26

Flankiert von den beiden Männern in silberfarbenen Gewändern stieg der Palastbeamte in seinem weißen, wallenden Gewand die breite Außentreppe hoch. Jennsen hielt einen ihrer Einschätzung nach gebührenden Abstand zu den Männern. Als der Mann in Weiß bemerkte, daß sie ein wenig zurückblieb, mäßigte er sein Tempo, um sie aufholen zu lassen. Entsprechend langsamer ging Jennsen, um den Abstand aufrechtzuerhalten. Nach einem nervösen Blick hinter sich wurde er noch langsamer, woraufhin Jennsen ihr Tempo ebenfalls weiter verringerte, bis die drei Männer, Jennsen sowie die hinter ihr gehenden Soldaten auf jeder Stufe eine kleine, umständliche Pause einlegten.

Als sie den nächsten Absatz der breiten, sonnenbeschienenen Treppe erreichten, blickte der Mann abermals über seine Schulter. Jennsen gestikulierte ungeduldig. Schließlich begriff er, daß sie nicht die Absicht hatte, neben ihm zu gehen, sondern von ihm erwartete, daß er die Prozession anführte. Der Mann ließ sich darauf ein; er beschleunigte seine Schritte, billigte ihr den geforderten Abstand zu und fand sich schließlich mit der Rolle ab, ihren bescheidenen Herold zu spielen.

Bemüht, Jennsens Abstand zu ihrem Vordermann zu verdoppeln, erklommen der Offizier unbekannten Ranges und sein Dutzend Soldaten die Stufen mit kleinen, zögernden Schritten; ein für ihre Begleiter ebenso unerwartetes wie schwieriges Unterfangen. Genau das hatte sie beabsichtigt, Das Ablenkungsmanöver sollte sie, ebenso wie ihr rotes Haar, verwirren und verunsichern.

Am oberen Treppenende befand sich, zurückversetzt hinter kolossalen Säulen, eine hohe, mit Reliefarbeiten verzierte Doppeltür aus Messing. Die gesamte Fassade des vor ihnen aufragenden Palasts war einer der grandiosesten Anblicke, die Jennsen je gesehen hatte, doch galten ihre Gedanken nicht den architektonischen Feinheiten des Eingangsportals, sondern vielmehr dem, was sich dahinter verbarg.

Sie passierten die Schatten der in den Himmel ragenden Säulen und schritten durch die Eingangstür; das Dutzend Soldaten, mit seinen klirrenden Waffen, Gurten und Kettenhemden, folgte ihr noch immer dicht auf den Fersen. Die Geräusche ihrer Stiefel auf dem polierten Marmorboden hallten von den Wänden der grandiosen, von gekehlten Pfeilern gesäumten Vorhalle wider.

Nachdem der Mann in Weiß den beiden in silberfarbenen Roben etwas zugeflüstert hatte, nickten diese, liefen voraus und verschwanden um eine Ecke. Die Palastwache folgte in gebührendem Abstand.

Die Prozession wand sich durch ein Labyrinth enger Korridore und drängte sich auf engen Dienstbotentreppen zusammen, auf denen es nach unten ging. Mehrmals bogen Jennsen und ihre Begleiter an kreuzenden Fluren ab, durchschritten schlecht beleuchtete Korridore und traten durch Türen, die in weitläufige Säle führten, stiegen in gewissen Abständen über eine Reihe von Treppen immer weiter nach unten, bis Jennsen sich den Weg nicht mehr merken konnte. Aus dem verstaubten Zustand einiger der schäbigen Treppenhäuser sowie dem muffigen Geruch in den offenbar wenig benutzten Fluren schloß sie, daß der Mann in Weiß sie auf einer Abkürzung durch den Palast führte, um sie so schnell wie möglich an ihr Ziel zu bringen.

Jennsen ermahnte sich, auf jeden Fall an ihrem Plan festzuhalten, ganz gleich, in welchem Zustand Sebastian sich befand. Sich ihre Überraschung anmerken zu lassen, in Tränen auszubrechen, sich ihm an den Hals zu werfen oder zu jammern – all das würde keinem von ihnen weiterhelfen. Hoffentlich konnte sie sich das alles auch noch merken, wenn sie vor ihm stand.

Der weißgekleidete Mann sah auf ihr Gesuch hin nach, was Sebastian vorgeworfen wurde, dann bog er in ein steinernes Treppenhaus ein. Die unangenehm steile Treppenflucht schraubte sich hinab, um schließlich in einem tiefer gelegenen Durchgang zu enden, der vom gespenstisch flackernden Licht einiger in niedrigen Bodenhalterungen steckenden Fackeln beleuchtet wurde, statt von Lampen und Reflektoren, wie sie für die Beleuchtung der oberen Gänge verwendet wurden.

Die beiden Männer in den silberfarbenen Gewändern, die schon vorgegangen waren, erwarteten sie am Fuß der Treppe. Unter den niedrigen Deckenbalken hingen Schwaden dunstigen Rauches, was zur Folge hatte, daß es überall nach verbranntem Pech stank. Sie konnte ihren Atem in der kalten Luft sehen, und tief in ihrem Innern spürte Jennsen, wie weit unterhalb des Palasts des Volkes sie sich befanden. Einen kurzen, beklemmenden Augenblick lang fühlte sie sich daran erinnert, wie es war in den dunklen, bodenlosen Fluten des Sumpfes zu versinken.

Vor einer eisenbeschlagenen Tür, die den nach links führenden Seitengang versperrte, stand, die Füße leicht gespreizt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Kinn etwas emporgereckt, ein kräftig gebauter Mann. Sein ganzes Auftreten, seine Größe und seine Art, sie mit seinem stechenden, unbeugsamen Blick zu fixieren, verschlug ihr fast den Atem.

Am liebsten hätte sie Reißaus genommen. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ihr könnte ein solcher Streich gelingen? Wer war sie überhaupt? Ein Niemand.

Althea hatte ihr erklärt, dem sei keineswegs so, es sei denn, sie sorge selbst dafür. Jennsen hatte gern ebenso viel Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten gehabt wie offenbar Althea.

Ihr Führer schaute Jennsen in die Augen und stellte sie einander mit einer Handbewegung vor. »Captain Lerner. Wie Ihr verlangt habt.« Damit wandte er sich dem Captain zu und deutete mit seiner anderen Hand auf Jennsen. »Eine persönliche Bevollmächtigte des Lord Rahl. Behauptet sie.«

Der Captain bedachte den Mann in Weiß mit einem grimmigen Lächeln.

»Danke«, sagte sie an die Männer gewandt, die sie begleitet hatten. »Das wäre dann alles.«

Der Mann in Weiß öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, besann sich aber, als er ihrem Blick begegnete, eines Besseren und verbeugte sich. Dann forderte er erst die beiden anderen Männer in Silber und schließlich auch die Soldaten auf, sich gemeinsam mit ihm zu entfernen.

»Ich bin auf der Suche nach einem Mann, der, wie mir zu Ohren kam, festgenommen wurde«, erklärte sie dem hünenhaften Mann, der die Tür versperrte.

»Was wirft man ihm vor?«

»Offenbar hat da jemand etwas durcheinander gebracht. Er wurde versehentlich verhaftet.«

»Wer behauptet denn, daß es ein Versehen war?«

Jennsen zog ihr Messer aus der Scheide und ließ den Soldaten wie beiläufig den Griff sehen. »Ich.«

Er erfaßte die Verzierung kurz mit seinem eisenharten Blick, was aber nichts an der entspannten Haltung seines Körpers änderte, der nach wie vor die Eisentür in den dahinter liegenden Korridor blockierte. Jennsen ließ das Messer um die Finger wirbeln, fing es am Griff auf und schob es elegant in die Scheide an ihrem Gürtel zurück.

»Ich hatte auch mal eins davon, früher«, sagte er, mit einem Nicken auf das Messer deutend, das sie in die Scheide zurückgeschoben hatte. »Ist schon ein paar Jahre her.«

»Und jetzt nicht mehr?« Sie drückte leicht auf den Handschutz, bis sie spürte, daß das Messer mit einem Klicken einrastete.

Er zuckte mit den Achseln. »Irgendwann wird man es leid, sein Leben ständig für den Lord Rahl aufs Spiel zu setzen.«

Jennsen befürchtete, er könnte sie etwas über Lord Rahl fragen, etwas, auf das sie keine Antwort wußte, obwohl sie das eigentlich sollte. Um ihm zuvorzukommen, sagte sie, »Ihr habt also unter Darken Rahl gedient. Das war vor meiner Zeit. Es muß eine große Ehre gewesen sein, diesen Mann gekannt zu haben.«

»Ihr habt ihn ganz offensichtlich nicht gekannt.«

Sie war davon ausgegangen, daß jeder in Staatsdiensten ein loyaler Gefolgsmann sein müsse, und hielt es für das Klügste, an dieser Annahme festzuhalten. Doch dem war offenbar nicht so.

Captain Lerner drehte den Kopf zur Seite und spuckte aus, dann sah er sie herausfordernd an. »Darken Rahl war ein geisteskranker Hurensohn. Ich hätte ihm liebend gern ein Messer zwischen die Rippen gestoßen und es säuberlich herumgedreht.«

Trotz ihrer Ängstlichkeit blieb sie nach außen hin ruhig und gefaßt.

»Warum habt Ihr es dann nicht getan?«

»Gesunder Menschenverstand zahlt sich nicht aus. wenn die ganze Welt verrückt spielt. Ich habe schließlich durchblicken lassen, zu alt zu sein, und statt dessen die Arbeit hier unten angenommen. Schließlich hat ein Besserer, als ich es jemals war, Darken Rahl zum Hüter gejagt.«

Diese überraschende Gefühlsregung brachte Jennsen vollends aus dem Konzept. Sie vermochte nicht einzuschätzen, ob der Mann Darken Rahl tatsächlich gehaßt hatte, oder ob er dies nur vor ihr behauptete, um seine Ergebenheit gegenüber dem neuen Lord Rahl, Richard, zu beweisen, der seinen Vater umgebracht und die Macht an sich gerissen hatte.

»Nun, Tom sagte mir, Ihr wäret nicht dumm. Ich nehme an, er wußte, wovon er sprach.«

Daraufhin fing der Captain an zu lachen; es war ein tiefes, von Herzen kommendes Lachen, das Jennsen unerwartet schmunzeln ließ, so unpassend erschien es ihr bei einem Mann, der ansonsten aussah, als sei der Tod sein bester Freund.

»Tom muß es ja wissen.« Er salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz, während sein Gesicht einen versöhnlicheren Zug annahm und er ganz unbekümmert lächelte. Wieder einmal hatte Tom ihr geholfen.

Jennsen schlug sich ebenfalls mit der Faust aufs Herz und erwiderte den militärischen Gruß. Es schien ihr das Richtige zu sein. »Ich heiße Jennsen.«

»Freut mich, Jennsen.« Er seufzte. »Hatte ich den neuen Lord Rahl so gekannt wie Ihr, vielleicht wäre ich dann immer noch im Dienst, zusammen mit Euch. Aber da hatte ich bereits gekündigt und mich nach hier unten versetzen lassen. Unter dem neuen Lord Rahl hat sich alles verändert, alle Regeln – er hat die Welt geradezu auf den Kopf gestellt, könnte man sagen.«

Jennsen befürchtete, daß sie im Begriff war, sich auf gefährliches Terrain zu begeben. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Mann damit meinte, und deshalb Angst, etwas darauf zu erwidern. Also nickte sie einfach nur und brachte das Gespräch wieder auf den Grund für ihr Kommen.

»Jetzt verstehe ich, warum Tom sagte, Ihr wäret der Mann, an den man sich wenden müßte.«

»Worum geht es überhaupt, Jennsen?«

Sie atmete ganz zwanglos tief durch, um sich zu wappnen. Hundertmal hatte sie sich alles zurechtgelegt, vor und zurück überlegt, und war nun auf alle Möglichkeiten vorbereitet, wie sie hoffte.

»Euch ist natürlich bekannt, daß wir, die wir Lord Rahl in dieser Position dienen, nicht immer jedem erzählen können, was wir tun oder wer wir sind.«

Captain Lerner nickte. »Natürlich.«

Jennsen verschränkte die Arme und versuchte entspannt zu wirken, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. Die riskanteste Kuppe war genommen, sie hatte also richtig vermutet.

»Nun, ich hatte einen Mann bei mir, mit dem ich zusammenarbeite«, fuhr Jennsen fort. »Wie ich hörte, hat man ihn gefangen genommen, was mich nicht wirklich überrascht. Der Mann fallt in der Menge auf – was jedoch genau den Anforderungen unseres Auftrags entsprach. Leider wurde offenbar auch die Palastwache auf ihn aufmerksam. Wegen unseres Auftrags und der Leute, mit denen wir es zu tun haben, war er schwer bewaffnet, was die Wachen, die ihn gefangen genommen haben, zweifellos nervös gemacht haben dürfte.

Da er zuvor noch nie hier war wußte er nicht, wem er vertrauen konnte, und im Übrigen sind wir hinter Verrätern her.«

Der Captain hatte die Stirn in Falten gelegt und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Verräter? Hier, im Palast?«

»Noch wissen wir es nicht sicher. Wir vermuten aber, daß Agenten eingeschleust wurden – die Leute, hinter denen wir her sind –, weswegen er es nicht gewagt hat, sich jemandem anzuvertrauen. Käme seine wahre Identität den falschen Leuten zu Ohren, brächte das uns alle in Gefahr. Ich bezweifle sogar, daß er Euch seinen richtigen Namen genannt hat. auszuschließen ist es aber nicht – Sebastian. Aufgrund unserer Gefährdung wird er sich darüber im Klaren gewesen sein, daß das Risiko für die anderen in unserer Truppe um so geringer ist, je weniger er sagt.«

Er hatte den Blick, offenbar ganz gefesselt von ihrer Geschichte, in die Ferne gerichtet.

»Nein ... diesen Namen hat kein Gefangener angegeben.« Er runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. »Wie sieht er aus?«

»Einige Jahre älter als ich, blaue Augen, kurzes, weißes Haar.«

Die Beschreibung kam dem Captain sofort bekannt vor. »Ach, der.«

»Dann sind meine Informationen korrekt? Ihr habt ihn hier bei Euch?«

»Ja, er ist hier bei uns. Das heißt, wenn wir tatsächlich vom selben Mann reden. Eure Beschreibung scheint jedenfalls zu passen.«

»Gut. Ich brauche ihn unbedingt zurück, denn ich habe dringende Aufgaben für ihn, die keinerlei Aufschub dulden. Wir müssen sofort aufbrechen, bevor die Spur weiter erkaltet. Am besten machen wir kein großes Aufhebens um seine Freilassung. Wir müssen so unbeobachtet wie möglich verschwinden, da es dem Verschwörerring gelungen sein könnte, bis in die Armee einzudringen.«

Captain Lerner verschränkte die Arme, beugte sich seufzend ein wenig zu ihr herunter und sah sie an, etwa so, wie ein großer Bruder seine kleine Schwester ansehen mochte. »Seid Ihr sicher, daß er zu Euren Leuten gehört, Jennsen?«

Jennsen hatte Angst, ihren Bluff zu überziehen. »Er wurde vor allem deswegen für diesen Auftrag ausgewählt, weil kein Soldat vermuten würde, daß er zu uns gehört. Wenn man ihn so vor sich sieht, käme man nie darauf. Wie sich gezeigt hat, versteht er sich darauf, ganz nah an die Verschwörer heranzukommen, ohne sie Wind davon bekommen zu lassen, daß er zu uns gehört.«

»Aber täuscht Ihr Euch auch bestimmt nicht über die Gesinnung des Mannes? Seid Ihr absolut sicher, daß er Lord Rahl niemals auch nur der geringsten Gefahr aussetzen würde?«

»Sebastian gehört zu meinen Leuten, daran besteht kein Zweifel, aber ich weiß natürlich nicht, ob Euer Gefangener auch tatsachlich mein Sebastian ist. Ich denke, am besten werfe ich einen Blick auf ihn, um ganz sicher zu sein. Warum fragt Ihr?«

Der Captain blickte kopfschüttelnd in die Ferne. »Ich weiß nicht recht. Viele Jahre lang habe ich das Messer getragen, so wie Ihr dies jetzt offenbar auch vorhabt, und Orte aufgesucht, wo man es nicht tragen kann, weil man damit seine wahre Identität preisgäbe. Ich muß Euch nicht erklären, daß man durch dieses Leben in ständiger Gefahr ein gewisses Gespür für Menschen bekommt. Dieser junge Mann mit den weißen Haaren hat etwas an sich, bei dem sich mir die Nackenhaare sträuben.«

Jennsen wußte nichts darauf zu erwidern. Der Captain war doppelt so kräftig gebaut wie Sebastian, seine äußere Erscheinung konnte es also kaum sein, die dem Mann so sehr zu schaffen machte. Vielleicht spürte der Captain, wie überaus gefährlich Sebastian im Umgang mit Waffen war. Die Augen des Captains hatten ihre Spielerei mit dem Messer sehr aufmerksam verfolgt.

Vielleicht erkannte der Captain auch anhand verschiedener kleiner Details, daß Sebastian kein D’Haraner war. Das könnte unangenehm werden, aber Jennsen hatte sich für alle Fälle eine Erklärung zurechtgelegt.

»Ist Tom noch immer so ein Schwerenöter?«, fragte er.

»Ach, Ihr kennt doch Tom. Er verkauft jetzt Wein, zusammen mit seinen beiden Brüdern Joe und Clayton.«

Der Captain sah sie ungläubig an. »Tom – zusammen mit seinen Brüdern? Und er verkauft Wein?« Er schüttelte den Kopf, während sein Grinsen immer breiter wurde. »Ich wußte zu gern, was er wirklich im Schilde führt.«

Jennsen zuckte mit den Achseln. »Nun, jedenfalls verkauft er das im Augenblick. Die drei ziehen durch die Gegend, kaufen Waren ein und transportieren sie hierher, um sie wieder zu verkaufen.«

Als er das hörte, gab er ihr lachend einen Klaps auf die Schulter. »Das klingt, als wollte er, daß man es überall herumerzählt. Kein Wunder, daß er Euch vertraut.«

Mittlerweile war Jennsen vollends verwirrt; um nicht aufzufliegen, wollte sie auf jeden Fall verhindern, länger in eine riskante Plauderei über Tom verwickelt zu werden. Im Grunde wußte sie kaum etwas über ihn, dieser Mann hier jedoch augenscheinlich schon.

»Ich denke, ich sollte mir jetzt den Burschen mal ansehen, den Ihr hier bei Euch habt. Wenn es tatsächlich Sebastian ist, werde ich ihm Beine machen müssen, damit er sich endlich an die Arbeit begibt.«

»Richtig«, bestätigte Captain Lerner mit einem entschlossenen Nicken. »Wenn er tatsächlich Euer Mann ist, erfahre ich wenigstens endlich seinen Namen.« Er drehte sich zur eisenbeschlagenen Tür herum und wühlte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. »Wenn er es ist, kann er von Glück reden, daß Ihr ihn holen gekommen seid, bevor eine von diesen rot gekleideten Frauen auftaucht, um ihn zu verhören. Denen würde er in kürzester Zeit sehr viel mehr als seinen Namen nennen. Er hätte sich selbst und Euch eine Menge Ärger ersparen können, wenn er uns gleich zu Beginn gesagt hätte, was es mit ihm auf sich hat.«

Jennsen wurde fast schwindlig vor Erleichterung, daß Sebastian nicht von einer Mord-Sith gefoltert worden war. »Wenn man im Auftrag des Lord Rahl unterwegs ist, hält man sich bedeckt«, antwortete sie. »Sebastian weiß, zu welchen Opfern man für unsere Arbeit bereit sein muß.«

Der Captain gab ein zustimmendes Brummen von sich, während er den Schlüssel herumdrehte. Der Riegel löste sich mit einem hallenden, metallischen Schnappen. »Für diesen Lord Rahl würde ich ebenfalls meinen Mund halten – selbst wenn eine Mord-Sith mir Fragen stellt. Aber offenbar kennt Ihr Lord Rahl besser als ich, daher brauche ich Euch das wohl nicht zu erzählen.«

Jennsen verstand keineswegs, was er meinte, fragte aber auch nicht weiter nach. Als der Captain an der Tür zog, gab sie ganz allmählich nach, und man sah einen langen, von wenigen über die gesamte Länge verteilten Kerzen beleuchteten Gang. Zu beiden Seiten waren Türen mit kleinen vergitterten Öffnungen darin. Als sie daran vorübergingen, wurden ihnen aus etlichen dieser Öffnungen Arme entgegengestreckt. Aus dem Dunkel dahinter drang das Gebrüll von Stimmen, die sie mit abscheulichen Flüchen und Verwünschungen überhäuften. An den greifenden Händen und den zahllosen Stimmen erkannte sie, daß in jeder Zelle mehr als nur ein paar Gefangene untergebracht waren.

Jennsen folgte dem Captain immer tiefer in das Festungsgefängnis. Sie war schockiert über die schlüpfrigen, vulgären Bemerkungen und auch über das johlende Gelächter der Gefangenen, ließ sich ihre Beklommenheit und Angst aber nicht anmerken und setzte eine gleichgültige Miene auf.

Captain Lerner hielt sich in der Mitte des Ganges und schlug gelegentlich eine nach ihm greifende Hand weg. »Nehmt Euch in acht«, warnte er sie.

Jennsen wollte gerade nach dem Grund fragen, als jemand mit etwas Nassem, Glitschigem nach ihr warf. Das Zeug verfehlte sie und klatschte an die gegenüberliegende Wand. Zu ihrem Entsetzen sah sie, daß es Exkremente waren. Mehrere andere Männer folgten diesem Beispiel, und Jennsen mußte sich ducken, um nicht getroffen zu werden. Unvermittelt trat der Captain gegen eine Zellentür; das Scheppern des Fußtritts hallte den Gang auf und ab, eine Warnung, die die Männer bewog, sich in den Hintergrund ihrer Zellen zurückzuziehen. Erst als der wütend dreinblickende Captain überzeugt war daß alle seine Botschaft verstanden hatten, setzte er seinen Weg fort.

Jennsen konnte sich nicht enthalten, ihn mit leiser Stimme zu fragen, »Was wirft man all diesen Männern eigentlich vor?«

Der Captain warf einen Blick über die Schulter. »Alles Mögliche, Mord, Vergewaltigung und Ähnliches mehr. Einige von ihnen sind Spione, die Sorte Kerle, hinter denen ihr her seid.«

Der Gestank war so entsetzlich, daß sie sich fast übergeben hätte. Der blanke Haß der Gefängnisinsassen mochte ja noch verständlich sein, überlegte sie. aber so viel Mitgefühl sie auch für die Gefangenen der Soldaten des Lord Rahl aufbrachte, für Männer, die gegen seine brutale Herrschaft aufbegehrten – ihr Verhalten ließ jeden Vorwurf der Verdorbenheit berechtigt erscheinen. Jennsen blieb Captain Lerner dicht auf den Fersen, als dieser in einen Seitengang einbog.

Er entnahm einer in den Fels geschlagenen Nische eine Laterne und zündete sie an einer in der Nähe befestigten Kerze an. Der Schein der Laterne war gerade hell genug, um ein wenig Licht in diesen Alptraum zu werfen und alles noch erschreckender wirken zu lassen.

Schließlich mußte eine weitere Verbindungstür aufgeschlossen werden, hinter der sie in einen niedrigen Gang gelangten, dessen Türen in sehr viel dichteren Abständen aufeinander folgten. Sie vermutete, daß dies die Einzelzellen waren. Am Ende angekommen, entriegelte Captain Lerner eine weitere Verbindungstür, und sie gelangten in einen noch schmaleren Gang, der kaum breiter war als seine Schultern. Der Captain blieb stehen und hielt die Laterne hoch, um durch das winzige Loch in der Tür rechter Hand zu sehen. Zufrieden mit dem, was er sah, drückte er ihr die Laterne in die Hand und entriegelte die Tür.

»In diesem Teil hier sind ganz besondere Gefangene untergebracht«, sagte er zur Erläuterung.

Er mußte mit beiden Händen zupacken und sein ganzes Körpergewicht einsetzen, um die Tür aufzuziehen, die sich daraufhin mit protestierendem Kreischen in Bewegung setzte. Drinnen erkannte Jennsen zu ihrer Überraschung, daß es sich nur um einen kleinen, leeren Vorraum mit einer zweiten Tür am anderen Ende handelte. Die Zellen waren mit einer Doppeltür versehen, um eine Flucht noch unwahrscheinlicher zu machen. Nachdem er auch die zweite Tür entriegelt hatte, nahm er die Laterne wieder an sich.

Der Captain duckte sich durch den engen Durchgang; dabei schob er das Licht voran, so daß sein massiger, den Türrahmen ausfüllender Körper sie für einen Moment in völliger Dunkelheit zurückließ. Sobald er hindurch war, reichte er ihr eine stützende Hand, damit sie nicht über die hohe Schwelle stolperte. Jennsen ergriff die Hand des hünenhaften Mannes und trat in die Zelle. Sie war geräumiger als erwartet und schien aus dem massiven Muttergestein des Plateaus gehauen worden zu sein.

Sebastian saß auf einer in den Stein gehauenen Bank auf der gegenüberliegenden Seite. Er hatte sie vom Augenblick ihres Eintretens an mit seinen blauen Augen verfolgt, Augen, denen sie anzusehen glaubte, wie sehr er sich danach sehnte, diesen Ort verlassen zu können. Nichtsdestoweniger ließ er sich keinerlei Regung anmerken und schwieg. Dem äußeren Anschein nach wäre kein Mensch darauf gekommen, daß die beiden einander kannten.

Er hatte seinen Umhang säuberlich zusammengefaltet und benutzte ihn auf dem kalten Stein als Kopfkissen. Ganz in der Nähe stand ein Wassergefäß. Seine Kleidung war ordentlich; nichts an ihm deutete darauf hin, daß er mißhandelt worden wäre.

Es tat so gut, sein Gesicht wiederzusehen, seine Augen, sein weißes Stoppelhaar. Er benetzte sich die Lippen, diese wunderschönen Lippen, mit denen er sie so oft angelächelt hatte. Jetzt wagte er allerdings nicht zu lächeln.

Der Captain wies mit der Laterne auf ihn. »Ist er das?«

»Er ist es, Captain.«

Sebastians Augen waren fest auf sie geheftet, als sie vortrat. Sie mußte einen Moment innehalten, um sicher zu sein, daß sie ihre Stimme unter Kontrolle hatte. »Alles in Ordnung, Sebastian. Captain Lerner hier weiß, daß Ihr zu meiner Gruppe gehört.« Sie tätschelte den Griff ihres Messers. »Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß er Eure Identität vertraulich behandelt.«

Captain Lerner reichte ihm die Hand. »Freut mich, Euch kennen zu lernen, Sebastian. Das Mißverständnis tut mir leid. Ich habe früher auch gedient, daher weiß ich, wie notwendig Geheimhaltung ist.«

Sebastian erhob sich und schüttelte dem Mann die Hand. »Nichts für ungut. Captain. Ich kann unseren Leuten keinen Vorwurf machen, daß sie ihre Arbeit tun.«

Er wußte nichts von ihrem Plan und schien auf einen Fingerzeig von ihr zu warten. Ungeduldig gestikulierend stellte sie ihm eine Frage, von der sie wußte, daß er sie ihr nicht würde beantworten können, durch die sie ihm aber zu verstehen geben konnte, was er sagen sollte.

»Konntet Ihr noch mit den Eindringlingen Kontakt aufnehmen, bevor die Palastwache Euch festgenommen hat? Habt Ihr noch irgenjemandes Identität feststellen und sein Vertrauen gewinnen können, oder wenigstens irgendwelche Namen in Erfahrung gebracht?«

Sebastian griff ihren Wink auf und seufzte überzeugend. »Ich fürchte nein; ich war gerade erst angekommen und hatte noch keine Gelegenheit dazu, als die Palastwache mich ...« Er senkte den Blick zu Boden. »Tut mir leid.«

Captain Lerners Blick schweifte zwischen den beiden hin und her.

Jennsen schlug einen nachsichtigen Tonfall an. »Nun, ich kann den Wachen keinen Vorwurf machen, daß sie innerhalb des Palastes kein Risiko eingehen. Wir müssen allerdings sofort aufbrechen. Ich bin mit meinen Ermittlungen ein gutes Stück vorangekommen und habe einige brauchbare Kontakte knüpfen können, deshalb kann ich unmöglich länger warten. Diese Männer sind auf der Hut, und ich brauche Euch, damit Ihr Euch an sie heranmacht. Von einer Frau werden sie sich kaum zum Trinken einladen lassen – sie kämen nur auf falsche Gedanken –, daher überlasse ich das Euch. Ich selbst habe andere Fallstricke auszulegen.«

Sebastian verfolgte ihre Ausführungen nickend, so als wäre er mit den nur in ihrer Vorstellung existierenden Aufgaben bestens vertraut. »In Ordnung.«

Der Captain wies ihnen den Weg. »Dann wollen wir Euch nicht länger aufhalten.«

Sebastian, der Jennsen nach draußen gefolgt war, sah sich um. »Ich werde meine Waffen benötigen, Captain, außerdem sämtliche Münzen, die sich in meinem Geldbeutel befanden. Das Geld gehört Lord Rahl, und ich benötige es für die Ausführung seiner Befehle.«

»Das habe ich alles in meiner Obhut, es fehlt nichts – ich gebe Euch mein Wort darauf.«

Draußen in dem engen Vorraum zog Captain Lerner die Zellentür zu. Er trug das Licht, daher hatten Jennsen und Sebastian auf ihn gewartet. Sie wollte gerade losgehen, als der Captain sachte an Sebastian vorbeilangte, ihren Arm ergriff und sie festhielt.

Jennsen erstarrte und wagte kaum zu atmen. Sie spürte, wie Sebastians Hand sich an ihrer Hüfte vorbei bis zum Griff ihres Messers tastete.

»Stimmt es eigentlich, was die Leute sich erzählen?«, fragte der Captain.

Jennsen drehte sich um und sah ihm in die Augen. »Wovon sprecht Ihr?«

»Von Lord Rahl. Davon, daß er ... irgendwie anders ist. Ich habe Soldaten über ihn reden hören – Soldaten, die ihm begegnet sind und an seiner Seite gekämpft haben. Sie erzählen sich, wie er sein Schwert handhabt, wie er kämpft und das alles, aber mehr noch erzählen sie darüber, wie er sich als Mann verhält. Stimmt es, was man sich erzählt?«

Jennsen hatte keinen Schimmer, wovon der Mann sprach.

»Wir gäben unser Leben hin für diesen Mann«, antwortete Sebastian schlagfertig und mit gebührendem Ernst. »Ich ließe mich lieber von Euch foltern und töten, als auch nur ein Wort zu verraten, das Lord Rahl in Gefahr bringen könnte.«

»Ich denke auch an kaum etwas anderes als an Lord Rahl«, fügte Jennsen milde hinzu. »Manchmal träume ich sogar von ihm.«

Der Captain lächelte zufrieden und ließ ihren Arm wieder los.

Jennsen spürte, wie Sebastian seine Hand von ihrem Messer zurückzog.

»Ich denke, das sagt wohl alles«, meinte der Captain. »Ich habe sehr lange gedient, aber diesen Traum hatte ich längst aufgegeben.« Nach kurzem Zögern fuhr er fort. »Und seine Gemahlin? Ist sie tatsächlich eine Mutter Konfessor, wie man hört? Ich habe Geschichten über solche Frauen erzählen hören, von damals, vor den Zeiten der Grenze, wußte aber nie, ob sie auch wirklich stimmen.«

Gemahlin? Jennsen wußte nichts davon, daß Lord Rahl eine Gemahlin hatte. Sie konnte sich weder vorstellen, daß dem so war, noch wie eine solche Frau beschaffen sein sollte. Im Übrigen war ihr völlig unbegreiflich, warum Lord Rahl. ein Mann, der jede Frau haben konnte, die er begehrte, um sie anschließend nach Belieben fallen zu lassen, sich die Mühe machen sollte, eine Ehe einzugehen. Außerdem war Jennsen schleierhaft, was es mit dem Begriff »Konfessor« auf sich haben sollte; schon der Titel selbst hatte einen unheilvollen Klang.

»Tut mir leid«, meinte Jennsen. »Ich bin ihr nie begegnet.«

»Ich auch nicht«, sagte Sebastian. »Aber ich habe so ziemlich das Gleiche über sie gehört wie Ihr.«

Der Captain lächelte versonnen. »Ich bin froh, daß ich noch einen Lord Rahl erlebe, der D’Hara endlich so regiert, wie es regiert werden sollte.«

Beunruhigt durch die Worte des Mannes, beunruhigt wegen seiner offensichtlichen Freude, daß dieser neue Lord Rahl im Namen D’Haras die gesamte Welt erobern und beherrschen wollte, setzte sich Jennsen wieder in Bewegung; sie konnte es kaum erwarten, das Gefängnis und den Palast zu verlassen. Mit zügigen Schritten liefen die drei durch die engen Korridore, durch die eisernen Verbindungstüren, vorbei an den grabschenden Gefangenen. Diesmal genügte allerdings eine mürrische Verwarnung des Captains, um sie zum Schweigen zu bringen.

Sie hatten gerade die letzte eisenbeschlagene Verbindungstür vor der Treppe hinter sich gelassen, als sie unvermittelt stehen blieben. Eine hoch gewachsene, attraktive Frau mit einem einzelnen blonden Zopf erwartete sie bereits und versperrte ihren Fluchtweg. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte an einen Blitz kurz vor dem Einschlagen.

Sie war von Kopf bis Fuß in rotes Leder gekleidet.

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