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Jennsens Staunen begann allmählich nachzulassen. Der Anblick der schier endlosen Fläche voller Soldaten, die einer Flut dunkel gekleideter Menschen gleich das Tiefland überschwemmten, verlor zusehends seinen Reiz. Die gewaltige Armee hatte das weite Flachland zwischen den sanft geschwungenen Hügeln in trostlosen braunen Morast verwandelt. Zwischen den Soldaten drängte sich eine unvorstellbar große Zahl von Zelten, Wagen und Pferden. Das Summen dieser riesigen Horde, unterbrochen von Geschrei und Gejohle, von Rufen, Pfiffen und dem Klirren der Ausrüstung, von Hufgeklapper, dem Poltern der Wagen und dem klingenden Rhythmus von Hämmern auf Stahl, dem schrillen Wiehern der Pferde und gelegentlichen, vereinzelten Rufen, die in Jennsens Ohren fast so klangen, als könnten sie von Frauen stammen, war über Meilen hinweg zu hören.

Es war, als blickte man auf eine unfaßbar große Stadt hinunter, allerdings ohne Gebäude oder erkennbaren Plan, so als sei alle Erfindungsgabe und Ordnung sowie überhaupt alles, was den Menschen ausmachte, wie durch Magie abhanden gekommen, so daß die danach zurückbleibenden Menschen unter den dunkel aufziehenden Wolken fast zu Wilden wurden, die sich im Kampf gegen die Unbilden der Natur zu behaupten versuchten, und das unter unbarmherzigsten Bedingungen.

Jetzt, da der Boden endlich frostfrei war, war die morastige Erde so weit getrocknet und trittfest geworden, daß die Armee schließlich aus dem im eigenen Schmutz erstickenden Winterquartier hatte abziehen können, um ihren Vorstoß gegen die Stadt Aydindril, den Herrschaftssitz der Midlands, zu beginnen. Noch kam ihre Frühjahrsoffensive Richtung Norden nicht sehr schnell voran, dennoch war ihr Vormarsch unaufhaltsam. Sebastian meinte, wenn die Männer ihre Beute erst einmal gewittert hatten, beschleunige das ihren Puls und ihre Schritte wie von selbst.

Bevor Jennsen und Sebastian auf die Armee gestoßen waren, hatten sie eine der schönsten Landschaften durchquert, die Jennsen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Sie sehnte sich danach, diese verwunschenen Wälder zu erkunden, und bildete sich ein, den Rest ihres Lebens zufrieden inmitten dieses Waldlandes verbringen zu können; folglich tat sie sich schwer damit, die Midlands als einen Ort gottloser Magie abzutun.

Ein weiterer Vorpostentrupp erspähte sie und Sebastian auf ihrem Ritt durch das offene Gelände, die Soldaten verließen ihren Beobachtungsposten auf einer Hügelkuppe und kamen den Hang herunter, um ihnen den Weg abzuschneiden. Als sie und Sebastian näher waren und die Männer seinen weißen Bürstenhaarschnitt und den beiläufigen Salut sahen, den er ihnen entbot, machten sie allerdings kehrt und kletterten wieder hoch zu ihren Lagerfeuern.

Wie alle anderen Soldaten in der Armee der Imperialen Ordnung auch, die sie bislang gesehen hatte, waren diese Soldaten ein derber, unkultivierter, in zerrissene Lumpen, Pelze und Häute gehüllter Haufen. Viele von ihnen hockten unten im weiten Tal um kleine Lagerfeuer, vor winzigen Zelten aus Tierfellen und geöltem Segeltuch. Zwischen diesen Zelten sah man, aufs Geratewohl verteilt, örtliche Befehlsstände, Messetische, Waffenstapel. Vorratswagen, Pferche voller Lebendvieh und Pferde, geplagte Geschäftsleute und sogar Schmiede, die an transportablen Essen arbeiteten. Da und dort gab es vereinzelte kleine Märkte, wo die Männer zusammenkamen, um kleine Dinge des Alltags zu tauschen oder einzukaufen.

Man sah sogar ein paar hagere Gestalten, die mitten im dichten Gedränge erregt und aufgebracht auf vereinzelte Gruppen von Zuschauern mit völlig ausdruckslosen Mienen einpredigten. Was genau sie predigten, konnte Jennsen nicht verstehen, aber es waren nicht die ersten Prediger, die sie sah. Die ungestüme Körpersprache, mit der sie Tod und Verderben sowie Seelenheil durch Bekehrung zum rechten Glauben verkündeten, war nach Aussage ihrer Mutter ebenso unverkennbar wie immer gleich.

Als sie sich auf ihren Pferden diesem schier uferlosen Feldlager näherten, fiel Jennsen trotz der beeindruckenden Vielfalt dessen, was sie erblickte, in erster Linie auf, daß das gesamte Lager nur so starrte vor Dreck, es stank, überall herrschten Lärm und erschreckendes Durcheinander.

Nur der eine, alles bestimmende Grund für ihr Hiersein hielt sie davon ab, kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen, nichts sonst. Sie war an eine innere Grenze gestoßen und hatte diese überschritten, hatte die Notwendigkeit des Tötens erkannt und sich in kalter, bewußter Berechnung entschieden, die Tat auszuführen. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Sebastian hatte ihr auch erklärt, wie schwierig es sich gestaltete, eine so riesige Armee zur Verteidigung der Heimat zusammenzuziehen, und welch mühseliges Unterfangen es war, sie über eine so weite Strecke marschieren zu lassen. All diese Männer waren fern ihrer Heimat und hatten obendrein keine leichte Aufgabe zu erledigen; diese Männer befanden sich im Krieg. Letzteres galt allerdings auch für die Truppen D’Haras, nur hatten diese Männer hier nicht die geringste Ähnlichkeit mit d’Haranischen Soldaten und waren auch längst nicht so diszipliniert, doch das behielt sie für sich.

Trotzdem vermochte Jennsen ein gewisses Verständnis aufzubringen. Die Reise war für sie und Sebastian überaus beschwerlich gewesen, so daß auch sie sich kaum um ein gepflegtes Äußeres hatte kümmern können. Darüber hinaus war die Überquerung des Gebirges mitten im Winter sehr langwierig und mühselig gewesen. Tags zuvor hatten sie eine Abkürzung durch hügeliges Gelände genommen, um sich der Armee von der Spitze her zu nähern, und waren dabei auf ein verlassenes Bauernhaus gestoßen. Sebastian hatte ihrem Wunsch nachgegeben, dort zu übernachten, obwohl es zum Aufschlagen des Nachtlagers noch ein wenig zu früh war. Nachdem sie in dem alten Zuber im winzigen Badezimmer ein Bad genommen und sich die langen Haare gewaschen hatte, mußte das Wasser noch zum Auswaschen ihrer Kleider dienen. Anschließend hatte Jennsen vor dem wärmenden Feuer, das Sebastian im Kamin angezündet hatte, ihr Haar ausgebürstet, um es zu trocknen. Sie war wegen des bevorstehenden Zusammentreffens mit dem Kaiser aufgeregt und wollte präsentabel aussehen. Sebastian, auf einen Ellbogen gestützt, hatte sie im flackernden Schein der Flammen beobachtet, sein unvergleichliches Lächeln aufgesetzt und gemeint, sogar ungewaschen und ungekämmt sei sie gewiß die schönste Frau, die Kaiser Jagang je gesehen habe.

Als sie jetzt durch die Randbezirke des Feldlagers der Imperialen Ordnung ritten, herrschte in ihrem Magen ein wüstes Durcheinander, von ihrem Haar dagegen konnte man das nicht behaupten. Dem Aussehen der stürmischen Wolken nach, die von Westen her an den Bergen vorbei zu ihnen herüberzogen, würde in Kürze ein Frühlingsgewitter über ihnen niedergehen. Sie hoffte, der Regen würde, so kurz vor ihrer Begegnung mit dem Kaiser, wenigstens ihre Haare und ihr Kleid verschonen und noch ein wenig auf sich warten lassen.

»Dort«, meinte Sebastian und beugte sich mit ausgestrecktem Arm im Sattel vor. »Das sind die Zelte des Kaisers, und dort drüben stehen die seiner wichtigsten Berater und Offiziere. Nicht weit dahinter, talaufwärts, dürfte Aydindril selbst liegen.« Er warf ihr grinsend einen Blick zu. »Kaiser Jagang ist noch nicht ausgerückt, um die Stadt einzunehmen; wir sind also rechtzeitig gekommen.«

Die riesigen Zelte boten einen eindrucksvollen Anblick. Das größte von ihnen war oval; sein dreispitziges Dach wurde von drei in den Himmel ragenden Stützmasten getragen. Die Seitenwände des Zeltes waren mit leuchtend bunten Stoffstreifen verziert, die Traufen mit Wimpeln und Quasten behängt. Hoch oben, an der Spitze der drei Masten, flatterten bunte, gelbrote Banner im böigen Wind, während lange Fähnchen, fliegenden Schlangen gleich, sich im Wind streckten. Die Gruppe der kaiserlichen Zelte ragte aus der Eintönigkeit der winzigen Quartiere für die gewöhnlichen Soldaten heraus wie ein königlicher Palast aus den ihn umstehenden Hütten.

Jennsens Herz raste, als sie ihre Pferde in das dichte Getümmel innerhalb des Lagers lenkten. Beide, sowohl Rusty als auch Pete, bekundeten ihre bösen Vorahnungen mit einem Schnauben, als sie diesen lärmigen, geschäftigen Ort betreten sollten. Sie trieb Rusty nach vorn, um Sebastians Hand zu ergreifen.

»Deine Hand ist ja völlig verschwitzt«, meinte er lächelnd. »Du bist doch nicht etwa aufgeregt, oder?«

»Ein bißchen vielleicht«, erwiderte sie.

Ihr Vorhaben festigte jedoch ihre Entschlossenheit.

»Aber das brauchst du nicht. Kaiser Jagang wird es sein, der nervös ist, weil er einer so schönen Frau begegnet.«

Jennsen spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. In Kürze sollte sie einem Kaiser gegenübertreten. Was ihre Mutter wohl dazu sagen würde? Im Weiterreiten dachte sie darüber nach, wie sich ihre Mutter, ein junges Mädchen und Bedienstete des Palasts – ein Niemand also – gefühlt haben mußte, als sie Darken Rahl persönlich begegnet war. Zum allerersten Mal konnte Jennsen sich ein wenig in die Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses im Leben ihrer Mutter hineinversetzen.

Jennsen wurde von allen Seiten angestarrt. Soldaten kamen in Scharen herbeigeströmt, um die ins Lager reitende Frau in Augenschein zu nehmen. Sie sah, daß eine Reihe von Soldaten mit Langspießen sich zu einem lockeren Spalier entlang ihres Weges formierte, um die nachdrängenden Männer zurückzuhalten, und erkannte, daß die Gardisten ihnen den Weg freihielten, um zu verhindern, daß ihnen einer der Soldaten zu nahe kam.

»Der Kaiser ist von unserem Kommen unterrichtet«, erklärte Sebastian.

»Wie ist das möglich?«

»Nach unserer Begegnung mit den Kundschaftern vor ein paar Tagen, und später dann mit den näher am Lager stehenden Posten heute Morgen, hat man Boten vorausgeschickt, um Kaiser Jagang meine Rückkehr zu melden. Und daß ich nicht allein komme. Kaiser Jagang möchte gewiß die Sicherheit jedes Gastes gewährleisten, den ich mitbringe.«

»Die Soldaten machen einen so ... ich weiß nicht ... unzivilisierten Eindruck, ja, so muß man es wohl nennen.«

»Würdest du etwa, im Augenblick, da du Lord Rahl dein Messer ins Herz stoßen willst«, hielt Sebastian sofort dagegen, »einen Knicks vor ihm machen und dich bei ihm bedanken, um ihm deine gute Kinderstube zu beweisen?«

»Natürlich nicht, aber...«

Er richtete zögernd seine blauen Augen auf sie. »Als diese Rohlinge in dein Haus eindrangen und deine Mutter ermordeten, von welcher Art Soldaten hättest du dich in diesem Moment lieber beschützen lassen?«

Jennsen reagierte leicht verstört. »Ich weiß wirklich nicht, Sebastian, was das damit zu tun hat...«

»Würdest du elegant herausgeputzten Soldaten in poliertem Leder und mit höflichen Manieren – wie sie ein angeberischer König bei einem eleganten Abendessen aufmarschieren ließe – etwa zutrauen, deine geliebte Mutter in einem letzten, verzweifelten Aufbäumen gegen den Ansturm einer zu allem entschlossenen Mörderbande zu verteidigen? Oder wäre es dir lieber, wenn sich noch unzivilisiertere Männer schützend vor deine Mutter stellten? Wäre es dir nicht auch lieber, wenn Männer, die die schlimmsten Kampfmethoden beherrschen, zwischen ihr und den gewalttätigen Kerlen stünden, die fest entschlossen sind, sie umzubringen?«

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, mußte Jennsen zugeben.

»In genau dieser Funktion dienen all diese Soldaten ihren Lieben daheim in der Alten Welt.«

Die unerwartete Begegnung mit der schrecklichen Erinnerung war so entmutigend und schmerzhaft, daß sie ihre liebe Not hatte, sie wieder aus ihren Gedanken zu verbannen; außerdem fühlte sie sich durch Sebastians aufgebrachte Erwiderung zurechtgewiesen. Sie war aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen, und dieser Grund allein zählte. Wenn die gegen die Streitkräfte Lord Rahls aufgebotenen Männer zu Gewalt und Gemeinheit neigten, um so besser.

Erst als sie das schwer bewachte Gelände rings um die Zelte des Kaisers erreicht hatten, sah Jennsen andere Frauen. Es war eine seltsame Mischung, Manche wirkten sehr jung, andere dagegen waren bereits vom Alter gebeugt. Die meisten maßen sie mit neugierigen Blicken, einige betrachteten sie mit leisem Argwohn, und einige wenige schienen sogar leicht alarmiert.

»Wieso tragen die Frauen alle einen Ring durch ihre Unterlippe?«, wandte sie sich flüsternd an Sebastian.

Er ließ den Blick über die Frauen bei den Zelten schweifen. »Es ist ein Zeichen ihrer Treue zur Imperialen Ordnung und zu Kaiser Jagang.«

Jennsen fand diese Art des Treuebeweises nicht nur seltsam, sondern geradezu besorgniserregend. Die meisten Frauen trugen grobe Kleider von unbestimmter Farbe, die meisten hatten ungepflegtes Haar; einige von ihnen waren etwas besser gekleidet, aber nicht wesentlich.

Als sie abstiegen, nahmen sich Soldaten ihrer Pferde an. Jennsen streichelte Rustys Ohr und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf das nervöse Tier ein. Als Rusty besänftigt war, folgte Pete ihr zufrieden hinüber in den Bereich der Stallungen. Die Trennung von ihrer ständigen Gefährtin erinnerte Jennsen unerwartet daran, wie sehr sie Betty vermißte.

Die Frauen zogen sich, ohne sie aus den Augen zu lassen, weiter in den Hintergrund zurück, als hätten sie Angst, ihr zu nahe zu kommen. Jennsen war dieses Verhalten gewöhnt; die Menschen fürchteten sich vor ihren roten Haaren. Es war ein selten warmer Frühlingstag, und die Aussicht auf weitere solcher Tage hatte Jennsen in eine Art Rauschzustand versetzt, so daß sie ganz vergessen hatte, ihre Kapuze hochzuschlagen, als sie sich dem Lager näherten. Als sie sie jetzt überstreifen wollte, fiel Sebastian ihr in den Arm.

»Das ist nicht nötig.« Er deutete mit einem Neigen seines Kopfes auf die Frauen. »Viele von ihnen sind Schwestern des Lichts. Sie fürchten sich nicht etwa vor Magie, sondern haben Angst, ein Fremder könnte in das Lager des Kaisers eindringen.«

In diesem Moment erkannte Jennsen den eigentlichen Grund für die befremdlichen Blicke einiger Frauen: Sie besaßen die Gabe und nahmen sie als Lücke in der Welt wahr. Sie konnten sie mit den Augen sehen, aber nicht mit ihrer Gabe. Sie zwang sich, den Frauen zuzulächeln, erntete aber nur starre Blicke.

»Wieso wird der Kaiser von seinen Männern abgeschirmt und bewacht?«, fragte sie Sebastian.

»Bei so vielen Soldaten kann man nie mit Sicherheit ausschließen, daß einer von ihnen ein Eindringling ist oder womöglich gar ein gefährlicher Verrückter, der versucht, sich auf Kosten Kaiser Jagangs einen Namen zu machen. Eine so unsinnige Tat würde uns alle unseres großen Führers berauben. Jetzt, da so viel auf dem Spiel steht, können wir nicht vorsichtig genug sein.«

Dafür vermochte sogar Jennsen ein gewisses Verständnis aufzubringen, schließlich war auch Sebastian unbefugt in den Palast des Volkes eingedrungen. Wäre ihm dort ein wichtiger Mann über den Weg gelaufen, hätte er größeres Unheil anrichten können. Den D’Haranern bereitete diese Art der Bedrohung Sorge; sie hatten sogar den richtigen Mann festgenommen, doch zum Glück hatte Jennsen ihn befreien können.

Sebastian legte ihr den Arm um die Hüfte und drängte sie weiter in Richtung der beiden hünenhaften, stummen Soldaten, die vor dem Zelt des Kaisers Wache hielten. Nachdem die beiden ihm zugenickt hatten, trat Sebastian zwischen sie und schlug den schweren, mit goldenen und silbernen Rundbildern verzierten Türvorhang zur Seite.

Ein so üppig ausgestattetes Zelt hätte Jennsen sich niemals vorzustellen gewagt, geschweige denn, daß sie so etwas je mit eigenen Augen zu sehen bekäme, doch was sie jetzt, als sie ins Innere trat, erblickte, war noch weit prächtiger, als sein Äußeres vermuten ließ. Der Fußboden war vollständig mit einer Vielzahl kreuz und quer verlegter Teppiche bedeckt; eine Auswahl geflochtener, mit exotischen Szenen und verschwenderischen Mustern versehener Wandbehänge unterteilte den Innenraum in verschiedene Gemächer; kunstvolle Glasschalen, zartes Keramikgeschirr und hohe, bemalte Vasen standen auf überall im Raum verteilten polierten Tischen und Truhen. Zur Seite hin gab es sogar einen hohen Vitrinenschrank mit gläserner Front, in dem auf Gestellen bunt bemalte Teller ausgestellt waren. Farbige Kissen in den unterschiedlichsten Größen säumten den Rand des Fußbodens; oben ließen einige mit reiner Seide verhängte Öffnungen gedämpftes Licht herein. Überall brannten Duftkerzen, während die unzähligen Teppiche und Wandbehänge eine Oase der Stille schufen. Man kam sich vor wie im Innern eines Heiligtums.

Drinnen ging eine Anzahl von Frauen, alle mit besagtem Ring in der Unterlippe, geschäftig den ihnen zugeteilten Aufgaben nach. Während die meisten ganz in ihrer Arbeit aufzugehen schienen, musterte eine Frau Jennsen mit kühlem Blick aus den Augenwinkeln. Sie war mittleren Alters, breitschultrig und trug ein schlichtes dunkelgraues, bis zum Hals geschlossenes Kleid; ihr grauschwarz-meliertes Haar hatte sie locker nach hinten gebunden. Im Großen und Ganzen wirkte sie unauffällig, wäre da nicht dieses durchtriebene, selbstzufriedene Schmunzeln gewesen, das sich für immer in ihr Gesicht eingegraben zu haben schien. Der Blick ließ Jennsen stutzig werden.

Als sich ihre Augen begegneten, regte sich plötzlich die Stimme, rief Jennsens Namen in ihrem gespenstischen, leblosen Flüsterton und forderte sie auf, sich hinzugeben. Aus irgendeinem Grund durchlief Jennsen für einen Augenblick eine eiskalte Ahnung, Diese Frau wußte, daß die Stimme gesprochen hatte! Jennsen verwarf jedoch den sonderbaren Gedanken und beschloß, ihn allein auf ihren Gesichtsausdruck zurückzuführen, der ein Gefühl absoluter Überlegenheit ausstrahlte.

Eine andere Frau war damit beschäftigt, die Teppiche mit einem Kleiderbesen abzubürsten; wieder eine andere wechselte tropfende Kerzen aus. Weitere Frauen – einige von ihnen zweifellos Schwestern des Lichts – liefen geschäftig zwischen diesem Raum und den dahinter liegenden Gemächern hin und her und kümmerten sich um die Unmengen von Kissen, Lampen, Vasen mit Blumen. Ein schmächtiger junger Mann, bekleidet nur mit einer baumwollenen Pluderhose, war damit beschäftigt, die Fransen der Teppiche vor den Durchgängen in die hinteren Gemächer mit einem Kamm zu ordnen. Bis auf die braunäugige Frau, die gerade die hohen Vasen polierte, waren alle ganz auf ihre Arbeit konzentriert, und keine von ihnen nahm besondere Notiz von den Besuchern, die soeben das kaiserliche Zelt betreten hatten.

Nahe der Rückwand des Raumes stand ein kunstvoll geschnitzter und vergoldeter, mit roten Seidenstoffen drapierter Sessel. Jennsen mußte schlucken, als sie sich endlich überwand, den Mann anzusehen, der darauf saß, den Ellbogen auf der Armlehne des Sessels, das Kinn auf Daumen und Zeigefinger gestützt.

Ein stiernackiger Bulle von einem Mann. Der flackernde Schein der Kerzen, der sich auf seinem kahl rasierten Schädel widerspiegelte, verstärkte die Illusion, daß er eine Krone aus winzigen Flammen trug. Zwei lange, dünne Schnurrbärte sprossen an den Winkeln seines Mundes, ein weiterer Zopf wuchs ihm aus der Mitte seines Kinns. Feine Goldkettchen verbanden die güldenen Ringe an der Außenseite seines linken Nasenlochs und an seinem Ohr, während sich eine Ansammlung sehr viel schwererer, juwelenbesetzter Ketten in den tiefen Einschnitt zwischen seinen hervortretenden Brustmuskeln schmiegten. Jeder seiner fleischigen Finger war mit einem breiten Ring geschmückt. Die Fellweste, die er trug, war ärmellos, so daß man seine kräftigen Arme und massigen Schultern sah. Er wirkte nicht gerade groß, aber deswegen war sein muskelbepackter massiger Körper nicht weniger beeindruckend.

Seine Augen jedoch waren es, die ihr, trotz Sebastians warnender Schilderung, den Atem verschlugen, denn keine noch so eindringlichen Worte hätten sie auf diese Begegnung vorbereiten können.

Seine trüben Augen hatten überhaupt kein Weiß, weder Iris noch Pupillen, so daß man nur in zwei glänzende, dunkle leere Höhlen blickte. In diesen düsteren Höhlen aber trieben dämmrige Schatten. Trotz des Fehlens von Iris und Pupillen war ihr jenseits allen Zweifels klar, daß er sie direkt und durchdringend ansah.

Als er sie anlächelte, war Jennsen sicher, daß ihre Knie unter ihr nachgaben.

Sebastians Arm faßte sie fester und half ihr sich aufrecht zu halten. Er deutete eine Verbeugung aus der Hüfte an.

»Mein Kaiser, ich danke dem Schöpfer, daß er über Euch und Eure Sicherheit gewacht hat.«

Das Lächeln wurde breiter. »Und über Euch, Sebastian.« Seine Stimme, heiser, kraftvoll und bedrohlich, entsprach voll und ganz seiner äußeren Erscheinung. »Es ist lange her, viel zu lange. Ich bin erfreut, Euch wieder bei mir zu wissen.«

Sebastian wies mit einem Neigen seines Kopfes auf Jennsen. »Exzellenz, ich habe einen wichtigen Gast mitgebracht. Dies ist Jennsen.«

Obwohl Sebastian ihr seinen Arm um die Hüfte gelegt hatte, um sie zu stützen, wand sie sich heraus und ließ sich freiwillig auf die Knie sinken. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Stirn fast den Boden berührte. Sebastian hatte ihr nicht erklärt, daß sie dies tun solle, aber ihr überwältigendes Angstgefühl schien ihr genau dies vorzuschreiben. Außerdem erlöste es sie für einen kurzen Augenblick aus der Pflicht, in diese alptraumhaften Augen zu sehen.

»Euer Exzellenz«, sprach sie mit bebender Stimme, »ich stehe Euch zu Diensten.«

Sie hörte schallendes Gelächter. »Komm schon, Jennsen, das ist nun wirklich nicht nötig.«

Jennsen spürte, wie ihr Gesicht tiefrot anlief, als sie sich auf Sebastians belustigtes Drängen hin mit seiner Hilfe erhob. Doch weder der Kaiser noch er nahmen Notiz von ihrer Verlegenheit.

»Wo in aller Welt habt Ihr nur eine so bezaubernde Frau aufgetrieben, Sebastian?«

Sebastian betrachtete sie voller Stolz. »Das ist eine lange Geschichte, die ich Euch ein andermal erzählen werde, Euer Exzellenz. Im Augenblick müßt Ihr nur wissen, daß Jennsen einen wichtigen Entschluß gefaßt hat, der sich auf unser aller Dasein auswirken wird.«

Jagangs trüber Blick wanderte zurück zu Jennsen. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen; es war das nachsichtig herablassende Schmunzeln eines Kaisers für einen gewöhnlichen, unbedeutenden Menschen.

»Und welcher Entschluß, mein junges Fräulein, wäre das?«

Jennsen.

Das Bild ihrer Mutter, wie sie blutend und dem Tode nahe auf dem Fußboden ihres Hauses lag, schoß Jennsen durch den Kopf. Sie würde die letzten, kostbaren Augenblicke im Leben ihrer Mutter nie vergessen.

Jennsen.

Schließlich übermannte sie die Wut, und jegliche Nervosität, auf die Frage des Kaisers zu antworten, fiel von ihr ab.

»Ich habe mich entschlossen, Lord Rahl zu töten«, erklärte Jennsen. »Und ich bin gekommen, um Eure Hilfe dabei zu erbitten.«

In der darauf folgenden, totenähnlichen Stille wich jede Spur von Heiterkeit aus Kaiser Jagangs Gesicht. Er betrachtete sie aus kalten, dunklen, gnadenlosen Augen, während sein Gesicht einen warnenden Zug annahm. Dies war unzweifelhaft ein Thema, das keinerlei Humor vertrug. Lord Rahl war in die Heimat dieses Mannes eingefallen, hatte Tausende und Abertausende seiner Untertanen abgeschlachtet und die ganze Welt mit Krieg und Leid überzogen.

Kaiser Jagang der Gerechte wartete, seine Kiefermuskeln aufs Äußerste angespannt; ganz offensichtlich erwartete er eine nähere Erläuterung von ihr.

»Ich bin Jennsen Rahl«, antwortete sie auf seinen finsteren fragenden Blick. Sie zog ihr Messer, faßte es mit absolut ruhiger Hand bei der Klinge und hielt es ihm entgegen, um ihm den verzierten Buchstaben »R« zu zeigen.

»Ich bin Jennsen Rahl«, wiederholte sie, »Richard Rahls Schwester, und ich habe mich entschlossen, ihn zu töten. Sebastian erzählte mir, Ihr könntet mir bei diesem Vorhaben vielleicht behilflich sein. Falls ja, stünde ich auf ewig in Eurer Schuld. Falls nein, dann sagt es bitte gleich; an meinem Entschluß würde es nichts ändern, aber ich müßte mich umgehend wieder auf den Weg machen.«

Die Ellbogen auf den Armlehnen seines mit roter Seide drapierten Throns, beugte er sich zu ihr vor und hielt sie mit seinem alptraumhaften Blick gefangen.

»Meine liebe Jennsen Rahl, Schwester des Richard Rahl, für eine so schwierige Tat würde ich Euch die Welt zu Füßen legen. Ihr braucht nur zu fragen, und was immer in meiner Macht steht, werdet Ihr bekommen.«

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