37

Oba beobachtete das aus Zedernstämmen gezimmerte, hinter dichtem Gestrüpp und Bäumen verborgene Blockhaus durch den gemächlich fallenden Regen aus einiger Entfernung, konnte in seiner Nähe aber niemanden entdecken. Allerdings hatte er Fußspuren gesehen, die Stiefelabdrücke eines einzelnen Mannes, die um das Ufer des kleinen Sees herumliefen. Die Spuren waren nicht frisch gewesen, hatten Oba aber über einen Pfad zum Haus geführt. Aus dem Schornstein stieg träge kräuselnder Rauch in die stehende, feuchte Luft.

Das beinahe vollständig hinter Kletterpflanzen und Moosranken verborgene Haus weiter vorn mußte das Heim der Hexenmeisterin sein. Niemand sonst wäre so dumm, sich an einem so abscheulichen Ort niederzulassen.

Leichtfüßig schlich Oba über die hintere Treppe auf die schmale Veranda. Nach vorn raus, auf der anderen Seite, stützten aus dicken Stämmen gemachte Säulen ein tief heruntergezogenes, überstehendes Dach. Jenseits der breiten Vordertreppe begann ein breiter Fußpfad – zweifellos der Weg, auf dem sich ängstliche Naturen zur Hexenmeisterin begaben, um von ihr eine Weissagung zu erbitten.

Ungehalten und nicht länger bereit, den Schein der Höflichkeit zu wahren und anzuklopfen, stieß Oba die Tür auf. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Da es nur dieses Feuer und zwei kleine Fenster gab, herrschte im Haus ein ziemlich schummriges Licht. Die Wände waren mit pedantisch genauen Schnitzereien, meist von Tieren, übersät, manche naturbelassen, andere bemalt oder vergoldet. Sie entsprachen kaum Obas Art, Tieren mit dem Messer beizukommen. Das Mobiliar war besser als alles, womit er aufgewachsen war.

In einem reich verzierten Sessel – dem besten Möbelstück – in der Nähe des Kamins saß, wie eine Königin auf ihrem Thron, eine Frau mit großen, dunklen Augen und musterte ihn über den Rand einer Tasse hinweg, an der sie gerade nippte. Obwohl sie ihr langes, goldenes Haar anders trug und sie nicht diesen unheimlichen, strengen Ausdruck im Gesicht hatte, erkannte Oba ihre Züge sofort wieder. Ein Blick in ihre Augen räumte jeden Zweifel aus: Dies war Latheas Schwester.

Augen – auch ein Punkt auf den Listen, die er in seinem Kopf angelegt hatte.

»Ich bin Althea«, sagte sie und setzte die Tasse von ihren Lippen ab.

Ihre Stimme klang vollkommen anders als die ihrer Schwester. Obwohl sie wie Lathea ein Gefühl von Autorität vermittelte; fehlte ihr die typische Überheblichkeit, die normalerweise damit einherging. Sie stand nicht auf. »Ich fürchte, du bist viel früher eingetroffen, als ich erwartet hatte.«

Um jede mögliche Gefahr bereits im Keim zu ersticken, ignorierte Oba sie, ging mit schnellen Schritten zu den nach hinten hinaus gelegenen Zimmern und warf einen Blick in das erste, in dem er eine Werkbank sah. Clovis hatte ihm erzählt, daß Althea einen Ehemann namens Friedrich habe, und natürlich waren draußen die Abdrücke von Männerstiefeln zu sehen gewesen. Meißel, Messer und Holzschlegel lagen fein säuberlich sortiert darauf; in den richtigen Händen konnte jedes einzelne dieser Werkzeuge eine tödliche Waffe sein. Die Werkbank verströmte eine Atmosphäre von Aufgeräumtheit; als hätte jemand seine Arbeit für längere Zeit unterbrochen.

»Mein Mann ist zum Palast gegangen«, rief sie von ihrem Sessel am Kamin aus. »Wir sind allein.«

Er vergewisserte sich trotzdem noch einmal selbst, warf einen Blick ins Schlafzimmer und fand es leer. Sie hatte offensichtlich die Wahrheit gesagt. Bis auf das Tröpfeln des Regens auf dem Dach war es vollkommen still im Haus. Die beiden waren tatsächlich allein.

Endlich überzeugt, daß sie nicht gestört werden würden, kehrte er in das eigentliche Wohnzimmer zurück. Sie beobachtete, wie er auf sie zuging, weder lächelnd noch mißbilligend und offenbar vollkommen ruhig. Hätte sie nur einen Funken Verstand besessen, fand Oba, hätte sie wenigstens ein bißchen unruhig werden müssen. Wenn überhaupt, dann wirkte sie eher resigniert oder auch nur schläfrig. Der Sumpf mit seiner drückenden, feuchten Luft konnte einen ohne Zweifel träge machen.

Unweit ihres Sessels, etwas seitlich auf dem Fußboden, befand sich ein quadratisches Brett mit einem kunstvoll vergoldeten Symbol darauf. Es erinnerte ihn an etwas auf seinen Listen. Am Rand des Brettes lag ein Häufchen kleiner, abgewetzter dunkler Steine, vor ihren Füßen ein rotgoldenes Kissen.

Oba zögerte, als er plötzlich die Verbindung zwischen einem Gegenstand auf seinen Listen und dem vergoldeten Symbol auf dem Fußboden herstellte. Das Symbol erinnerte ihn an den getrockneten unteren Teil einer Bergfieberrose – eines jener Kräuter, die Lathea stets seiner Medizin beimischte. Die meisten ihrer Kräuter waren bereits vorher zerstoßen, dieses dagegen nie. Meist hatte sie eine einzige dieser getrockneten Blumen zerdrückt, unmittelbar bevor sie sie seiner Medizin beigab. Eine so verdächtige Verbindung konnte nur ein Anzeichen drohender Gefahr sein. Er hatte Recht gehabt; die Hexenmeisterin war tatsächlich so gefährlich, wie er immer befürchtet hatte.

Mit geballten Fäusten baute Oba sich vor ihr auf und funkelte sie wütend an.

»Bei den Gütigen Seelen«, sagte sie leise bei sich, »und ich hatte schon gehofft, nie wieder in diese Augen blicken zu müssen.«

»Was für Augen?«

»Die Augen Darken Rahls«, antwortete sie. In ihrer Stimme schwang, ganz leise und entfernt, ein gewisser Unterton mit, vielleicht von Bedauern, vielleicht von Hoffnungslosigkeit, vielleicht sogar von blankem Entsetzen.

»Darken Rahls Augen.« Oba konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Sehr großmütig von Euch, daß Ihr davon sprecht.«

Auf ihrem Gesicht war nicht der Hauch eines Lächelns zu bemerken. »Es war nicht als Kompliment gedacht.«

Obas Lächeln gefror.

Er war nur gelinde überrascht angesichts ihrer Kenntnis, daß er Darken Rahls Sohn war, schließlich war sie eine Hexenmeisterin – und außerdem Latheas Schwester. Wer wußte schon, was dieses ekelhafte Weibsstück in ihrem ewigen Grab in der Welt der Toten alles herumerzählt hatte.

»Du bist der Mann, der Lathea ermordet hat.«

Ihre Bemerkung war weniger eine Frage als vielmehr ein Urteilsspruch. Seine Unbesiegbarkeit hatte ihm Selbstvertrauen eingeflößt, dennoch blieb Oba auf der Hut. Er hatte die Hexenmeisterin Lathea sein Leben lang gefürchtet, und doch hatte sie sich am Ende als längst nicht so übermächtig herausgestellt, wie er stets angenommen hatte.

Aber dieser Frau konnte Lathea nicht das Wasser reichen, in keiner Wei se.

Statt auf ihre Beschuldigung einzugehen, stellte Oba selbst eine Frage.

»Eine Lücke in der Welt, was ist das eigentlich?«

Sie lächelte still bei sich, dann bot sie ihm an, Platz zu nehmen. »Möchtest du dich nicht setzen und einen Tee mit mir trinken?«

Oba nahm an, daß er die Zeit erübrigen konnte. Der Augenblick, da er mit ihr machen konnte, was er wollte, würde schon noch kommen – dessen war er völlig sicher. Es gab keinen Grund, die Dinge zu überstürzen. In gewisser Weise fand er sein etwas übereiltes Vorgehen bei Lathea bedauerlich, denn er hatte nicht daran gedacht, sich erst alle Antworten zu beschaffen. Aber vorbei war vorbei.

Althea aber würde ihm alle seine Fragen beantworten; er würde sich Zeit nehmen und in diesem Punkt ganz sichergehen. Sie würde ihm jede Menge neuer Dinge beibringen, bevor sie miteinander fertig waren. Ein so lang ersehnter Genuß sollte ausgekostet, nicht überhastet werden. Vorsichtig ließ er sich in den Sessel sinken. Auf dem schlichten kleinen Tischchen zwischen den beiden Sesseln stand eine Teekanne, jedoch keine zweite Tasse.

»Oh, Verzeihung«, meinte sie, als sie seinen suchenden Blick bemerkte und sah, daß etwas fehlte. »Geh bitte zum Schrank hinüber und hol dir eine Tasse, ja?«

»Ihr seid doch die Gastgeberin, wieso holt Ihr sie nicht selbst?«

Sie strich mit ihren schlanken Fingern über die verschnörkelten Enden an den Armlehnen ihres Sessels. »Ich fürchte, ich bin ein Krüppel, denn ich kann nicht laufen. Ich kann meine nutzlosen Beine nur im Haus hinter mir herschleifen und gerade mal die einfachsten Dinge für mich selber erledigen.«

Oba starrte sie an, unsicher, ob er ihr glauben sollte. Sie war schweißgebadet – das mußte doch etwas zu bedeuten haben. Zweifellos machte ihr die Gegenwart eines Mannes, der mächtig genug war, ihre Schwester umzubringen, eine Heidenangst, vielleicht versuchte sie aber auch nur, ihn abzulenken, in der Hoffnung, Reißaus nehmen zu können, sobald er ihr den Rücken zukehrte.

Althea faßte ihren Rock mit Daumen und Zeigefinger und hob den Saum geziert ein wenig an, so daß er ihre Knie und noch etwas mehr erkennen konnte. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können. Ihre Beine waren verstümmelt und welk; der Anblick faszinierte Oba.

Althea zog eine Braue hoch. »Verkrüppelt, wie ich bereits sagte.«

»Wie ist das passiert?«

»Das ist das Werk deines Vaters.«

Also, wenn das keine Überraschung war.

Zum allerersten Mal fühlte sich Oba auf eine geradezu greifbare Weise mit seinem Vater verbunden.

Er hatte einen anstrengenden und unangenehmen Vormittag hinter sich und fühlte sich berechtigt, in aller Ruhe eine Tasse Tee zu trinken, ja, er fand den Gedanken geradezu aufreizend. Was er mit ihr vorhatte, würde eine schweißtreibende Angelegenheit werden. Oba ging quer durch das Zimmer und nahm sich die Größte aus der Reihe von Tassen, die er auf einem Regal entdeckte. Kaum hatte er sie auf den Tisch gestellt, füllte sie sie mit dunklem Tee.

»Es ist ein ganz besonderer Tee«, erklärte sie, als sie den fragenden Ausdruck in seinem Gesicht sah. »Hier im Sumpf kann es aufgrund von Hitze und Feuchtigkeit schrecklich unangenehm werden; im Übrigen hilft er, nach den Mühen eines anstrengenden Vormittags wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Unter anderem vertreibt er die Müdigkeit aus den erschöpften Muskeln – nach einem langen Fußmarsch zum Beispiel.«

Sein anstrengender Vormittag hatte ihm hämmernde Kopfschmerzen beschert. Und obwohl seine Kleider nach seinem Bad längst wieder trocken und das Blut gänzlich abgewaschen war, fragte er sich, ob sie vielleicht irgendwie ahnte, welch nervenaufreibende Qualen er durchlitten hatte. Unmöglich zu sagen, zu was diese Frau fähig war; aber Sorgen machte er sich deswegen nicht. Schließlich war er unbesiegbar, wie Latheas Ende bewiesen hatte.

»Gegen all das hilft Euer Tee?«

»Aber ja. Es ist ein sehr wirksames Stärkungsmittel, das zahllose Probleme kuriert. Du wirst es selbst erleben.«

Oba bemerkte, daß sie von demselben starken Tee trank und stark schwitzte; in diesem Punkt hatte sie vermutlich also die Wahrheit gesagt. Nachdem sie den kleinen Rest in ihrer Tasse getrunken hatte, schenkte sie sich sogleich nach.

Sie erhob ihre Tasse zu einem Trinkspruch. »Auf das gute Leben, solange wir es noch genießen können.«

Oba fand den Trinkspruch ein bißchen seltsam. Er klang fast, als wollte sie damit zugeben, daß sie von ihrem nahen Ende wußte.

»Auf das Leben«, sagte Oba und hob seine Tasse. »Solange wir es noch genießen können.«

Oba nahm einen kräftigen Schluck Tee und verzog das Gesicht, als er den Geschmack wiedererkannte. Er schmeckte nach der Pflanze, die die Zeichnung auf dem Brett symbolisierte – nach Bergfieberrose.

»Trink aus«, forderte ihn sein Gegenüber auf. Ihr Atem wirkte schleppend. Sie nahm ein paar kräftige Schlucke. »Wie gesagt, er wird eine Menge Probleme lösen.« Sie leerte ihre Tasse.

Oba wußte, daß Lathea, trotz ihrer gelegentlichen Anwandlungen von Gehässigkeit, manchmal Arzneien zusammenrührte, mit denen sie Kranken half. Und jetzt schüttete Althea das Zeug tassenweise in sich hinein, offenbar vertraute sie also ebenfalls auf das widerlich schmeckende Kraut. Trotz des bitteren Geschmacks nahm er noch einen Schluck in der Hoffnung, er werde die Müdigkeit aus seinen Muskeln und den Druck aus seinem Kopf vertreiben.

»Ich hätte ein paar Fragen.«

»Das sagtest du bereits«, erwiderte Althea und musterte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg. »Und du erwartest, daß ich dir die Antworten darauf gebe.«

»So ist es.«

Oba trank noch einen Schluck des starken Tees. Wieder verzog er das Gesicht. Er hatte wirklich keine Ahnung, warum die Frau das Zeug als »Tee« bezeichnete, denn es hatte mit Tee nichts gemein, war nichts weiter als zerstoßene Bergfieberrose, aufgelöst in ein wenig heißem Wasser. Als er die große Tasse auf dem Tisch abstellte, folgte sie seinen Bewegungen mit finsterem Blick.

Mittlerweile hatte der Wind aufgefrischt und peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben. Oba fand, daß er das Haus genau im richtigen Augenblick erreicht hatte. Dieser ekelhafte Sumpf. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Hexenmeisterin zu.

»Ich will wissen, was das ist, eine Lücke in der Welt. Eure Schwester meinte, Ihr könntet diese Lücken in der Welt erkennen.«

»Hat sie das, ja? Ich wüßte wirklich nicht, warum sie so etwas sagen sollte.«

»Ich mußte ein wenig nachhelfen«, erklärte Oba. »Was meint Ihr, werde ich Euch auch überreden müssen?«

Hoffentlich. Die Aussicht, endlich mit der Klinge ans Werk gehen zu können, machte ihn schon ganz ungeduldig. Aber er hatte es nicht eilig, er hatte Zeit. Er genoß es, mit den Lebenden seine Spielchen zu treiben. Es half ihm, ihre Denkweise zu verstehen, so daß er, wenn der Augenblick gekommen war und er ihnen in die Augen schaute, sich ihre Gedanken im Angesicht des nahen Todes besser vorstellen konnte.

Althea wies mit dem Kopf auf das Tischchen zwischen ihnen. »Der Tee nützt nichts, wenn man ihn nicht in ausreichend großen Mengen zu sich nimmt. Trink aus.«

Oba tat ihre Sorge mit einer Handbewegung ab und beugte sich, auf einen Ellbogen gestützt, naher zu ihr hin. »Ich habe eine weite Reise hinter mir. Beantwortet mir endlich meine Fragen.«

Schließlich wandte Althea ihre Augen unter seinem stechenden Blick ab und hievte ihr Gewicht unter Zuhilfenahme ihrer Arme aus dem Sessel hinunter auf den Boden – ein ziemlich mühseliges Unterfangen. Die Hexenmeisterin zog sich auf das rotgoldene Kissen, brachte sich in eine aufrecht sitzende Stellung und legte ihre leblosen Beine vor ihrem Körper übereinander. Einfach war es nicht aber mit Hilfe präziser, effektiver Bewegungen, die gut einstudiert wirkten, gelang es ihr.

Die Plackerei schien Oba zu verwirren. »Wieso benutzt Ihr nicht Eure Magie?«

Sie maß ihn mit ihren großen, dunklen Augen, aus denen nichts als stumme Mißbilligung sprach. »Dein Vater hat mit meiner Magie dasselbe gemacht wie mit meinen Beinen.«

Oba war verblüfft. Er fragte sich, ob sein Vater ebenfalls unbesiegbar gewesen war. Vielleicht war Oba schon immer dazu ausersehen, das wahre Erbe seines Vaters anzutreten. Vielleicht hatte das Schicksal endlich ein Einsehen gehabt und Oba für Höheres gerettet.

»Soll das heißen, Ihr seid eine Hexenmeisterin, könnt aber keine Magie wirken?«

Ein ferner Donner rollte über das Sumpfgebiet hinweg, als sie auf einen Platz auf dem Fußboden wies. Während Oba sich vor ihr niederließ, zog sie das Brett mit dem vergoldeten Symbol zu sich heran und plazierte es zwischen ihnen.

»Man hat mir nur jenen Teil meiner Talente gelassen, der es mir ermöglicht; Weissagungen zu machen«, erklärte sie. »Sonst nichts. Wenn du wolltest, könntest du mich mit einer Hand erwürgen, während du mit der anderen deinen Tee austrinkst. Ich könnte nicht das Geringste dagegen tun.«

In Obas Augen würde das den Spaß beträchtlich mindern, schließlich war das Abmühen, der Kampf, das sich Wehren Teil jeder wirklich befriedigenden Auseinandersetzung. Aber wie heftig vermochte sich eine alte, verkrüppelte Frau schon zu wehren? Wenigstens waren da noch die Todesangst, die Qualen und der Augenblick des Todes, auf die er sich freuen konnte.

»Aber Prophezeiungen könnt Ihr doch noch abgeben? Deshalb wußtet Ihr doch überhaupt, daß ich auf dem Weg hierher war?«

»So könnte man sagen.« Sie seufzte schwer, so als hätte die Anstrengung, sich bis auf das rotgoldene Kissen zu schleppen, sie völlig erschöpft. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem vor ihr liegenden Brett zuwandte, schien die Mattigkeit von ihr abzufallen.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Sie schlug jetzt einen vertraulichen Tonfall an. »Vielleicht werden dir dadurch endlich ein paar Dinge klar.«

Erwartungsvoll beugte er sich vor, froh, daß sie endlich Vernunft angenommen und sich dazu durchgerungen hatte, ein paar Geheimnisse preiszugeben. Oba lernte gern etwas Neues hinzu.

Er beobachtete, wie sie in ihrem Häuflein Steine herumsuchte und mehrere von ihnen genau prüfte, bevor sie den richtigen gefunden hatte. Die Übrigen legte sie in einer offenbar für sie verständlichen Ordnung zur Seite, obwohl er fand, daß sie alle gleich aussahen.

Sie drehte sich wieder zu ihm herum und hielt ihm den einen Stein vors Gesicht. »Das bist du«, sagte sie.

»Ich? Was soll das heißen?«

»Dieser Stein repräsentiert dich.«

»Wieso?«

»Weil er sich so entschieden hat.«

»Ihr wollt sagen, Ihr habt entschieden, daß er mich darstellen soll.«

»Nein. Ich will damit sagen, daß der Stein sich entschieden hat, dich zu repräsentieren – oder vielmehr, die Kräfte, die den Stein kontrollieren, haben so entschieden.«

»Und welche Kräfte kontrollieren die Steine?«

Zu seiner Überraschung sah er, wie ein Lächeln über Altheas Gesicht ging, das sich zu einem gefährlichen Grinsen auswuchs. Nicht einmal Lathea hatte es geschafft, so böse auszusehen.

»Die Magie«, zischte sie.

Oba mußte sich ermahnen, daß er unbesiegbar war; gestikulierend versuchte er, sich den Anschein von Unbekümmertheit zu geben.

»Was ist mit den anderen? Wer sind dann sie?«

»Ich dachte, du wolltest etwas über dich erfahren, nicht über andere.« Mit einem Ausdruck größter Selbstgewißheit beugte sie sich zu ihm hin. »Andere Menschen interessieren dich doch überhaupt nicht, hab ich Recht?«

Oba begegnete ihrem vertraulichen Lächeln mit stechendem Blick. »Schätze, nein.«

Sie schüttelte den einzelnen Stein in ihrer leicht geschlossenen Hand. Ohne den Blick von seinen Augen abzuwenden, warf sie den Stein über das Brett. Ein Blitz flackerte. Der Stein holperte über das Brett und blieb jenseits des äußeren vergoldeten Kreises liegen. In der Ferne krachte ein Donner.

»Und«, fragte er, »was bedeutet das jetzt?«

Statt seine Frage zu beantworten, nahm sie den Stein ohne hinzusehen wieder auf. Ihr Blick blieb fest auf sein Gesicht geheftet, während sie den Stein erneut schüttelte. Wieder warf sie ihn wortlos über das Brett. Ein Blitz zuckte. Erstaunlicherweise kam der Stein an derselben Stelle zur Ruhe wie beim ersten Mal – nicht nur in der Nähe derselben Stelle, sondern exakt auf demselben Punkt. Regen trommelte aufs Dach, während ein anhaltender, krachender Donner über das Sumpfgebiet hinweg rollte.

Blitzschnell nahm Althea den Stein erneut auf und warf ihn ein drittes Mal, wiederum begleitet vom Zucken eines Blitzes, nur daß die gleißende Helligkeit diesmal näher war. Oba benetzte sich die Lippen und wartete gespannt den Fall des ihn repräsentierenden Steins ab.

Eine Gänsehaut überlief seine Arme, als er den dunklen, kleinen Stein exakt an derselben Stelle wie die beiden Male zuvor liegen bleiben sah. Er war kaum ausgerollt, als bereits ein Donner krachte.

Oba legte die Hände auf die Knie und lehnte sich zurück. »Das ist ein Trick.«

»Nein, kein Trick«, meinte sie. »Das ist Magie.«

»Ich dachte, Ihr könntet keine Magie mehr bewirken.«

»Kann ich auch nicht.«

»Und wie macht Ihr es dann?«

»Wie ich schon sagte, ich mache es nicht. Die Steine tun es ganz von selbst.«

»Na schön, und was soll das jetzt über mich aussagen, daß er immer an derselben Stelle liegen bleibt?«

Ihm fiel auf, daß sie irgendwann aufgehört hatte zu lächeln. Mit einem vom Schein des Feuers angestrahlten Finger zeigte sie auf die Stelle, wo sein Stein lag.

»Diese Stelle repräsentiert die Unterwelt«, erklärte sie mitleidlos. »Die Welt der Toten.«

Oba versuchte so zu tun, als interessiere ihn das bestenfalls am Rande. »Und was hat das mit mir zu tun?«

Ihre großen, dunklen Augen bohrten sich weiter unbeirrt bis in die Tiefen seiner Seele. »Von dort kommt die Stimme, Oba.«

Eine Gänsehaut überlief seine Arme. »Woher wißt Ihr meinen Namen?«

Sie neigte ihren Kopf zur Seite, so daß eine Gesichtshälfte in tiefe Schatten getaucht wurde. »Ich habe einmal, vor langer Zeit, einen Fehler gemacht.«

»Was denn für einen Fehler?«

»Ich habe geholfen, dein Leben zu retten. Ich habe deiner Mutter geholfen, dich aus dem Palast zu schaffen, bevor Darken Rahl von deiner Existenz erfahren und dich töten konnte.«

»Ihr lügt!« Oba klaubte den Stein vom Brett. »Ich bin sein Sohn! Warum hätte er mich töten sollen?«

Ihr durchdringender Blick war noch immer auf ihn gerichtet. »Vielleicht weil er wußte, daß du auf die Stimmen hören würdest, Oba.«

Am liebsten hätte Oba ihr diese fürchterlichen Augen ausgestochen. Er nahm es sich ganz fest vor. Zunächst jedoch hielt er es für das Sinnvollste, noch mehr in Erfahrung zu bringen, vorausgesetzt er schaffte es, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen.

»Ihr wart mit meiner Mutter befreundet?«

»Nein. Ich kannte sie eigentlich kaum, Lathea kannte sie viel besser. Deine Mutter war nur eins von vielen jungen Dingern, die in Schwierigkeiten steckten und sich in große Gefahr gebracht hatten. Ich habe ihnen damals geholfen, weiter nichts. Dafür hat Darken Rahl mich zum Krüppel gemacht. Solltest du es vorziehen, seine wahren Absichten dich betreffend nicht zu glauben, so steht es dir frei, dir nach eigenem Gutdünken eine andere Antwort darauf auszudenken.«

Oba ließ sich ihre Erwiderung durch den Kopf gehen und prüfte sie auf irgendwelche Verbindungen zu den Dingen auf seinen Listen. Auf Anhieb vermochte er keine zu erkennen.

»Ihr und Lathea habt den Kindern Darken Rahls geholfen?«

»Meine Schwester und ich standen uns damals sehr nahe. Wir beide hatten es uns, jede auf ihre Art, zur Aufgabe gemacht, Menschen in Not zu helfen. Doch dann begann sie dich und deinesgleichen, die Nachkommen des Lord Rahl, zu verabscheuen, weil ich für den Versuch, Euch zu helfen, solche Qualen erleiden mußte. Sie ertrug es nicht länger, Zeugin meiner Strafe und meines Leids zu sein. Also ging sie fort.

Das war eine Schwäche von ihr, aber ich wußte, diesen Gefühlen stand sie machtlos gegenüber. Ich liebte sie, also unterließ ich es, sie zu bitten, mich hier – in diesem Zustand – zu besuchen, so sehr ich sie auch vermißte. Ich habe sie nie wieder gesehen. Es war der einzige Liebesdienst, den ich ihr erweisen konnte – sie weggehen zu lassen. Ich könnte mir denken, daß sie keine gute Meinung von dir hatte.«

Oba war nicht gewillt, sich Mitleid für dieses verhaßte Weibsstück einreden zu lassen. Er untersuchte den dunklen Stein einen Augenblick, ehe er ihn Althea zurückgab.

»Die drei Würfe waren purer Zufall. Versucht es noch mal.«

»Du würdest mir nicht mal glauben, wenn ich es hundertmal probierte.« Sie gab ihm den Stein zurück. »Versuch du es. Wirf ihn selbst.«

Oba schüttelte den Stein trotzig in seiner geschlossenen Hand, wie er es bei ihr gesehen hatte. Sie ließ sich gegen ihren Sessel zurücksinken, wahrend sie ihn beobachtete. Ihre Augen wurden schläfrig.

Oba schmiß den Stein so schwungvoll auf das Brett, daß er sicher war, er würde über das Brett hinausrollen und sie widerlegen. Als der Stein seine Hand verließ, zuckte ein so gleißend heller Blitz, daß er zusammenzuckte und aus Angst, er könnte in das Dach einschlagen, hochsah. Unmittelbar darauf folgte ein krachender Donner, der das Haus erzittern ließ. Der Knall fuhr ihm durch Mark und Bein. Aber dann war es vorbei, und das einzige Geräusch war wieder der auf das unversehrte Dach und gegen die Fensterscheiben trommelnde Regen.

Erleichtert grinsend blickte Oba auf das Brett, nur um den vermaledeiten Stein in exakt derselben Position vorzufinden wie auch schon die drei Male davor.

Er zuckte wie von der Schlange gebissen zusammen und wischte sich seine schweißnassen Hände an den Oberschenkeln ab.

»Das ist ein Trick«, stammelte er. »Es ist bloß ein Trick. Ihr seid eine Hexenmeisterin, und Ihr vollführt bloß irgendwelche magischen Tricks.«

»Du bist es, der den Trick vollführt hat, Oba. Du bist es, der seine Boshaftigkeit in deine Seele hineingelassen hat.«

»Und wenn schon!«

Sein Geständnis ließ sie schmunzeln. »Du hörst vielleicht auf die Stimme, Oba, aber du bist nicht er. Du bist nur sein Diener, weiter nichts. Er wird einen anderen auswählen müssen, wenn er die Welt mit Bosheit überziehen will.«

»Ihr wißt doch gar nicht, was Ihr da redet!«

»O doch, das tue ich. Du bist vielleicht eine Lücke in der Welt, aber dir fehlt eine wichtige Zutat.«

»Und was sollte das sein?«

»Grushdeva.«

Oba spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufstellten. Zwar erkannte er dieses eine spezielle Wort nicht wieder, seine Herkunft war dennoch unbestreitbar. Seinem unverwechselbaren Wesen nach konnte dieses Wort nur zu der Stimme gehören.

»Ein sinnloses Wort, das keinerlei Bedeutung hat.«

Sie maß ihn einen Moment mit einem Blick, der ihm Angst einflößte, weil eine ganze Welt verbotenen Wissens darin enthalten schien. Der Zug eiserner Entschlossenheit um ihre Augen sagte ihm, daß er allein mit einer Messerklinge dieses Wissen niemals würde erlangen können.

»Vor langer Zeit, an einem weit entfernten Ort«, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, »brachte mir eine andere Hexenmeisterin einige Brocken der Sprache des Hüters bei. Dies ist eines seiner Worte, das seiner alten, ursprünglichen Sprache entstammt. Du hättest es niemals gehört, wenn du nicht einer der Richtigen warst. Grushdeva. Es bedeutet ›Rache‹. Du bist aber deshalb noch lange nicht der von ihm Auserwählte.«

Oba glaubte, sie wollte sich über ihn lustig machen. »Ihr wißt doch gar nicht, welche Worte ich gehört habe, noch sonst irgendwas. Ich bin der Sohn Darken Rahls und somit einer seiner rechtmäßigen Erben. Woher wollt Ihr wissen, was ich höre? Ich werde über Macht verfügen, von der Ihr nur träumen könnt.«

»Man verwirkt seinen freien Willen, wenn man sich mit dem Hüter einläßt. Du hast ein nur dir allein gehörendes Gut von unschätzbarem Wert für ... für nichts als ein paar wertlose Brocken verschleudert. Du hast dich in die schlimmste Form der Sklaverei verkauft. Oba, für nicht mehr als die Illusion des Glaubens, etwas wert zu sein. Du hast keinen Einfluß auf das, was geschehen wird. Du bist nicht der Auserwählte. Es ist ein anderer.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Frage muß jedoch erst noch entschieden werden.«

»Und jetzt erdreistet Ihr Euch zu glauben. Ihr könntet den Lauf der Dinge ändern, den ich in Gang gesetzt habe?« Oba war selbst überrascht über seine Worte. Sie schienen einfach so aus ihm herauszufließen, bevor er überhaupt daran dachte, sie auszusprechen.

»Auf diese Dinge haben ich und meinesgleichen keinen Einfluß«, räumte sie ein. »Ich habe im Palast der Propheten gelernt, mich nicht in Dinge einzumischen, die meine Fähigkeiten übersteigen und die nicht kontrollierbar sind. Für den großen Plan von Leben und Tod sind allein der Schöpfer und der Hüter zuständig.« Ihr verschmitzter Gesichtsausdruck konnte ihre Genugtuung nicht ganz verhehlen. »Aber ich bin mir nicht zu schade, meinen freien Willen auszuüben.«

Er hatte genug gehört. Sie versuchte nur Zeit zu schinden, ihn zu verunsichern. Aus irgendeinem Grund wollte es ihm nicht gelingen, sein rasendes Herz zu beruhigen.

»Was sind Lücken in der Welt?«

»Sie sind das Ende für mich und meinesgleichen«, antwortete sie. »Sie sind das Ende all dessen, was ich kenne.«

Das war wieder einmal typisch für eine Hexenmeisterin, daß sie mit einem Rätsel antwortete. »Und wer sind die anderen Steine?«, fragte er herrisch.

Endlich wandte sie ihre fürchterlichen Augen von ihm ab und schaute hinunter auf die anderen Steine; ihre Bewegungen wirkten eigentümlich abgehackt. Sie wählte einen Stein mit ihren schlanken Fingern aus. Als sie ihn aufheben wollte, mußte sie plötzlich innehalten und faßte sich mit ihrer anderen Hand an den Unterleib. Oba sah, daß sie Schmerzen litt. Sie hatte sich große Mühe gegeben, es sich nicht anmerken zu lassen, aber jetzt konnte sie es nicht mehr länger verheimlichen. Die Schmerzen waren wohl auch der Grund für die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihre Qualen machten sich in einem leisen Stöhnen Luft. Oba beobachtete sie fasziniert.

Schließlich schienen die Schmerzen ein wenig abzuklingen. Mit einiger Mühe brachte sie sich in eine aufrechtere Haltung und konzentrierte sich dann wieder ganz auf das, was sie gerade tat. Sie zeigte ihm ihre Hand, die Innenseite mit dem Stein darin nach oben gedreht.

»Dieser Stein«, erklärte sie. mittlerweile schwer atmend, »bin ich.«

»Ihr? Dieser Stein seid Ihr?«

Sie nickte und warf ihn ohne auch nur hinzusehen über das Brett. Der Stein rollte aus und blieb liegen, diesmal ohne die Begleitmusik von Blitz und Donner. Oba empfand Erleichterung, kam sich sogar ein wenig albern vor, daß er sich eben so hatte durcheinanderbringen lassen. Jetzt grinste er. Das Ganze war nichts weiter als ein albernes Brettspiel, und er war unbesiegbar.

Der Stein war an einer Ecke des innerhalb der beiden Kreise liegenden Quadrats zur Ruhe gekommen.

Er zeigte darauf. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Beschützer«, stieß sie atemlos keuchend hervor.

Sie nahm den Stein mit zitternden Fingern wieder auf, hielt ihm die Hand vors Gesicht und öffnete ihre schlanken Finger. Der Stein, ihr Stein, lag mitten in ihrer Hand. Sie sah Oba tief in die Augen.

Der Stein in ihrer Hand zerfiel unter Obas Blick zu Asche.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte er leise, mit weit aufgerissenen Augen.

Althea antwortete nicht. Statt dessen sackte sie in sich zusammen und kippte nach vorn; ihre Beine seitlich unter ihrem Körper, breitete sie die Arme aus. Die Asche, die eben noch ein Stein gewesen war, verteilte sich in einem feinen dunklen Streifen über den Fußboden.

Oba sprang auf. Seine Gänsehaut war wieder da. Er hatte genug Menschen sterben sehen, um zu wissen, daß Althea tot war.

Zuckend aufleuchtende Blitze zerrissen die Luft, durchzogen den Himmel mit einem Geflecht aus gleißend hellen Zackenlinien und leuchteten die Hütte aus. wobei sie die tote Hexenmeisterin in blendend grelles Licht tauchten. Oba brach der Schweiß aus.

Lange stand er da und starrte auf die Tote.

Dann ergriff er die Flucht.

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