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Sebastian ließ sich schwer auf einen niedrigen Felsvorsprung sinken, auf dem es sich bequem sitzen ließ. »Erklärt Ihr einfach, was ich Euch gesagt habe, und daß ich Verständnis dafür hätte, wenn sie keinen Fremden im Haus übernachten lassen möchte.«

Jennsen betrachtete ihn mit ruhiger, ernster Miene.

»Meine Mutter und ich brauchen keinen Besucher zu fürchten.«

Damit spielte sie nicht auf gewöhnliche Waffen an, wie er aus ihrem Ton heraushörte. Zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen sah sie einen Funken von Unsicherheit in seinen ruhigen blauen Augen aufflackern.

Jennsens Lippen dagegen zeigten die Andeutung eines Lächelns, als sie ihn überlegen sah, welch rätselhafte Gefahr von ihr ausgehen mochte. »Ihr könnt ganz unbesorgt sein. Nur wer Ärger mitbringt, muß Angst haben, sich hier aufzuhalten.«

Er hob die Hände zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab. »Dann bin ich hier sicher wie ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter.«

Jennsen ließ Sebastian auf dem Felsen warten, während sie, knorrige Wurzeln als Stufen benutzend, auf dem verschlungenen Pfad zwischen schützenden Nadelbäumen hindurch bis zu ihrem Haus aufstieg, das ein Stück zurückversetzt in einem Eichenhain auf einem kleinen, im Hang eines Berges eingebetteten Felsvorsprung stand, es gab ausreichend Platz, ihre Ziege weiden zu lassen, sowie für ein paar Enten und Hühner. Zur Rückseite hin machten steile Felsen jeden zufälligen Besuch aus dieser Richtung unmöglich, der Pfad an der Vorderseite war der einzige Zugang. Für den Fall, daß sie bedroht wurden, hatten Jennsen und ihre Mutter hinter dem Haus eine gut versteckte Folge von Tritten angebracht, die zu einem schmalen Felsensims hinauf und über einen gewundenen Nebenweg und verschiedene Wildwechsel durch eine Schlucht vom Haus wegführte.

Seit Jennsens Kindertagen waren sie häufig umgezogen und niemals allzu lange an einem Ort geblieben. Hier jedoch, wo sie sich sicher fühlten, hielten sie es mittlerweile bereits seit über zwei Jahren aus. Kein einziges Mal hatten Reisende ihr Versteck in den Bergen entdeckt, was an ihren anderen Aufenthaltsorten gelegentlich vorgekommen war, und die Bewohner Briartons, der nächsten Ortschaft, wagten sich niemals so weit in den dunklen und bedrohlichen Wald vor. Es war der sicherste Unterschlupf, den sie und ihre Mutter je gefunden hatten, deshalb hatte Jennsen es nach und nach gewagt, ihn immer mehr als ihr Zuhause zu betrachten.

Jennsen wurde verfolgt, seit sie sechs war, und trotz der niemals nachlassenden Vorsicht ihrer Mutter wären sie mehrere Male um ein Haar aufgegriffen worden. Der sie verfolgte, war kein gewöhnlicher Mann und deshalb nicht auf die üblichen Mittel bei einer Verfolgung angewiesen. Soviel Jennsen wußte, konnten es seine Augen sein, mit denen die auf einem hohen Ast hockende Eule sie beobachtete, während sie den felsigen Pfad hinaufstieg.

Kaum war Jennsen am Haus angelangt, als ihre Mutter aus der Tür trat. Sie war genauso groß wie Jennsen und hatte dasselbe dichte, bis knapp über die Schultern fallende Haar, nur daß das ihre eine eher kastanienbraune denn rote Farbe hatte. Sie war noch keine fünfunddreißig und die schönste Frau, die Jennsen je gesehen hatte. Unter anderen Lebensumständen hätten gewiß zahllose Freier ihrer Mutter den Hof gemacht, und manch einer von ihnen wäre auch bestimmt bereit gewesen, einen fürstlichen Brautpreis für ihre Hand zu zahlen. Aber da die innere Schönheit ihrer Mutter ebenso ausgeprägt war wie ihre äußere, hatte sie das alles aufgegeben, um ihre Tochter zu beschützen.

Wenn Jennsen von Selbstmitleid gepackt wurde, weil sie auf ganz alltägliche Dinge verzichten mußte, rief sie sich ihre Mutter ins Gedächtnis, die genau diese Dinge und noch viel mehr um ihrer Tochter willen aufgegeben hatte. Ihre Mutter war für sie wie ein Schutzengel.

»Jennsen!« Ihre Mutter kam ihr entgegengerannt und packte sie bei den Schultern. »Jenn, ich hab mir schon solche Sorgen gemacht. Dachte mir, du bist bestimmt in Schwierigkeiten geraten, und wollte gerade ...«

»Das stimmt auch, Mutter«, gestand sie.

Ihre Mutter zögerte nur einen Augenblick, dann zog sie Jennsen ohne weitere Fragen in ihre schützenden Arme. Nach einem so beängstigenden Tag war Jennsen der Trost ihrer Mutter höchst willkommen; schließlich schob ihre Mutter sie Richtung Tür.

»Komm rein und sieh zu, daß du wieder trocken wirst. Wie ich sehe, hast du einen ordentlichen Fang mitgebracht. Wir werden uns ein schönes Abendessen zubereiten, dann kannst du mir erzählen ...«

Jennsen ließ sich nur widerstrebend darauf ein. »Mutter, ich habe jemanden mitgebracht.«

Ihre Mutter blieb wie angewurzelt stehen und sah ihre Tochter verärgert an. »Was soll das heißen? Wen könntest du denn mitgebracht haben?«

Jennsen wies mit einer flüchtigen Handbewegung hinter sich zum Pfad. »Ich habe ihm gesagt, er soll dort unten warten, und ihm erklärt, dich fragen zu wollen, ob er in der Höhle bei den Tieren schlafen kann.«

»Er soll hier übernachten? Was hast du dir nur dabei gedacht, Jenn?«

»Mutter, bitte, hör mir doch erst einmal zu. Heute ist etwas Schreckliches passiert. Sebastian ...«

»Sebastian?«

Jennsen nickte. »Der Mann, den ich mitgebracht habe. Sebastian hat mir geholfen. Ich war auf einen Soldaten gestoßen, der vom Pfad abgestürzt war – vom Pfad oben um den See.«

Ihre Mutter wurde aschfahl im Gesicht, schwieg jedoch.

Jennsen atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann fing sie noch einmal von vorne an. »In der Schlucht unterhalb des weiter oben gelegenen Pfades fand ich einen toten d’Haranischen Soldaten. Andere Spuren gab es nicht – ich hab mich umgesehen. Der Soldat war außerordentlich groß und schwer bewaffnet.«

Ihre Mutter legte den Kopf zur Seite, einen vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht. »Was verschweigst du mir, Jenn?«

Jennsen hatte damit eigentlich warten wollen, bis sie Sebastians Anwesenheit erklärt hatte, aber ihre Mutter sah es ihr an den Augen an, hörte es aus ihrer Stimme heraus. Das kleine Stück Papier in ihrer Tasche schien seine Existenz, seine entsetzliche Bedrohlichkeit geradezu herauszuschreien.

»Bitte, Mutter, laß es mich mit meinen eigenen Worten erzählen.«

Ihre Mutter legte ihr eine Hand an die Wange. »Also gut, erzähl es mir. Wenn es sein muß, mit deinen eigenen Worten.«

»Ich war gerade dabei, den Soldaten zu durchsuchen, nach irgend etwas, das vielleicht wichtig hätte sein können. Und ich fand sogar etwas. Aber dann hat mich ganz zufällig dieser Mann gesehen, ein Reisender. Tut mir leid, Mutter, aber ich war so verängstigt wegen des Soldaten, der dort lag, und wegen dieses Zettels, den ich gefunden hatte, daß ich nicht so aufmerksam war, wie ich es hätte sein sollen.«

Ihre Mutter lächelte. »Nein, meine Kleine, kein Mensch ist gegen ein Versehen gefeit, denn keiner von uns ist vollkommen, wir alle machen Fehler.«

»Na ja, jedenfalls kam ich mir ziemlich dumm vor, als er mich ansprach, und ich mich umdrehte und er plötzlich einfach vor mir stand. Aber wenigstens hatte ich mein Messer gezogen.« Ihre Mutter nickte und lächelte dabei anerkennend. »Dann sah auch er, daß der Mann zu Tode gestürzt war. Sebastian meinte, wenn wir ihn einfach dort liegen ließen, müßte man damit rechnen, daß andere Soldaten ihn finden und auf die Idee kommen, uns alle zu verhören, um uns am Ende gar die Schuld am Tod ihres Kameraden zu geben.«

»Dieser Mann, dieser Sebastian, scheint zu wissen, wovon er spricht.«

»Das fand ich auch. Ich hatte den toten Soldaten eigentlich zudecken und irgendwo verstecken wollen, aber er war ein Hüne – allein hätte ich ihn niemals von der Stelle bewegen können. Gemeinsam ist es uns dann gelungen, ihn wegzuschleifen und in eine tiefe Felsspalte zu wälzen. Kein Mensch wird ihn finden.«

Ihre Mutter wirkte etwas erleichterter. »Das war klug.«

»Vor dem Verscharren meinte Sebastian noch, wir sollten ihm sämtliche Wertgegenstände abnehmen, statt sie in der Erde vermodern zu lassen.«

Eine Braue schoß in die Höhe. »Ach ja, hat er das?«

Jennsen nickte. Sie nahm das Geld aus ihrer Tasche und drückte ihrer Mutter die gesamte Summe in die Hand.

»Sebastian bestand darauf, daß ich alles nehme. Es sind Goldmünzen darunter. Er selber wollte nichts davon.«

Ihre Mutter betrachtete das Vermögen in ihrer Hand, dann blickte sie kurz hinüber zu dem Pfad, wo Sebastian wartete. Sie beugte sich weiter vor.

»Wenn er dich begleitet hat, Jenn, dann glaubt er womöglich, daß er sich das Geld jederzeit zurückholen kann. Er könnte sich großzügig geben, um dein Vertrauen zu gewinnen.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«

Der Tonfall ihrer Mutter wurde milder und verständnisvoller. »Du kannst nichts dafür, Jenn – ich habe dich immer so behütet –, aber du weißt eben nicht zu was Männer fähig sind.«

Jennsen wich den wissenden Augen ihrer Mutter aus und senkte den Blick. »Das mag vielleicht stimmen, aber eigentlich glaube ich es nicht.«

»Und warum nicht?«

Jennsen sah wieder auf, entschiedener diesmal. »Er hat Fieber, Mutter. Es geht ihm nicht gut. Er wollte schon gehen, ohne mich überhaupt zu fragen, ob er mich begleiten darf. Und er hatte sich längst von mir verabschiedet. Ich rief ihn zurück und erklärte ihm, wenn du einverstanden wärst, könne er in der Höhle bei den Tieren schlafen, wo er es wenigstens warm und trocken hätte.«

Nach einem Augenblick des Schweigens fügte Jennsen hinzu, »Er meinte noch, er hätte Verständnis dafür, wenn du keinen Fremden in der Nähe haben möchtest, und würde in dem Fall einfach seiner Wege gehen.«

»Das hat er tatsächlich gesagt? Nun, Jenn, dies bedeutet entweder, er ist sehr ehrlich oder überaus gerissen.« Sie sah Jennsen ernst in die Augen. »Was, glaubst du wohl, trifft zu, hm?«

Jennsen wirkte verlegen. »Ich weiß es nicht, Mutter, ehrlich nicht. Ich habe mir dieselben Fragen gestellt wie du, wirklich.«

Dann fiel es ihr wieder ein. »Er sagte, er wolle, daß du das hier bekommst, damit du dich vor keinem Fremden fürchten mußt, der in der Nähe übernachtet.«

Jennsen nahm das Messer mitsamt Scheide und reichte es ihrer Mutter; der silberne Griff blinkte im matten, gelblichen Licht.

Einen verblüfften Ausdruck in den Augen, ergriff ihre Mutter es zögernd mit beiden Händen, während sie leise murmelte, »Gütige Seelen.«

»Ich weiß«, meinte Jennsen. »Als ich es sah, hätte ich vor Schreck fast laut aufgeschrien. Sebastian meinte, es sei eine sehr noble Waffe, viel zu nobel, um sie zu vergraben, deshalb wollte er, daß ich sie an mich nehme. Das Kurzschwert des Soldaten und die Axt hat er selbst behalten. Als ich ihm daraufhin erklärte, ich würde es dir schenken, meinte er, er hoffe, es werde dir helfen, dich sicher zu fühlen.«

Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Dieses Ding wird mir ganz und gar nicht helfen, mich sicher zu fühlen – erst recht nicht, seit ich weiß, daß der Mann, der es bei sich trug, ganz in unserer Nähe war. Jenn, das Ganze gefällt mir nicht. Absolut nicht.«

»Sebastian ist krank, Mutter. Kann er nicht in der Höhle übernachten? Ich ließ durchblicken, daß er von uns mehr zu befürchten hat als wir von ihm.«

Ihre Mutter sah verschmitzt lächelnd auf. »Kluges Mädchen.« Sie wußten beide, daß sie als Gespann zusammenarbeiten mußten, wenn sie überleben wollten.

Daraufhin seufzte sie, als bedrücke sie das Wissen um all die Dinge, die ihre Tochter im Leben entbehren mußte. Zärtlich strich sie Jennsen mit der Hand durchs Haar.

»Also gut, meine Kleine«, meinte sie schließlich, »heute Nacht werden wir ihn hier schlafen lassen.«

»Und ihm etwas zu essen geben. Ich hab ihm eine warme Mahlzeit für seine Hilfe versprochen.«

Das innige Lächeln ihrer Mutter wurde breiter. »Also gut, und eine Mahlzeit.«

Noch immer hielt sie das Messer in der Hand und betrachtete nachdenklich das fein ziselierte »R«. Jennsen vermochte sich nicht vorzustellen, welche grauenhaften Gedanken – und Erinnerungen – ihrer Mutter durch den Kopf gehen mußten, während sie schweigend das Wahrzeichen des Hauses Rahl betrachtete.

»Gütige Seelen«, meinte ihre Mutter noch einmal leise bei sich.

Jennsen schwieg, wußte sie doch nur zu gut, daß es ein häßlicher, ein schändlicher Gegenstand war.

»Mutter«, meinte Jennsen leise, nachdem diese den Griff sehr lange betrachtet hatte, »es ist fast dunkel. Darf ich jetzt Sebastian holen gehen und ihn zur Höhle bringen?«

Ihre Mutter schob die Klinge zurück in die Scheide, als wollte sie sich mit dieser Geste gleichzeitig einer endlosen Folge schmerzhafter Erinnerungen entledigen.

»Ja, vermutlich ist es besser, wenn du ihn jetzt holst. Bring ihn zur Höhle und zünde ihm ein Feuer an. Ich werde die Fische zubereiten und ihm ein paar Kräuter mitbringen, damit er trotz seines Fiebers schlafen kann. Bleib bei ihm, bis ich komme, und laß ihn nicht aus den Augen. Wir werden zusammen mit ihm dort draußen essen, denn im Haus will ich ihn nicht haben.«

Bevor ihre Mutter wieder ins Haus gehen konnte, hielt Jennsen sie mit einer sachten Berührung am Arm zurück, denn sie mußte ihr ja noch etwas gestehen. Liebend gern hätte sie ihr diesen Kummer erspart, doch es führte kein Weg daran vorbei.

»Mutter«, sagte sie mit einer Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, »wir werden dieses Haus aufgeben müssen.«

Ihre Mutter war entsetzt.

»Ich habe bei dem d’Haranischen Soldaten noch etwas gefunden.«

Jennsen zog das Stück Papier aus der Tasche, faltete es auseinander und zeigte es ihr.

Ihre Mutter erfaßte die beiden Worte auf dem Papier mit einem Blick.

»Gütige Seelen ...«, war alles, was sie sagte.

Sie wandte sich um und schaute, alles in sich aufnehmend, zum Haus hinüber, als ihr plötzlich die Tränen in die Augen traten. Jennsen wußte, daß auch ihre Mutter es mittlerweile als ihr Zuhause betrachtete.

»Gütige Seelen«, wiederholte ihre Mutter leise bei sich, um jedes weitere Wort verlegen.

Jennsen brach es fast das Herz, ihre Mutter solche Seelenqualen erleiden zu sehen. Was immer Jennsen im Leben hatte missen müssen – ihre Mutter hatte es doppelt entbehrt, einmal für sich selbst, und einmal für ihre Tochter. Und zu allem Überfluß hatte sie dabei auch noch stark sein müssen.

»Wir brechen gleich im Morgengrauen auf«, entschied ihre Mutter schlicht. »Ein Fußmarsch nachts und bei Regen würde uns nicht weiterhelfen. Wir werden uns ein neues Versteck suchen müssen. Diesem ist er bereits zu nahe gekommen.«

Mittlerweile standen auch Jennsen die Tränen in den Augen, und das Sprechen fiel ihr mehr als schwer. »Es tut mir unendlich leid, Mama, daß ich dir so viel Kummer mache.« Dann kamen ihr die Tränen in einer quälenden, unaufhaltsamen Flut. Ihre Hände zu Fäusten ballend, zerknüllte sie das Stück Papier.

Daraufhin schloß ihre Mutter sie in die Arme. »Ach, Unsinn, meine Kleine. So etwas darfst du niemals sagen. Du bist mein Licht mein Leben. An meinem Kummer sind ganz andere schuld. Du darfst dich niemals hinter Schuldgefühlen verstecken, nur weil diese Menschen böse sind. Du bist das Wunderbarste in meinem Leben, für dich würde ich alles andere tausendmal und mehr aufgeben, und das mit Freuden.«

Schließlich löste sie sich aus der Umarmung ihrer Mutter. »Mama, Sebastian kommt von sehr weit her, hat er mir erzählt. Er sagte, er stamme aus einem Land jenseits von D’Hara. Es gibt also noch andere Orte – andere Länder. Er kennt sie; ist das nicht wunderbar? Es gibt einen Ort, der nicht zu D’Hara gehört.«

»Aber diese Länder liegen jenseits unüberwindbarer Grenzen.«

»Wie kommt es dann, daß er hier ist?«

»Und Sebastian stammt tatsächlich aus einem dieser anderen Länder?«

»Unten im Süden, hat er gesagt.«

»Im Süden?«

»Ja.« Jennsen bekräftigte ihre Antwort mit einem entschiedenen Nicken. »Er erwähnte es ganz beiläufig. Vielleicht könnte er uns den Weg dorthin zeigen, Mutter. Wenn wir ihn darum bitten, führt er uns vielleicht aus diesem schlimmen Land hier hinaus.«

Jennsen konnte sehen, daß ihre sonst so vernünftige Mutter sich diese abwegige Idee durch den Kopf gehen ließ. Verrückt war der Gedanke jedenfalls nicht – ihre Mutter dachte darüber nach, also konnte er gar nicht verrückt sein. Plötzlich war Jennsen von dem Gefühl der Hoffnung erfüllt, ihr könnte vielleicht etwas eingefallen sein, das sie am Ende retten würde.

»Warum sollte er das für uns tun?«

»Ich weiß es nicht. Auch weiß ich nicht einmal, ob er es überhaupt in Erwägung ziehen oder was er dafür verlangen würde, danach habe ich ihn gar nicht gefragt. Ich habe mich nicht mal getraut, es überhaupt zu erwähnen, bevor ich nicht mit dir gesprochen hatte. Deswegen wollte ich zum Teil ja auch, daß er hier bleibt – damit du ihn aushorchen kannst.«

Ihre Mutter drehte sich abermals um und betrachtete das Haus. Es war winzig, bestand nur aus einem einzigen Raum und war – aus Stämmen und Brettern erbaut, die sie selbst zurechtgehauen hatten – wahrlich nichts Besonderes, aber es war warm, gemütlich und trocken. Die Vorstellung, mitten im tiefsten Winter von hier fortzugehen, war beängstigend. Aber die Alternative, ergriffen zu werden, war weitaus schlimmer.

Schließlich hatte sich ihre Mutter wieder gefaßt und sagte, »Das war klug von dir, Jenn. Ich weiß nicht, ob die Idee zu etwas führen kann, aber wir werden mit Sebastian sprechen und dann weitersehen. Eins steht jedenfalls fest, Wir müssen von hier fort. Bis zum Frühjahr dürfen wir nicht warten – nicht, wenn sie uns schon so dicht auf den Fersen sind. Im Morgengrauen brechen wir auf.«

»Wo werden wir diesmal hingehen, Mutter, falls Sebastian uns nicht aus D’Hara hinausbringt?«

Ihre Mutter lächelte. »Die Welt ist groß, wir dagegen sind nur zwei unbedeutende Menschen. Wir werden uns einfach wieder einmal unsichtbar machen. Ich weiß, es ist schwer, aber wenigstens sind wir zusammen. Alles wird gut werden. Vielleicht werden wir ein wenig mehr von der Welt zu sehen bekommen, was meinst du? Und jetzt geh Sebastian holen und bringe ihn zur Höhle. Ich werde inzwischen mit dem Abendessen anfangen.«

Jennsen drückte ihrer Mutter noch schnell einen Kuß auf die Wange, dann lief sie den Pfad hinunter. Es hatte gerade angefangen zu regnen, und unter den Bäumen war es so finster, daß sie kaum etwas erkennen konnte. Die Bäume waren für sie allesamt d’Haranische Soldaten, mächtig, stark, bedrohlich. Sie wußte. sie würde Alpträume bekommen, sollte sie jemals einen echten d’Haranischen Soldaten aus der Nähe sehen.

Sebastian saß noch immer auf dem Felsen; als sie auf ihn zugerannt kam, erhob er sich.

»Meine Mutter meinte, es ist in Ordnung, wenn Ihr in der Höhle bei den Tieren schlaft. Sie hat bereits mit dem Braten der Fische für uns angefangen. Und sie würde Euch gern kennen lernen.«

Ihr zuliebe brachte er trotz seiner Müdigkeit ein zaghaftes Lächeln zustande. Jennsen faßte ihn am Handgelenk und drängte ihn, ihr zu folgen; er zitterte bereits vor Nässe, doch sein Arm fühlte sich warm an. So war es, wenn man Fieber hatte, sie kannte das. Man zitterte, obwohl man innerlich glühte. Aber nach einer Mahlzeit, ein paar Kräutern und einer durchschlafenen Nacht würde es ihm ganz bestimmt schon bald wieder besser gehen.

Was sie dagegen nicht mit Sicherheit wußte, war, ob er ihnen helfen würde.

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