Drinnen in der Hütte nahm eine große Feuerstelle aus rund geschliffenen Steinen den größten Teil der rechten Wand ein. Neben den beiden in die hinteren Zimmer führenden Türdurchbrüchen hingen Vorhänge aus grobem Sackleinen. Auf dem roh behauenen Kaminsims stand, wie auch auf dem derben Bohlentisch, eine Lampe, doch keine von beiden brannte. Im Kamin knisterten und knackten Eichenscheite, die für einen rauchgeschwängerten, aber einladenden Geruch und ein gemütliches, flackerndes Licht im Raum sorgten. Neben dem Feuer, an einem rußgeschwärzten Eisenarm, hing ein mit einem Deckel versehener Wasserkessel. Nach so langer Zeit draußen in Wind und Wetter fand Jennsen es drinnen fast zu warm.
Der Heiler legte den Jungen auf eine der Pritschen, die an der Wand gegenüber dem Kamin aufgereiht standen. Die Mutter ließ sich auf ein Knie hinunter und sah zu, wie er die Decke auseinanderschlug. Jennsen wandte sich ab und ließ den Blick beiläufig durch die Hütte wandern, um sich zu vergewissern, daß dort keine unliebsamen Überraschungen lauerten. Aus den Kaminen der anderen Hütten war kein Rauch aufgestiegen, und sie hatte auch keine Spuren im frischen Schnee gesehen, was aber nicht bedeuten mußte, daß die anderen Hütten unbewohnt waren.
Jennsen schlenderte durch den Raum, vorbei an dem auf Schrägen aufgebockten Tisch in der Mitte, um sich die Hände am Kamin zu wärmen, was ihr Gelegenheit gab, einen Blick in die beiden nach hinten hinaus gelegenen Zimmer zu werfen. Beide waren winzig und enthielten nur eine Schlafpritsche sowie ein paar an Haken aufgehängte Kleiderstücke – außer ihnen befand sich also niemand in der Hütte. Zwischen den beiden Türen standen einfache Schränke aus Fichtenholz.
Während Jennsen ihre Hände über dem Feuer wärmte und die Mutter des Jungen ihm leise ein Schlaflied sang, eilte der Heiler zu einem der Schränke, dem er mehrere tönerne Gefäße entnahm.
»Holt Ihr bitte Feuer für die Lampe?«, bat er, während er seinen Arm voll Utensilien auf dem Tisch ablud.
Jennsen brach einen langen Fidibus von einem der an der Seite aufgeschichteten Scheite ab und hielt ihn in die lodernden Flammen, bis er Feuer fing. Während sie die Lampe anzündete und anschließend den Glaskolben wieder darüberstülpte, entnahm er mehreren der Gefäße eine Prise feinen Pulvers und gab dieses in ein weißes Schälchen.
»Wie geht es dem Jungen?«, erkundigte sie sich im Flüsterton.
Er warf ihr quer durch den Raum einen Blick zu. »Nicht gut.«
»Kann ich Euch irgendwie helfen?«, erkundigte sich Jennsen, nachdem sie den Docht eingestellt hatte.
Er zog den Korken aus einem der Gefäße. »Wenn es Euch nichts ausmacht, könnt Ihr mir den steinernen Mörser und den Stößel drüben aus dem mittleren Schrank holen.«
Jennsen brachte ihm den schweren grauen Steinmörser mitsamt Stößel und stellte beides neben der Lampe auf den Tisch. Er gab gerade ein senffarbenes Pulver in das Schälchen und war so vertieft in seine Arbeit, daß er seinen Umhang nicht ausgezogen hatte, als er die hinderliche Kapuze zurückschlug, erhielt sie endlich Gelegenheit, ihn genauer anzusehen.
Seine Züge hatten, im Gegensatz zu denen des Zauberers Rahl, nichts Überraschendes oder Auffälliges. Weder in den großen Augen des Mannes noch in seinem offenen Gesicht oder der durchaus freundlich wirkenden Mundpartie vermochte sie irgend etwas zu entdecken, das ihr vertraut erschienen wäre. Er deutete auf eine Flasche aus geriffeltem grünen Glas.
»Wenn es Euch nichts ausmacht, könntet Ihr mir bitte eins davon zermahlen?«
Während er in die Ecke eilte, um einen braunen Steinguttopf aus einem der hohen Regale zu nehmen, löste Jennsen den Drahtbügelverschluß und entfernte den Glasdeckel des Gefäßes. Überrascht betrachtete sie die überaus merkwürdigen kleinen Gegenstände darin, wobei es vor allem ihre Form war, die sie in Erstaunen versetzte. Sie drehte eins mit dem Finger um; es war dunkel, flach und rund. Im Schein der Lampe konnte sie erkennen, daß es getrocknet worden war. Dann schüttelte sie das Gefäß und stellte fest, Sie sahen alle gleich aus – wie lauter kleine Huldigungen.
Wie das magische Symbol, so besaßen auch diese kleinen Gegenstände einen Außenkreis, einen Teil, der an ein darin liegendes Quadrat erinnerte, sowie einen kleineren Kreis im Innern des Quadrats. Darüber war eine weitere Struktur erkennbar, die dies alles miteinander verband und stark an einen dicken Stern erinnerte. Obgleich es den Huldigungen, wie sie sie immer gezeichnet gesehen hatte, nicht haargenau glich, wies es doch eine bestechende Ähnlichkeit auf.
»Was ist das?«, fragte sie.
Der Heiler ließ seinen Umhang von den Schultern gleiten und krempelte die Ärmel seines einfachen Gewandes hoch. »Es sind Teile einer Blume – der getrocknete untere Teil des Staubfadens einer Bergfieberrose. Niedliche kleine Dinger sind das, Ihr habt sie bestimmt schon einmal gesehen. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Farben, je nachdem, wo sie wachsen, am bekanntesten aber ist das ganz gewöhnliche Rot. Hat Euch Euer Ehemann etwa noch nie einen Strauß Bergfieberrosen mitgebracht?«
Jennsen spürte, wie sie errötete. »Er ist gar nicht – wir reisen nur zusammen. Wir sind befreundet, weiter nichts.«
»Ach so«, meinte er; es klang weder überrascht noch neugierig. Er zeigte darauf. »Seht Ihr? Die Blütenblätter sind hier an diesen Stellen befestigt. Entfernt man Blütenblätter und Samen und trocknet diesen ausgesuchten Teil des Kopfes, sehen sie am Ende so aus.«
Jennsen lächelte. »Sie sehen aus wie kleine Huldigungen.«
Er nickte und erwiderte ihr Lächeln. »Und genau wie eine Huldigung können sie sowohl heilen als auch töten.«
»Wie ist es möglich, daß sie eine so unterschiedliche Wirkung haben können?«
»Einer dieser getrockneten Blütenköpfe, zermahlen und diesem Trank beigegeben, verhilft dem Jungen zu einem tiefen Schlaf, damit er das Fieber bekämpfen und es ausschwitzen kann. Mehr als eine würde dagegen ein solches Fieber erst hervorrufen.«
»Tatsächlich?«
Er schien ihre nächste Frage geahnt zu haben, denn er beugte sich vor und hob einen Finger. »Nähmet Ihr dagegen zwei Dutzend davon ein, ganz sicher aber bei dreißig, wäret Ihr rettungslos verloren. So ein Fieber kann schnell einen tödlichen Verlauf nehmen. Es ist die Wirkung, die der Pflanze ihren Namen gegeben hat.« Er zeigte ihr ein verschmitztes Lächeln. »In vieler Hinsicht ein recht passender Name für eine Blume, die man so gern mit der Liebe in Verbindung bringt.«
»Vermutlich«, erwiderte sie nachdenklich. »Aber angenommen, man nähme mehr als eine, aber weniger als ein Dutzend ein, würde man dann auch sterben?«
»Wenn Ihr dumm genug wärt, zehn oder zwölf zu zermahlen und Eurem Tee beizugeben, würdet Ihr mit Sicherheit an Fieber erkranken.«
»Und schließlich daran sterben, ganz so, als hätte man mehr zu sich genommen?«
Er mußte schmunzeln, als er die aufrichtige Sorge in ihrem Gesicht bemerkte. »Nein, von einer so geringen Menge würdet Ihr nur leichtes Fieber bekommen. In ein, zwei Tagen hättet Ihr es überstanden.«
Jennsen warf einen vorsichtigen Blick auf die winzigen, wie kleine Huldigungen aussehenden Blütenteile.
»Es passiert Euch nichts, wenn Ihr eins berührt«, sagte er, als er ihre Reaktion auf die große Menge in dem Gefäß bemerkte. »Man muß sie schon zu sich nehmen, um eine Wirkung zu spüren. Und wie gesagt, selbst dann wird eine, in Verbindung mit den anderen Mitteln, dem Jungen bloß gegen sein Fieber helfen.«
Jennsen lächelte verlegen und langte mit zwei Fingern in das Gefäß, um ein Blütenteil herauszufischen, das sie dann in den Mörser warf; es erinnerte wirklich sehr an eine Huldigung.
»Ware es für einen Erwachsenen im Wachzustand bestimmt, würde ich es einfach mit den Fingern zerdrücken«, erläuterte der Heiler, während er Honig in das Schälchen träufelte, »aber er ist klein und schläft außerdem. Ich muß ihn dazu bringen, daß er es nach und nach zu sich nimmt, zermahlt es also bitte äußerst fein.«
Als er fertig war, gab er das dunkle Pulver der Bergfieberrosenblüte hinzu, die Jennsen für ihn zermahlen hatte. Wie die Huldigung, der sie so ähnlich sah, konnte sie Leben retten oder töten.
Sie fragte sich, was Sebastian wohl von der Geschichte hielt, und überlegte, ob Bruder Narev die Bergfieberrose wegen ihrer potentiell tödlichen Wirkung womöglich sogar ausmerzen wollte.
Jennsen stellte die Gefäße des Heilers wieder ins Regal zurück, während er den mit Honig gesüßten Trank zu dem Jungen hinübertrug. Mit der tatkräftigen Hilfe der Mutter setzten sie ihm das Schälchen ganz vorsichtig an seine zarten Lippen und versuchten, ihn zum Trinken zu bewegen. Mit viel Geduld gelang es ihnen, den schlafenden Jungen dahin zu bringen, daß er daran nippte und das kostbare Getränk, Tropfen für Tropfen, so wie sie es ihm in den offenen Mund träufelten, hinunterschluckte.
Sie waren noch immer damit beschäftigt, als Sebastian von der Scheune zurückkehrte. Ehe er die Tür wieder schließen konnte, erhaschte sie einen Blick auf den nächtlichen Sternenhimmel. Ein Schwall eiskalter Luft drang an ihre Beine und ließ sie bis zu den Schultern hoch frösteln. Abflauen des Windes bei gleichzeitig sternenklar aufreißendem Himmel bedeutete oft eine überaus kalte Nacht.
Sebastian, der es kaum erwarten konnte, sich aufzuwärmen, ging schnurstracks zum Feuer. Der Heiler legte der Frau sacht eine Hand auf die Schulter und nickte ihr ermutigend zu, während sie ihrem kranken Kind den Trank einflößte, dann überließ er sie ihrer Arbeit und gesellte sich, nachdem er seinen Umhang auf einen Haken gleich neben der Tür gehängt hatte, am Feuer zu Jennsen und Sebastian.
»Diese Frau und das Kind, sind das Verwandte von Euch?«, erkundigte er sich.
»Nein«, antwortete Jennsen. Die Hitze des Feuers bewog sie, ebenfalls ihren Umhang auszuziehen; sie legte ihn über die Bank am Tisch. »Wir haben sie nur hergebracht.«
»Aha«, meinte er. »Nun, sie ist herzlich eingeladen, über Nacht mit ihrem Jungen hier zu bleiben. Ich werde ohnehin die ganze Zeit ein Auge auf ihn haben müssen.« Sie hatte vollkommen vergessen, wie ungewöhnlich das Messer war, das sie an ihrem Gürtel trug, bis er es schließlich bemerkte. »Bitte«, meinte er, »nehmt Euch von dem Eintopf, den ich über dem Feuer hängen habe. Wir haben für unsere Besucher stets reichlich davon vorbereitet. Zum Weiterreisen ist es zu spät. Es steht Euch frei, die Hütten über Nacht zu benutzen. Sie stehen zur Zeit alle leer. Ihr könnt Euch also für die Nacht jeder eine aussuchen.«
»Ihr tätet uns damit einen großen Gefallen«, erwiderte Sebastian. »Vielen Dank.«
Gerade wollte Jennsen einwenden, daß sie sich auch eine Hütte teilen könnten, als ihr bewußt wurde, daß er es nur gesagt hatte, weil sie ihm gegenüber erwähnt hatte, Sebastian sei gar nicht ihr Ehemann. Sie merkte, wie seltsam es klingen mußte, wenn sie jetzt irgendwelche Einwände gegen den Vorschlag äußerte, also ließ sie es sein.
Im Übrigen war es eine vollkommen natürliche und harmlose Angelegenheit, mit Sebastian zusammen unter freiem Himmel zu schlafen, in einer gemeinsamen Hütte dagegen schien es irgendwie anders. Sie erinnerte sich zwar, daß sie auf ihrer langen Reise zum Palast des Volkes ja mehrfach in Gasthäusern abgestiegen waren, aber das war gewesen, bevor er sie geküßt hatte.
»Ist dies die Siedlung der Raug’Moss?«, fragte Jennsen dann.
Er lächelte über ihre Frage, so als fände er sie erheiternd, ohne sich jedoch über ihre Unwissenheit lustig machen zu wollen. »Keineswegs. Dies ist nur einer von mehreren kleinen Außenposten, die wir auf Reisen als Zuflucht nutzen – und wo die Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen müssen. Kontakt zu uns aufnehmen können.«
»Dann kann der Junge wohl von Glück reden, daß Ihr hier wart«, meinte Sebastian.
Der Raug’Moss sah Sebastian forschend in die Augen. »Wenn er überlebt, werde ich mich freuen, daß ich hier war und ihm helfen konnte. Wir lassen häufig einen Bruder in dieser Station zurück.«
»Warum das?«, fragte Jennsen.
»Außenposten wie dieser tragen zum Einkommen der Raug’Moss bei, weil wir hier unsere Dienste Menschen anbieten können, die sonst keinen Zugang zu Heilern haben.«
»Einkommen?«, wunderte sich Jennsen. »Ich dachte, die Raug’Moss helfen den Menschen aus Nächstenliebe, nicht um Gewinn zu machen.«
»Der Eintopf, das Feuer im Kamin, das Dach über dem Kopf – all diese Dinge erscheinen nicht einfach wie durch Magie aus dem Nichts, nur weil sie gebraucht werden. Wir erwarten, daß die Menschen, die uns wegen unseres Wissens aufsuchen, für dessen Erwerb wir ein Leben lang gebraucht haben, als Gegenleistung für diese Hilfe etwas bezahlen. Wie können wir anderen helfen, wenn wir verhungern? Wenn man über die notwendigen Mittel verfügt, ist Nächstenliebe stets nur eine Frage der freien, persönlichen Entscheidung, wird sie aber erwartet oder gar erzwungen, ist sie nichts anderes als ein höfliches Wort für Sklaverei.«
Der Heiler hatte natürlich nicht sie damit gemeint, trotzdem versetzten seine Worte Jennsen einen schmerzhaften Stich. Hatte sie nicht immer erwartet, daß andere ihr halfen, in der Annahme, die Hilfe stünde ihr ganz einfach zu, weil sie darauf angewiesen war?
Sebastian kramte in einer seiner Taschen, brachte einen Silbertaler zum Vorschein und bot ihn dem Mann an. »Wir würden gern unseren Besitz mit Euch teilen, als Gegenleistung dafür, daß Ihr Euren mit uns teilt.«
Nach einem äußerst flüchtigen Blick auf Jennsens Messer erwiderte er, »In Eurem Fall ist das nicht erforderlich.«
»Wir bestehen aber darauf«, meinte Jennsen, der bei dem Gedanken unwohl war, daß dieses Geld im Grunde nicht mal ihr gehörte.
Er nahm die Bezahlung mit einer knappen Verbeugung an. »Im rechten Schrank stehen Schalen. Bitte, bedient Euch selbst; ich muß mich um den Jungen kümmern.«
Jennsen und Sebastian saßen auf einer Bank am Schrägentisch und verspeisten jeder zwei Portionen des herzhaften Eintopfs aus dem großen Kessel. Es war die köstlichste Mahlzeit seit – seit den Fleischpasteten, die Tom ihnen eingepackt hatte.
»Diese Geschichte hat sich sehr zu unserem Vorteil entwickelt«, meinte Sebastian mit gesenkter Stimme.
Jennsen beugte sich zu ihm, während er in seinem Eintopf rührte.
»Wieso?«
Er sah aus seinen blauen Augen zu ihr hoch. »Die Pferde bekommen ordentlich zu fressen und können sich vernünftig ausruhen – und wir auch. Das verschafft uns einen Vorteil gegenüber unseren Verfolgern.«
»Meint Ihr wirklich, sie könnten in der Nähe sein?«
Achselzuckend machte sich Sebastian wieder über seinen Eintopf her. Er sah kurz zur anderen Zimmerseite hinüber, bevor er antwortete. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal, daß sie uns überraschen, oder?«
Jennsen gab ihm nickend Recht ehe sie sich wieder über ihre Mahlzeit hermachte und schweigend weiteraß.
»Wie auch immer«, meinte er. »Sowohl wir als auch die Pferde bekommen dadurch eine dringend benötigte Mahlzeit sowie eine Ruhepause. Wenn wir unseren Vorsprung vergrößern wollen, kann das nur nützlich sein. Zum Glück habt Ihr mich daran erinnert, daß der Schöpfer den Bedürftigen stets hilft.«
Sein Lächeln erwärmte Jennsen das Herz. »Ich hoffe nur, es nützt auch dem armen Jungen.«
»Das hoffe ich auch«, meinte er.
»Ich räume eben ab, und dann sehe ich nach, ob die beiden Hilfe brauchen.«
Nickend schob er das fetzte Stück Lammfleisch auf seinen Löffel. »Nehmt Ihr die vorletzte Hütte. Ich beziehe die dahinter, ganz am Ende, und zünde Euch zuerst ein Feuer an, während Ihr hier aufräumt.«
Nachdem er seinen Löffel in die leere Schale gelegt hatte, schob Jennsen ihre Hand auf seine. »Schlaft gut.«
Sie genoß es, wie er sie verstohlen anlächelte; anschließend beobachtete sie, wie er leise mit dem Heiler sprach. Aus dem Nicken des Mannes schloß sie, daß Sebastian sich bei ihm bedankt und ihm eine gute Nacht gewünscht hatte. Die Mutter kauerte neben ihrem kleinen Jungen und strich ihm über die Stirn, während sie sich ebenfalls bei Sebastian für seine Hilfe bedankte; sie nahm kaum Notiz von dem kalten Luftzug, der durch die Hütte wehte, als er durch die Tür nach draußen ging.
Jennsen brachte der Frau eine dampfende Schale mit Eintopf. Sie nahm sie höflich, aber geistesabwesend entgegen, da ihre Aufmerksamkeit ganz dem kleinen, in ihrem Schoß schlafenden Sorgenkind galt. Auf Jennsens Drängen erklärte sich der Heiler seufzend einverstanden, am Tisch Platz zu nehmen, während sie ihm eine Schale seines Eintopfs vorsetzte.
»Gar nicht mal übel, dabei hab ich ihn selbst gemacht«, meinte er gut gelaunt, als sie ihm einen Krug Wasser brachte.
Jennsen versicherte ihm lachend, der Meinung sei sie auch. Sie ließ ihn essen und beschäftigte sich derweil damit, die schmutzigen Suppenschalen in einem hölzernen Spüleimer abzuwaschen. Als sie sah, daß der Heiler seine Mahlzeit fast beendet hatte, setzte sie sich unmittelbar neben ihm auf die Bank, um ihn gewissermaßen unter vier Augen sprechen zu können. »Wir müssen morgen sehr früh aufbrechen; für den Fall, daß ich Euch dann verpassen sollte, möchte ich mich daher schon jetzt für Eure Hilfe heute Abend bedanken, und zwar nicht nur im Namen des Jungen, sondern auch in unserem.«
Auch wenn er nicht offen hinsah, entnahm sie seinem Gesichtsausdruck, daß er ihre Absicht, sehr früh aufzubrechen, mit dem Messer in ihrem Gürtel in Verbindung brachte. Sie unternahm nichts, um ihn von dieser Folgerung abzubringen.
»Wir wissen die großzügige Spende für unsere Glaubensgemeinschaft sehr zu würdigen. Sie wird uns bei unseren Bemühungen, unser Volk zu unterstützen, sehr hilfreich sein.«
Jennsen wußte, daß er nur die Zeit überbrücken wollte, bis sie sagte, was sie wirklich auf dem Herzen hatte, also rückte sie schließlich damit heraus. »Ich möchte mich nach einem Mann erkundigen, der meines Wissens bei den Raug’Moss lebt. Möglicherweise ist er sogar Heiler, ich bin nicht sicher. Ich wußte gern, ob Ihr mir etwas über ihn sagen könnt.«
Er zuckte mit den Achseln. »Nur zu. Ich werde Euch erzählen, was ich weiß.«
»Sein Name lautet Drefan.«
Zum allerersten Mal an diesem Abend verrieten die Augen des Mannes eine gefühlsmäßige Regung. »Drefan war ein übles Gezücht Darken Rahls.«
Jennsen mußte sich zusammenreißen, um sich keine Reaktion auf seine heftige Erwiderung anmerken zu lassen. Sie ermahnte sich, daß er das Messer mit dem Symbol des Hauses Rahl gesehen hatte; vielleicht hatte das seine Ausdrucksweise beeinflußt. Jedenfalls hatte er sich ziemlich unmißverständlich ausgedrückt.
»Das ist mir bekannt. Trotzdem muß ich ihn dringend finden.«
»Ihr kommt zu spät.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Herrscher Rahl beschütze uns«, zitierte er aus der Andacht.
»Wie ist das zu verstehen?«
»Lord Rahl, der neue Lord Rahl, hat ihn getötet – und uns dadurch alle vor diesem unehelichen Sproß Darken Rahls bewahrt.«
Jennsen.
Jennsen saß da wie vom Donner gerührt. »Wißt Ihr das ganz genau?«, war alles, was ihr als Erwiderung einfiel. »Ich meine, seid Ihr sicher, daß es Lord Rahl war, der das getan hat?«
»Es fielen zwar einige höfliche Bemerkungen über Drefan und seinen Tod im Dienste des Volkes von D’Hara, aber wie die übrigen Raug’Moss bin auch ich trotzdem der festen Überzeugung, daß Lord Rahl Drefan getötet hat.«
Jennsen.
Höfliche Bemerkungen, höfliche Bemerkungen über einen Mord. Jennsen vermutete, daß man einen Lord Rahl nicht einfach ganz offen des Mordes beschuldigte. Ermordet wurden nur gewöhnliche Menschen; die Opfer eines Lord Rahl starben im Dienste des Volkes von D’Hara.
Jennsen spürte, wie ihr das Entsetzen darüber, daß Lord Rahl ihr einen Mord näher gekommen war, die Brust zusammenschnürte. Nicht Darken Rahl hatte Drefan aufgespürt, sondern Richard Rahl. Und dieser Richard Rahl würde irgendwann auch sie aufspüren.
Sie hielt ihre zitternden Hände im Schoß fest und hoffte, daß wenigstens ihrem Gesicht nichts anzusehen war. Dieser Mann stand offenkundig in treuer Ergebenheit zu Lord Rahl.
Gib dich hin.
Der knappe Befehl hallte noch lange nach in ihrem Kopf.