Ihr wurde schwindelig. Die Mord-Sith wartete, während Jennsen überlegte, was sie darauf erwidern sollte. Ein Blick in Sebastians schreckensbleiches Gesicht verriet ihr, daß er ebenfalls keine Idee hatte. Flugs beschloß sie, einen Teil der Wahrheit einzuflechten, für den Fall, daß der Mann Nyda doch nicht völlig unbekannt war.
»Er ist ein Prophet. Er ist von einem Ort geflohen, wo man ihn gefangen hielt, einem Ort. wo er niemandem schaden konnte. Man hatte ihn aufgrund seiner Gefährlichkeit dort eingesperrt.«
Die Mord-Sith zog ihren langen blonden Schopf über die Schulter nach vorn und strich der Lange nach darüber, während sie sich Jennsens Worte durch den Kopf gehen ließ. Offenkundig hatte sie noch immer nicht die Absicht weiterzugehen. »Nach allem, was ich gehört habe, soll er ein ziemlich interessanter Mann sein.« In ihren Augen blitzte neu erwachte Streitlust auf.
»Jedenfalls ist er gefahrlich«, beharrte Jennsen.
»Inwiefern?«
»Er könnte meine Mission gefährden.«
»Wie das?«
»Das sagte ich doch schon – er ist ein Prophet.«
»Eine Prophezeiung kann durchaus Vorteile haben; sie könnte Euch bei Eurem Einsatz zum Schutz des Lord Rahl hilfreich sein.« Die Stirn der Mord-Sith furchte sich tiefer. »Warum solltet Ihr auf eine solche Hilfe verzichten wollen?«
Jennsen rief sich ins Gedächtnis zurück, was ihr Althea über Prophezeiungen erzählt hatte. »Nun, er könnte mir zum Beispiel erzählen, wie ich sterbe, sogar den genauen Tag. Angenommen, Ihr müßtet Lord Rahl vor einer drohenden Gefahr bewahren und wüßtet, daß Ihr schon am nächsten Tag auf grauenhafte Art ums Leben kämet, mitsamt der genauen Stunde und allen quälenden Einzelheiten. Das könnte Euch in einen Zustand lähmender Angst versetzen, und in dieser panischen, durch das Wissen um Euren Todeszeitpunkt und -ort ausgelösten Verzweiflung wäret Ihr natürlich kaum die geeignete Person, um das Leben des Lord Rahl zu schützen.«
Nydas Stirnrunzeln glättete sich nur unwesentlich. »Glaubt Ihr wirklich, Zauberer Rahl würde Euch so etwas erzählen?«
»Was glaubt Ihr, warum man ihn eingesperrt hat? Weil er gefährlich ist. Prophezeiungen können für Personen wie mich, die Lord Rahl beschützen, überaus gefährlich sein.«
»Oder hilfreich«, meinte Nyda. »Wenn Ihr wüßtet, daß etwas Schlimmes geschieht, könntet Ihr es doch verhindern.«
»Dann wäre es wohl kaum eine Prophezeiung, oder?«
Nyda strich sich mit der Hand über den Zopf, während sie über die tiefere Bedeutung der Bemerkung nachdachte. »Aber wenn Ihr von einem nahenden Unheil wüßtet, könntet Ihr die Prophezeiung doch einfach nicht beachten und das Unglück abwenden.«
»Könnte man Prophezeiungen unbeachtet lassen, würde man sie dadurch widerlegen. Und eine widerlegte, unerfüllte Prophezeiung wäre nichts weiter als das törichte, inhaltslose Geplapper eines alten Mannes, oder? Wie sollte man Prophezeiungen dann von dem leeren Geschwätz eines Geisteskranken unterscheiden, der von sich behauptet, er sei ein Prophet?
Aber es ist eben kein leeres Geschwätz«, fuhr Jennsen beharrlich fort und wünschte, Nyda ginge endlich weiter. Wenn sie die Frau nicht überzeugen konnte und gegen sie kämpfen mußte, wäre dies ein denkbar ungeeigneter Ort. Die Mord-Sith war kräftig und gewandt, und da Sebastian hinter ihr stand, wäre er kaum eine große Hilfe. Außerdem drehte sich Jennsen, hier oben an diese schwankende Brücke über den Abgrund geklammert, der Kopf. Hoch gelegene Orte behagten ihr nicht.
Nyda nickte resigniert. Endlich drehte sie sich um und setzte ihren Weg über die Brücke fort. »Aber trotzdem würde ich versuchen, die Prophezeiung zu verändern.«
Einen stillen Seufzer ausstoßend, folgte Jennsen ihr mit schlurfenden, tastenden Schritten dicht auf den Fersen. Auf unbegreifliche Weise schienen ihre Worte die Mord-Sith nachhaltig zu beeinflussen.
Sie warf einen Blick über das Geländer, konnte aber noch immer keinen Boden erkennen. »Prophezeiungen können nicht verändert werden, weil sie sonst keine Prophezeiungen waren. Prophezeiungen werden von Propheten erstellt, die die Gabe dafür besitzen.«
Mittlerweile hatte Nyda wieder ihren Zopf nach vorn geholt und strich mit der Hand darüber. »Aber wenn er ein Prophet ist, dann kennt er die Zukunft, und die kann, wie Ihr sagt, nicht verändert werden, denn sonst wäre es ja keine Prophezeiung – das heißt also, er würde Euch lediglich erzählen, was passieren wird. Daran können weder er noch Ihr etwas ändern. Würde die Vorhersage dazu führen, daß Ihr Lord Rahl im Stich laßt, würde er auch dieses Ereignis vorhersehen, also ist es vorherbestimmt und wäre demzufolge ohnehin bereits Teil der Prophezeiung.«
Jennsen strich sich eine Haarsträhne aus den Augen, während sie sich, die Hände fest am Geländer, ganz allmählich über die Brücke tastete. In Gedanken suchte sie fieberhaft nach einer logischen Antwort. Sie hatte keine Ahnung, ob das, was sie so daherredete, stimmte oder nicht, aber sie fand, daß es recht überzeugend klang und außerdem seine Wirkung nicht verfehlte. Das Problem war nur, daß Nyda ständig irgendwelche Fragen stellte, deren Beantwortung Jennsen zunehmend schwer fiel. Fast war es, als wäre sie in den Abgrund unter ihr hinabgestiegen, und jeder Versuch, wieder daraus hervorzuklettern, ließe sie nur tiefer abrutschen. Sie versuchte, so gut es ging, jeden Anflug von Verzweiflung aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Aber begreift Ihr denn nicht? Propheten sehen nicht alles über jeden einzelnen Menschen im Voraus, so als wäre das gesamte Weltgeschehen ein einziges, gewaltiges Spektakel, das nur noch gemäß eines vom Propheten bereits vorab gelesenen Manuskripts aufgeführt werden müßte. Gewöhnlich sieht ein Prophet nur einige ausgewählte Dinge – möglicherweise sogar Dinge, die er selbst ausgewählt hat. Andere Dinge aber Dinge, die er nicht voraussieht, könnte er zu beeinflussen suchen.«
Nyda sah sich stirnrunzelnd nach den beiden um. »Was wollt Ihr damit sagen?«
Jennsen ahnte, daß sie sich nur sicher fühlen konnte, wenn sie Nydas Sorge um Lord Rahl wachhielt. »Damit meine ich, daß er mir, wollte er Lord Rahl tatsächlich schaden, etwas erzählen würde, das mich zurückschrecken ließe, und zwar nur aus ebendiesem Grund, auch wenn er ein solches Ereignis gar nicht sähe.«
Nydas Stirnrunzeln wurde immer ernster. »Wollt Ihr damit andeuten, er könnte lügen?«
»Ja.«
»Aber warum sollte Zauberer Rahl Lord Rahl schaden wollen?«
»Das habe ich Euch doch schon erklärt, weil er gefährlich ist. Deswegen hat man ihn im Palast der Propheten hinter Schloß und Riegel gebracht. Wer weiß, was man dort sonst noch über ihn wußte.«
»Das erklärt noch immer nicht, warum Zauberer Rahl den Wunsch haben sollte, Lord Rahl zu schaden.«
Jennsen kam sich vor wie bei einem Messerkampf, bei dem sie sich vor der rasiermesserscharfen Zunge dieser Frau hüten müßte. »Es sind ja nicht nur die Prophezeiungen – der Mann ist obendrein Zauberer. Er besitzt die Gabe. Ich weiß nicht, ob er ein Interesse daran hat, Lord Rahl zu schaden – vielleicht stimmt das gar nicht –, nur will ich nicht das Leben des Lord Rahl riskieren, um es herauszufinden. Meine Kenntnis der Magie ist groß genug, um zu wissen, daß ich besser nicht mit Dingen herumhantieren sollte, die über meinen Horizont gehen. Ich muß Lord Rahls Leben absoluten Vorrang einräumen, deshalb aber noch lange nicht glauben, daß Nathan Rahl darauf aus ist, jemandem zu schaden. Ich will damit nur sagen, daß es meine Aufgabe ist, Lord Rahl zu beschützen; und daß ich kein Risiko mit dieser Magie eingehen möchte, einer Magie, gegenüber der ich machtlos bin.«
Nyda stieß die Tür am Ende der Fußgängerbrücke mit der Schulter auf. »Dem kann ich nur beipflichten; mit Magie will ich auch nichts zu schaffen haben. Aber wenn Lord Rahl von diesem prophetischen Zauberer Gefahr droht, dann solltet Ihr vielleicht besser hier bleiben, damit wir der Sache nachgehen können.«
»Ob Nathan Rahl gefährlich ist, weiß ich nicht, aber ich bin in einer dringenden Angelegenheit unterwegs, von der ich mit Sicherheit weiß, daß sie eine ernste Gefahr für Lord Rahl bedeutet. Es ist meine Pflicht, mich darum zu kümmern.«
Nyda versuchte, eine Tür zu öffnen, fand sie jedoch verschlossen und setzte ihren Weg durch den schmuddeligen Flur fort. »Aber wenn Eure Vermutungen über Nathan Rahl zutreffen, müssen wir...«
»Ich hatte gehofft, Ihr könntet für mich diesen Nathan Rahl im Auge behalten. Ich kann nicht alles allein machen. Würdet Ihr ihn für mich beobachten?«
»Wollt Ihr, daß ich ihn töte?«
»Nein.« Jennsen war überrascht, wie schnell die Mord-Sith zu einer solchen Tat bereit war. »Natürlich nicht. Ich meinte bloß, Ihr solltet acht geben und ihn im Auge behalten, mehr nicht.«
Nyda war an einer weiteren Tür angelangt – dieses Mal ließ sich der Riegel anheben. Vor dem Öffnen drehte sie sich noch einmal zu den beiden um, und der Ausdruck in ihren Augen, als ihr Blick vom einen zum anderen schweifte, gefiel Jennsen gar nicht.
»Das Ganze ist völlig verrückt«, meinte Nyda. »Zu vieles ergibt keinen Sinn, zu viele Dinge passen nicht zusammen. Ich mag es nicht, wenn die Dinge keinen Sinn ergeben.«
Sie war wie ein gefährliches Raubtier, das sich jeden Moment auf sie stürzen konnte. Jennsen mußte einen Weg finden, das Thema endgültig zu beenden. Sie erinnerte sich an die Worte Captain Lerners, mit denen er seiner tiefen Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, und wiederholte sie leise gegenüber Nyda.
»Der neue Lord Rahl hat alles verändert, sämtliche Regeln – er hat die ganze Welt auf den Kopf gestellt.«
Endlich stieß Nyda einen tiefen Seufzer aus, und ein versonnenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ja, das ist wohl wahr«, meinte sie versöhnlich. »Welch unglaubliches Wunder. Deswegen würde ich ja auch mein Leben opfern, um ihn zu beschützen, deswegen bin ich so besorgt.«
»Genau wie ich. Deswegen muß ich unbedingt meine Mission erfüllen.«
Nyda wandte sich ab und führte sie zu einer düsteren Wendeltreppe, die sich nach unten in den Felsen schraubte. Jennsen war sich darüber im Klaren, daß ihre zurechtgesponnene Geschichte nicht völlig überzeugend klang; zu ihrer großen Verblüffung tat sie dennoch ihre Wirkung.
Ein langer Marsch über scheinbar endlos in die Tiefe führende Treppen und durch düstere Korridore, die gelegentlich mit Soldaten bevölkerte Flure kreuzten, führte sie in noch tiefere Gefilde des Felsplateaus unter dem Palast des Volkes. Daß Sebastian den größten Teil des Weges seine Hand auf ihrem Rücken hatte, hatte etwas beruhigend Tröstliches und war ihr eine große Hilfe. Jennsen konnte kaum glauben, daß sie ihn tatsachlich freibekommen hatte. Nicht mehr lange, und sie würde den Palast verlassen haben und in Sicherheit sein.
Irgendwo im Innern des Felsplateaus kamen sie im zentralen, für die Öffentlichkeit zugänglichen Bereich heraus; Nyda hatte sie auf einem direkteren Weg nach unten geführt, um Zeit zu sparen. Jennsen hätte sich lieber weiter an die versteckteren Wege gehalten, doch offenbar endeten alle diese Abkürzungen in dem für die Öffentlichkeit zugänglichen Bereich; sie würden ihren Weg hinunter aus dem Palast also inmitten des allgemeinen Gedränges beschließen müssen.
Kleine Stände, an denen Speisen verkauft wurden, säumten ihren Weg, auf dem sich die Menschenmassen während ihres langen Aufstiegs zum Palast schleppenden Schritts nach oben schoben. Einige in der Nähe patrouillierende Soldaten bemerkten, daß sie gegen den Menschenstrom nach unten liefen. Wie alle Soldaten, die sie im Palast gesehen hatte, waren es hoch gewachsene, muskulöse Männer mit wachem Blick. In ihren Lederrüstungen und Kettenpanzern und mit den an ihrem Gürtel hängenden Waffen boten sie einen furchterregenden Anblick. Nachdem sie jedoch gesehen hatten, daß Nyda sie begleitete, richteten sie ihre forschenden Blicke wieder auf die anderen Passanten.
Als Jennsen Sebastian seine Kapuze hochschlagen sah, wurde ihr bewußt, daß es vermutlich keine schlechte Idee wäre, ihre roten Haare zu verstecken, deshalb folgte sie seinem Beispiel. Die Luft im Innern des Felsplateaus war eisig, und eine ganze Reihe von Leuten trug Kapuzen oder Hüte als Kopfbedeckung, sie würde damit also keinen Verdacht erregen.
Als sie in den unteren Bereichen im Innern des Plateaus das ferne Ende eines Treppenabsatzes erreichten und in die nächste nach unten führende Treppenflucht einbiegen wollten, hob Jennsen den Kopf. Soeben verließ auf der anderen Seite des Absatzes ein großer älterer Mann mit vollem, glattem weißen Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, die von oben kommende Treppe. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war er noch immer ein auffallend gut aussehender Mann, dessen Bewegungen Kraft und Ausdauer verrieten.
Er sah auf. Sein Blick begegnete Jennsens.
In den tiefdunklen blauen Augen des Mannes schien die Welt stehen zu bleiben.
Jennsen erstarrte. Irgend etwas an ihm kam ihr vage bekannt vor, etwas an diesen Augen nahm ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen.
Sebastian war zwei Schritte hinter ihr stehen geblieben, Nyda stand seitlich neben ihr; die Mord-Sith folgte Jennsens Blick mit den Augen.
Der Mann musterte Jennsen mit seinen falkenhaft funkelnden Augen, so als waren die beiden die einzigen Menschen im ganzen Palast.
»Gütige Seelen«, hauchte Nyda. »Das muß Nathan Rahl sein.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte Sebastian.
Sie kam näher und stellte sich neben Jennsen, ihre Aufmerksamkeit auf den Mann geheftet. »Weil er die Augen eines Rahl hat, die Darken Rahls. Diese Augen haben mich schon oft genug in meinen Alpträumen verfolgt.«
Nydas Blick schweifte hinüber zu Jennsen; sie runzelte die Stirn.
Plötzlich wußte Jennsen, wo sie die Augen des Mannes schon einmal gesehen hatte – im Spiegel.