Friedrich schlängelte sich zwischen den dicken Grasbüscheln am Rand des kleinen Sees hindurch und versuchte nicht daran zu denken, wie hungrig er war. Nach dem Knurren seines Magens zu urteilen, hatte er damit keinen sonderlichen Erfolg. Fisch wäre zur Abwechslung einmal etwas Feines gewesen, aber Fisch mußte zubereitet werden, und vor allem mußte er erst einmal einen fangen. Er ließ den Blick suchend an der Uferzone entlangwandern. Froschschenkel wären ebenfalls eine feine Sache. Eine Mahlzeit aus Trockenfleisch würde allerdings weniger Zeit in Anspruch nehmen. Er wünschte, er hätte einen Zwieback aus seinem Rucksack genommen, als er das letzte Mal haltgemacht hatte, um sich ein wenig auszuruhen. Dann hätte er wenigstens etwas zum Beißen gehabt.
An manchen Stellen war die Wasserlinie des Seeufers mit Gräsern überwachsen, an anderen wucherten verschwiegene Dickichte aus hohem Schilf. Kein Lüftchen regte sich, so daß der goldene Glanz des Abendhimmels sich in der vollkommen stillen Oberfläche des Sees widerspiegelte.
Friedrich hielt inne, um ganz ruhig stehen zu bleiben und sich zu strecken, während sein Blick suchend in die Schatten unter den Bäumen wanderte. Er mußte seinen müden Beinen eine kurze Pause gönnen und überlegte, ob er übernachten und sich einen Unterschlupf bauen oder wenigstens einen Zwieback aus dem Rucksack holen sollte.
Friedrich rückte die Tragegurte seines Rucksacks zurecht und versuchte einen Entschluß zu fassen – ein Lager aufschlagen oder den Weg fortsetzen. Obwohl er nach seinem anstrengenden Reisetag müde und abgespannt war hatte ihn die lange Wanderung auch gestärkt, so daß er die Härten seines neuen Lebens besser zu ertragen vermochte – jedenfalls viel besser als noch zu Beginn.
Wenn Friedrich vor sich hinschritt, unterhielt er sich in Gedanken oft mit Althea, beschrieb ihr die sehenswerten Dinge, die er sah, die Beschaffenheit des Geländes, die Vegetation, den Himmel, immer in der Hoffnung, daß sie ihn aus dem Jenseits hörte und er ihr damit eine Freude machen konnte.
Mittlerweile ging der Tag zur Neige, und er mußte eine Entscheidung treffen; wenn es zu dunkel wurde, wollte er nicht mehr unterwegs sein. Es war Neumond, nach dem Verschwinden des letzten Leuchtens der Abenddämmerung würde daher nahezu völlige Dunkelheit herrschen; und jene Finsternis, in der man nicht die Hand vor Augen sah, war die allerschlimmste, denn in diesen Momenten spürte er seine Einsamkeit am deutlichsten.
Doch selbst unter einem wolkenlosen Nachthimmel war es schwierig, allein im Schein der Sterne unbekanntes Gelände zu durchwandern; in der Dunkelheit konnte man leicht vom Weg abkommen und sich verlaufen.
Das Klügste wäre es, ein Lager aufzuschlagen. Es war warm, daher mußte ein Feuer nicht unbedingt sein, auch wenn er ein vages Bedürfnis danach verspürte. Trotzdem – ein Feuer könnte Aufmerksamkeit erregen. Woher sollte er wissen, wer sich in der Nähe befand, und ein Lagerfeuer wäre meilenweit zu sehen.
Bevor er sich endgültig entschieden hatte, vernahm er ein Geräusch. Obwohl es alles andere als laut war, bewog ihn seine unerklärliche Ursache, sich umzudrehen und den Pfad in Richtung Norden zurückzublicken, in die Richtung, aus der er gekommen war. Während er lauschte, herrschte wieder vollkommene Stille.
»Ich werde allmählich zu alt für so was«, murmelte er bei sich und machte sich kurzerhand wieder auf den Weg.
Aber auch noch ein anderer triftiger Grund bewog ihn weiterzugehen, und dieser Grund war eigentlich der Wichtigste: So kurz vor dem Ziel machte er nur äußerst ungern halt, jedenfalls nicht hier, so tief in der Alten Welt, und außerdem in dem Wissen, daß Nachtpatrouillen unterwegs sein konnten. In den vergangenen Tagen hatte er immer häufiger patrouillierende Truppen der Imperialen Ordnung gesehen.
Da! Ein Knacken! Friedrich blieb wie angewurzelt stehen und sah sich lauschend um. Himmel und See spiegelten einander violett. Drei Baumstämme ragten still und bewegungslos über den Pfad, wie Krallen, die nur darauf warteten, sich einen Wanderer zu greifen.
Wahrscheinlich wimmelte der Wald nur so von Tieren, die nach durchschlafenem Tag hervorkamen, um nachts auf Jagd zu gehen. Angestrengt lauerte er auf eine Wiederholung des Geräuschs, doch nichts rührte sich in der Stille der Dämmerung.
Friedrich wandte sich wieder zum Pfad herum und beschleunigte seine Schritte. Bestimmt war es ein kleines Tier gewesen, das in der Streu des Waldbodens nach Nahrung suchte. Die vermehrte Anstrengung beschleunigte seinen Atem. Er versuchte, seinen Mund zu benetzen, indem er seine Zunge bewegte, doch es nützte kaum etwas. Obwohl er großen Durst verspürte, mochte er nicht anhalten, um einen Schluck zu trinken.
Natürlich bildete er sich das alles nur ein. Er befand sich in einem fremden Land, am Rande eines ihm unbekannten Waldes, zudem wurde es gerade dunkel.
Friedrich drehte sich um und warf einen Blick über die Schulter, während er mit eiligen Schritten über den schlecht beleuchteten Pfad hastete. Er hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, daß sich hinter ihm etwas befand; etwas, das ihn beobachtete. Bei der Vorstellung sträubten sich ihm die Nackenhaare.
Obwohl er sich wiederholt umschaute, konnte er nichts erkennen. Hinter ihm blieb alles ruhig. Entweder war es viel zu ruhig, oder seine Phantasie spielte ihm einen Streich.
Schweratmend und klopfenden Herzens beschleunigte Friedrich abermals seine Schritte. Wenn er sich beeilte, traf er vielleicht endlich auf sein Ziel und müßte nicht die ganze Nacht allein unter freiem Himmel im Wald verbringen.
Er warf erneut einen Blick über die Schulter.
Augen beobachteten ihn!
Er erschrak darüber so sehr, daß er über seine eigenen Füße stolperte und der Länge nach hinfiel. Mit hektischen Bewegungen rappelte er sich auf und drehte sich um, so daß er den Pfad hinter sich im Blick hatte, während er auf Händen und Füßen weiterkrabbelte.
Die lauernden Augen waren noch immer da. Es war keine Einbildung gewesen – ein leuchtendes, gelbes Augenpaar beobachtete ihn tief aus den dunklen Schatten des Waldes.
Plötzlich wurde die regungslose Stille von einem leisen Knurren unterbrochen, und er hörte, wie das Tier verstohlen aus den Schatten in das dämmrige Licht zwischen See und Wald trat. Es war riesig – vielleicht doppelt so groß wie ein Wolf, mit mächtiger Brust und bulligem Nacken.
Den Kopf dicht über dem Boden, kam es mit vorsichtigen Schritten auf ihn zu, ohne seine glühenden Augen von ihm abzuwenden. Das Tier war auf der Pirsch.
Mit einem Schrei rappelte Friedrich sich auf und nahm Reißaus, so schnell ihn seine Füße trugen. Getrieben von solcher Angst, spürte er sein Alter kaum. Ein schneller Blick über seine Schulter ergab, daß das Tier hinter ihm mit großen Sätzen den Pfad entlanggerannt kam und dabei mühelos den Abstand verringerte. Noch schlimmer aber war, daß Friedrich bei diesem einen flüchtigen Blick nach hinten weitere leuchtende Augenpaare sah. Sie waren bereit für die nächtliche Jagd. Und Friedrich war ihre Beute.
Das Tier heulte auf und prallte mit solcher Wucht gegen seinen Rücken, daß ihm die Luft aus den Lungen gepreßt wurde. Er fiel mit dem Gesicht voran zu Boden, landete mit einem Ächzen und schlitterte durch den Staub. Als er sich auf allen vieren kriechend in Sicherheit bringen wollte, stürzte sich die Bestie auf ihn. Unter wütendem Geknurr machte sie einen Satz nach vorn und schnappte zu, erwischte seinen Rucksack und riß ihn an der Seite auf.
Friedrich konnte sich lebhaft ausmalen, wie er selbst statt dessen aufgerissen wurde.
Er wußte, das war sein Ende.