Soldaten in blank poliertem Brustharnisch, ausnahmslos mit senkrechten Langspießen in den Händen, deren rasiermesserscharfe Schneiden in der Sonne blinkten, musterten stumm die zwischen den hohen Säulen hereinströmenden Menschenmengen. Als ihr forschender Blick Jennsen und Sebastian erfaßte, gab sie sich größte Mühe, ihnen nicht in die Augen zu sehen; gesenkten Kopfes schwammen sie und Sebastian mit im Strom der anderen Leute, die sich schleppenden Schrittes an den Reihen der Soldaten vorüberschoben.
Der riesige, höhlenähnliche Eingang war mit einem hellen, farbigen Stein ausgekleidet, der Jennsen das Gefühl gab, eher durch einen riesigen Flur zu schreiten als durch einen ins Innere eines berggroßen Hochplateaus führenden Tunnel. Zischende Fackeln in eisernen, in die Mauern eingelassenen Halterungen beleuchteten den Weg, die Luft roch nach verbranntem Pech, aber drinnen war es warm.
Zu beiden Seiten gab es Reihen von in den Fels gehauenen Hohlräumen. In den meisten Fällen handelte es sich um einfache Öffnungen mit einer niedrigen Mauer davor, hinter der Händler ihre Waren feilboten. Die Wände in vielen dieser kleinen Räume waren mit leuchtend bunten Stoffen oder bemalten Wandverkleidungen dekoriert, was ihnen einen freundlichen Anstrich verlieh. Draußen hatte es so ausgesehen, als könnte jeder einfach sein Geschäft eröffnen und seine Waren feilbieten. Drinnen dagegen, vermutete Jennsen, mußten die Händler wohl für ihre Stände bezahlen, bekamen dafür aber ein warmes, wettergeschütztes Fleckchen, wo sie ihr Geschäft betreiben konnten und wo die Kundschaft bereitwilliger verweilte.
Vor dem Schuster warteten mehrere miteinander schwatzende Leute darauf, ihre Schuhe repariert zu bekommen, während andere anstanden, um Bier zu kaufen oder Brot, oder auch eine dampfende Schale Eintopf. Ein anderer Händler, der mit seiner eintönig leiernden Stimme die Menschen in Scharen an seinen Stand lockte, verkaufte Fleischpasteten. Vor einem Stand herrschte besonders großes Geschiebe und Gelärm, Dort ließen sich Frauen das Haar hochstecken, zu Locken drehen oder mit bunten, zu hübschen Kettchen aufgereihten Glasperlen verzieren. An einem anderen ließen sie sich das Gesicht schminken oder die Fingernägel lackieren. Wieder andere boten wunderhübsche, als Kleiderschmuck gedachte Bänder feil, manche so zurechtgeschnitten, daß sie frischen Blumen zum Verwechseln ähnlich sahen.
Sebastian schien dies alles ebenso erstaunlich zu finden wie sie. An einem Stand ganz ohne Kunden, wo ein Mann mit Dauerlächeln gerade damit beschäftigt war, Zinnkrüge auszustellen, blieb Jennsen stehen.
»Könntet Ihr mir sagen, Sir, ob Ihr vielleicht einen Vergolder namens Friedrich kennt?«
»Hier unten gibt es niemanden dieses Namens. Feineres Kunsthandwerk wird gewöhnlich weiter oben verkauft.«
Als der unterirdische Eingang sie immer tiefer in sich aufnahm, legte Sebastians Arm sich abermals um ihre Hüfte. Seine körperliche Nähe, sein hübsches Gesicht und sein gelegentliches Lächeln hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Dank seines weißen Stoppelhaars ragte er aus der Masse heraus – er war einzigartig, etwas ganz Besonderes. In seinen blauen Augen schienen die Antworten auf viele Rätsel der großen weiten Welt zu liegen, die sie nie gesehen hatte. Seine Gegenwart ließ sie fast ihren Kummer über den Verlust ihrer Mutter vergessen.
Eine ganze Reihe offen stehender Türen aus massivem Eisen ließ die sich langsam vorwärts schiebende Menge ein. Es hatte etwas Einschüchterndes, durch diese Türen zu schreiten, vor allem, wenn man wußte, daß man in der Falle saß, falls sie sich jemals schlossen. Dahinter führten weiße Marmorstufen, heller als Stroh und durchzogen von weißlichen Adern, zu prunkvollen, mit wuchtigen Steingeländern eingefaßten Treppenabsätzen. Kontrastierend zu den mächtigen Eisentoren draußen vor dem Felsplateau, schlossen manche der Zimmer mit fein gearbeiteten Holztüren ab. Weiß getünchte und zusätzlich noch hell ausgeleuchtete Flure lenkten ab von dem Gefühl, sich im Innern des Plateaus zu befinden. Die mancherorts in verschiedene Richtungen abzweigenden Treppen schienen endlos, einige der Absätze führten – Ziel vieler Besucher – in geräumige Korridore. Die ganze Szenerie glich einer in ewige Dunkelheit getauchten Stadt, die von Wandlampen und Hunderten von Straßenlaternen beleuchtet wurde. Als ihre Beine vom anstrengenden Treppensteigen und Durchwandern der Korridore allmählich müde wurden, dämmerte ihr schließlich, warum viele lieber unten in der Ebene blieben, um ihre Geschäfte zu tätigen. Der Weg bis ganz nach oben war sowohl zeitlich als auch entfernungsmäßig nicht zu unterschätzen und obendrein eine ausgesprochene Schinderei.
Als sie endlich wieder ins Tageslicht hinaustraten, wurden Jennsen und Sebastian für ihre Mühen belohnt. Drei Balkonreihen mit gedrehten Säulen an der Vorderseite, die überwölbte Maueröffnungen stützten, blickten hinunter in einen Marmorsaal. Verglaste Fenster oben ließen Licht herein, wodurch eine von Helligkeit durchflutete Galerie entstand, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatten.
»Wie hat ein Volk nur einen Ort wie diesen erbauen können«, flüsterte Sebastian. »Was mag die Menschen dazu bewogen haben?«
Jennsen wußte auf keine der beiden Fragen eine Antwort. Und doch, so sehr sie die Menschen, die über ihr Land herrschten, auch verabscheute – der Palast versetzte sie noch immer in ehrfürchtiges Staunen. Dieser Ort war von Menschen erbaut worden, deren Phantasie und visionäre Kraft ihr Vorstellungsvermögen bei weitem überstieg.
»Ausgerechnet in einer Zeit, da so viel Not in der Welt herrscht«, murmelte er bei sich, »setzt sich das Haus Rahl ein solches marmornes Denkmal.«
Eigentlich fand sie, daß außer Lord Rahl selbst ganz offenkundig noch zigtausend andere vom Palast des Volkes profitierten, all jene nämlich, denen der Palast mit seinen vielfältigen Möglichkeiten eine Gelegenheit bot, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Menschen jeden Schlags bis hin zur Wurstverkäuferin Irma, doch gerade in diesem Augenblick mochte Jennsen den Zauber nicht zerstören, um ihm das zu erklären.
Die sich in beide Richtungen erstreckende Galerie wurde von Werkstätten gesäumt. Manche, in denen jeweils nur ein einziger Kunsthandwerker arbeitete, waren nach vorne hin offen, viele dagegen, in denen eine ganze Reihe von Leuten arbeitete, hatten eine verglaste Frontpartie und wirkten mit ihren Türen und den draußen aufgehängten Schildern geradezu überladen. Die Vielfalt war überwältigend! Es gab Läden, in denen man sich die Haare schneiden, Zähne ziehen, ein Porträt anfertigen und Stoffe herstellen lassen sowie alles kaufen konnte, was das Herz begehrte, angefangen von ganz alltäglichen Erzeugnissen bis hin zu kostbaren Duftwässern und Schmuck. Die Wohlgerüche der ungeheuren Speisenvielfalt war betörend, der Anblick schwindelerregend.
Während sie auf ihrer Suche nach dem Vergolder all diese Eindrücke in sich aufnahm, erspähte Jennsen zwei Frauen in braunen Lederuniformen, die ihr blondes Haar zu einem einzelnen Zopf geflochten trugen. Sie packte Sebastian beim Arm und zog ihn in einen Seitengang. Wortlos drängte sie ihn zur Eile, darauf bedacht, nicht durch zu schnelles Laufen den Argwohn der Leute zu wecken, sich gleichzeitig aber so rasch wie möglich außer Sichtweite zu bringen. Sobald jemand in ihre Richtung blickte, ließen sie sich auf einer Steinbank an der Seite nieder und versuchten so normal wie möglich auszusehen; von gegenüber blickte die Statue eines nackten, auf einen Speer gestützten Mannes auf sie herab. Jennsen sah die beiden ganz in Leder gekleideten Frauen an der Kreuzung vorüberschlendern, die die Passanten auf beiden Seiten mit ihren beherrschten, durchdringenden und intelligenten Blicken erfaßten. Es waren die Blicke von Frauen, die ohne jede Reue von einem Moment zum nächsten eine Entscheidung über Leben und Tod zu fällen vermochten. Als eine der Frauen in den Seitengang blickte, ließ Jennsen sich hinter die Säule sinken und drückte sich ganz nah an die Wand.
»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte Sebastian, als sie erleichtert aufatmete.
»Mord-Sith.«
»Was?«
»Die beiden Frauen, das waren Mord-Sith.«
Sebastian riskierte vorsichtig noch einen Blick, aber die beiden waren nicht mehr zu sehen. »Viel weiß ich nicht über sie, nur daß sie eine Art Wächterinnen sind.«
In diesem Moment wurde ihr bewußt daß er ja aus einem anderen Land stammte. »In gewisser Weise. Mord-Sith sind ganz besondere Wächterinnen. Man könnte sie vermutlich als Leibgarde des Lord Rahl bezeichnen. Sie beschützen ihn, aber nicht nur das. Sie foltern Informationen aus Personen heraus, die mit der Gabe gesegnet sind.«
Er versuchte in ihren Augen zu lesen, was genau sie damit sagen wollte. »Ihr meint aus Personen mit einfacher Magie.«
»Mit jeder Art von Magie, sogar aus Hexenmeisterinnen und Zauberern.«
Sebastian schien skeptisch. »Ein Zauberer verfügt über gewaltige magische Kräfte. Er könnte seine Macht einfach dazu benutzen, diese Frauen zu vernichten.«
Jennsens Mutter hatte ihr von den Mord-Sith und ihrer Gefährlichkeit erzählt und daß sie ihnen um jeden Preis aus dem Weg gehen mußte. Tödliche Gefahren dieser Art hatte sie ihr nie zu verheimlichen versucht.
»Nein, Mord-Sith verfügen über eine Macht, die sie befähigt, sich der Magie eines anderen zu bemächtigen – selbst der eines Zauberers oder einer Hexenmeisterin. Sie nehmen nicht nur Menschen gefangen, sondern erbeuten dabei gleichzeitig deren Magie. Einer Mord-Sith entkommt niemand, es sei denn, sie lassen den Betreffenden frei.«
Das schien Sebastians Verwirrung noch zu vergrößern. »Was wollt Ihr damit sagen, sie bemächtigen sich der Magie eines anderen? Das ergibt doch keinen Sinn. Was könnten sie mit dieser Magie schon anfangen, solange es die Macht eines anderen ist? Das wäre ja fast so, als ob man jemandem die Zähne zieht und dann damit zu essen versucht.«
Jennsen fuhr sich mit der Hand unter die Kapuze, um einige herausgerutschte rote Locken wieder an ihren Platz zu stecken. »Ich weiß es nicht, Sebastian, ich habe nur gehört, daß sie die Magie eines Menschen gegen ihn kehren, um ihm wehzutun – ihm Schmerzen zu bereiten.«
»Und warum sollten wir uns dann vor ihnen fürchten?«
»Mag sein, daß sie Informationen nur aus den mit der Gabe gesegneten Feinden des Lord Rahl herausfoltern, aber Schmerzen können sie natürlich jedem zufügen. Habt Ihr die Waffe gesehen, die sie bei sich tragen?«
»Nein, ich habe keine Waffen bei ihnen gesehen. Sie hatten nur einen kleinen roten Lederstab dabei.«
»Genau den meine ich, man nennt ihn Strafer. Sie tragen ihn an einem Kettchen ums Handgelenk, damit er stets griffbereit ist. Es handelt sich um eine magische Waffe.«
Er dachte über ihre Worte nach, konnte sich aber sichtlich noch immer keinen rechten Reim darauf machen. »Und was tun sie nun damit, mit diesem Strafer?«
Seine Stimme King nun gar nicht mehr ungläubig, sondern ruhig und zielgerichtet, wie die von jemandem, der ein Verhör durchführt; jetzt machte er wieder die Arbeit, derentwegen Jagang der Gerechte ihn hergeschickt hatte.
»Ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet, aber nach allem, was ich gehört habe, kann die bloße Berührung eines Strafers alles Mögliche bewirken, von unvorstellbaren Schmerzen über gebrochene Knochen bis hin zu sofortigem Tod. Die Mord-Sith selbst entscheiden über das Ausmaß der Schmerzen, ob ein Knochen brechen oder man durch die Berührung sterben soll.«
Den Blick wachsam auf die Kreuzung gerichtet, dachte er über ihre Worte nach. »Und warum fürchtet Ihr Euch dann so sehr vor ihnen? Wenn Ihr diese Dinge nur vom Hörensagen kennt, wieso machen sie Euch dann solche Angst?«
Jetzt war es an ihr, verständnislos zu reagieren. »Lord Rahl verfolgt mich bereits mein Leben lang, Sebastian. Diese Frauen sind seine persönlichen Meuchlerinnen. Meint Ihr nicht, sie würden mich ihrem Herrn und Meister nur zu gern zu Füßen legen wollen?«
»Vermutlich.«
»Wenigstens hatten sie nur ihre braune Lederkluft angelegt; Rot tragen sie, wenn sie eine Gefahr wittern oder wenn sie jemanden foltern. Auf dem roten Leder fällt das Blut nicht so sehr auf.«
Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein weißes Stoppelhaar. »Das Land, in dem Ihr lebt, ist der reinste Alptraum, Jennsen Daggett.«
»Glaubt Ihr vielleicht, das wüßte ich nicht?«
»Und wenn diese Hexenmeisterin es ablehnt, Euch zu helfen?«
Sie zupfte an einem losen Faden an ihrem Knie. »Dann weiß ich auch nicht weiter.«
»Er wird Euch immer weiter verfolgen. Lord Rahl wird Euch niemals Ruhe gönnen. Ihr werdet niemals in Freiheit leben können.«
... es sei denn, Ihr tötet ihn, hörte sie den unausgesprochenen Schluß des Satzes.
»Althea muß mir einfach helfen. Ich bin es so leid, ständig in Angst leben zu müssen«, erwiderte Jennsen, den Tränen nahe, »ich habe es so satt, ständig auf der Flucht zu sein.«
Er legte ihr sachte seine Hand auf die Schulter. »Das verstehe ich doch.«
In diesem Augenblick hätte kein anderes Wort für sie mehr Bedeutung haben können; vor lauter Dankbarkeit konnte sie nur nicken.
Sein Tonfall wurde leidenschaftlicher. »Bei uns gibt es auch mit der Gabe gesegnete Frauen wie diese Althea. Jennsen. Sie gehören einem Orden an, den Schwestern des Lichts, die früher im Palast der Propheten in der Alten Welt gelebt haben. Richard Rahl hat ihren Palast im Zuge seiner Eroberung der Alten Welt zerstört. Es soll ein wundervoller, ganz besonderer Ort gewesen sein, er aber hat ihn einfach dem Erdboden gleichgemacht. Jetzt stehen die Schwestern auf Seiten Kaiser Jagangs und unterstützen ihn. Vielleicht könnten unsere Hexenmeisterinnen Euch ebenfalls helfen.«
Sie sah in seine ängstlich besorgten Augen. »Wirklich? Vielleicht wissen diese Frauen in den Diensten des Kaisers eine Möglichkeit, mich vor der Zauberei meines mörderischen Halbbruders zu verstecken?
Althea hat mich schon einmal vor Lord Rahl versteckt, sie muß ich überreden, es wieder zu tun. Ich fürchte, wenn sie sich weigert, habe ich keine Chance.«
Er beugte sich noch einmal vor und sah sich um, dann versuchte er, ihr lächelnd Mut zu machen. »Wir werden Althea ganz bestimmt finden. Sie wird Euch mit Hilfe ihrer Magie verstecken, und danach könnt Ihr von hier fliehen.«
Erleichtert erwiderte sie das Lächeln.
In der Annahme, daß die Mord-Sith fort waren und niemand sie mehr behelligen würde, begaben sie sich zurück in den Saal, um sich erneut auf die Suche nach Friedrich zu machen. Sie fragten an verschiedenen Stellen nach, bis Jennsen schließlich jemanden ausfindig machte, der den Vergolder kannte. Der Wegbeschreibung folgend, die man ihnen gegeben hatte, drangen Jennsen und Sebastian mit neuer Hoffnung weiter in den Palast vor, bis hin zu einer Stelle, an der zwei besonders prachtvolle Korridore aufeinandertrafen.
Dort, inmitten der Kreuzung dieser beiden zentralen Korridore, erblickte sie zu ihrer Überraschung ein quadratisches, mit Wasser gefülltes Becken; das Becken war statt des sonst üblichen Marmors mit Fliesen eingefaßt. Im Becken selbst stand – nicht ganz mittig, was Jennsen absolut passend erschien, auch wenn sie nicht zu sagen vermocht hätte, warum – ein dunkler, narbiger Stein mit einer Glocke darauf. Trotz aller sonstigen Geschäftigkeit herrschte an dieser heiligen Stätte eine bemerkenswerte Stille.
Der Anblick des Platzes mit der Glocke erinnerte sie an ganz ähnliche Orte. Sobald die Glocke ertönte, entsann sie sich, kamen die Menschen zu diesen Plätzen geströmt, um sich zu verneigen und eine Andacht an Lord Rahl zu sprechen. Wahrscheinlich war diese Unterwürfigkeit der Preis, den man für das Privileg zahlen mußte, in seinen Palast eingelassen zu werden.
Auf der niedrigen Umrandung saßen Menschen, unterhielten sich mit gedämpfter Stimme und schauten den orangefarbenen Fischen zu, die durch das dunkle Wasser glitten. Selbst Sebastian sah ihnen ein paar Minuten zu, bevor er weiterging.
Überall standen wachsame Soldaten herum; einige von ihnen schienen an Schlüsselstellen postiert zu sein. Gardisten patrouillierten in Gruppen durch die Gänge und hielten gelegentlich Personen an, um kurz mit ihnen zu sprechen. Was die Soldaten fragten, wußte Jennsen nicht, es beunruhigte sie jedoch zutiefst.
»Was sagen wir, wenn sie uns etwas fragen?«, wollte sie wissen.
»Am besten sagt Ihr gar nichts, solange Ihr nicht dazu gezwungen seid.«
»Und wenn es sich nicht mehr vermeiden läßt was dann?«
»Dann erklärt Ihr ihnen, daß wir auf einer Farm südlich von hier wohnen. Farmer leben abgeschieden und sind – außer über das Leben auf der Farm selbst – nicht übermäßig informiert, es dürfte also keinen Verdacht erregen, wenn wir behaupten, nicht viel über andere Dinge zu wissen. Wir sind hergekommen, um den Palast zu besichtigen und vielleicht ein paar kleinere Einkäufe zu tätigen – Kräuter und ähnliches mehr.«
Jennsen war bereits Farmern begegnet und fand, daß sie keineswegs so unwissend waren, wie Sebastian zu glauben schien. »Farmer sammeln oder ziehen ihre Kräuter selbst«, erwiderte sie. »Ich glaube nicht, daß sie in den Palast kommen müssen, um welche zu kaufen.«
»Na gut, dann ... dann sind wir eben hergekommen, um einen schönen Stoff zu kaufen, aus dem Ihr Sachen für das Kind nähen könnt.«
»Kind? Für welches Kind denn?«
»Euer Kind. Ihr seid meine Frau und habt erst vor kurzem gemerkt, daß Ihr ein Kind unter Eurem Herzen tragt.«
Jennsen spürte, wie sie bis unter die Haarspitzen errötete.
»Also schön. Wir sind Farmer und hergekommen, um ein paar Kleinigkeiten zu besorgen – Kräuter und dergleichen, seltene Kräuter, die wir nicht selbst anbauen.«
Seine einzige Antwort bestand in einem lächelnden Seitenblick. Dann legte er ihr den Arm wieder um die Hüfte, als wollte er sie damit aus ihrer Verlegenheit erlösen.
Der Wegbeschreibung folgend bogen sie nach einer weiteren Kreuzung aus breiten Korridoren rechts in eine andere, ebenfalls von Händlern gesäumte Galerie ein, Jennsen erspähte sogleich den Stand mit dem vergoldeten Stern darüber. Ob es Absicht war oder nicht, wußte sie nicht, aber der vergoldete Stern besaß acht Zacken, genau wie der Stern in der Huldigung. Sie hatte sie oft genug gezeichnet, um sich in diesem Punkt ganz sicher zu sein.
Ihr Mut sank, als sie sahen, daß in der Bude nur ein leerer Stuhl stand, aber da es noch früh am Morgen war, schloß sie daraus, daß er vielleicht noch gar nicht eingetroffen war. Die Läden in der unmittelbaren Umgebung hatten ebenfalls noch nicht geöffnet.
Mehrere Verkaufsstände weiter blieb sie vor einem Laden stehen, in dem lederne Becher verkauft wurden. »Wißt Ihr, ob der Vergolder heute noch kommt?«, fragte sie den Mann, der hinter der Werkbank arbeitete.
»Tut mir leid, keine Ahnung«, antwortete der, ohne von seiner Arbeit, dem Anbringen von Verzierungen mit einem feinen Stecheisen, aufzusehen. »Ich habe selbst eben erst aufgemacht.«
Sie eilte weiter zum nächsten besetzten Stand, einem Laden, in dem Wandbehänge mit bunten aufgenähten Landschaftsbildern verkauft wurden. Als sie sich umdrehte, um etwas zu Sebastian zu sagen, mußte sie feststellen, daß er sich gerade an einem anderen Stand ganz in der Nähe erkundigte.
Die Frau hinter der niedrigen Ladentheke war damit beschäftigt, einen blauen Bach in das Gebirge auf dem Quadrat aus grob gewebtem Tuch zu sticken. Einige der Landschaften waren zu Kissen verarbeitet worden, die die Frau in einem Regal an der Rückwand ausgestellt hatte.
»Wißt Ihr vielleicht, ob der Vergolder heute noch kommt, Madame?«
Die Frau sah freundlich lächelnd zu ihr hoch. »Tut mir leid, aber soweit ich weiß, wollte er heute nicht kommen.«
»Oh, verstehe.« Jennsen zögerte, von der enttäuschenden Nachricht ein wenig aus der Fassung gebracht; sie wußte nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. »Wißt Ihr dann vielleicht, wann er wieder herkommt?«
Die Frau stieß die Nadel durch den Stoff und erzeugte so ein fadenbreites Stück blauen Baches. »Nein, das weiß ich wirklich nicht. Als ich ihn das letzte Mal sah, vor mehr als einer Woche, meinte er. es könnte eine Weile dauern, bis er wieder herkommt.«
»Und warum? Wißt Ihr das auch?«
»Also, das weiß ich nun wirklich nicht.« Sie zog den langen Wasserfaden stramm. »Es kommt häufiger vor daß er eine Weile fortbleibt und so lange an seinen Vergoldungen arbeitet, bis er genug zusammen hat, damit sich die Reise zum Palast auch wirklich lohnt.«
»Wißt Ihr denn vielleicht, wo er wohnt?«
Die Frau runzelte argwöhnisch die Stirn und blickte hoch. »Wieso wollt Ihr das eigentlich wissen?«
Jennsens Gedanken rasten. Sie sagte das Einzige, was ihr in den Sinn kam, etwas, das sie von der Wurstverkäuferin Irma aufgeschnappt hatte. »Ich möchte mir die Zukunft weissagen lassen.«
»Ach so«, erwiderte die Frau, deren Argwohn sichtlich verflog, während sie einen weiteren Faden durchzog. »Dann wollt Ihr eigentlich Althea besuchen.«
Jennsen nickte. »Meine Mutter hat mich einmal zu Althea mitgenommen, als ich noch sehr klein war. Da meine Mutter mittlerweile ... verstorben ist, würde ich Althea gern noch einmal aufsuchen. Ich dachte, vielleicht wäre es ein Trost für mich, wenn ich zu ihr gehe und mir die Zukunft weissagen lasse. Könnt Ihr mir denn sagen, wie ich Altheas Haus finde?«
Sie legte ihre Stickerei zur Seite und kam vor bis an die niedrige Mauer an der Vorderseite ihres Standes. »Es ist ein ziemlich weiter Weg bis zu Altheas Haus – immer nach Westen, mitten durch vollkommen unbewohntes Land.«
»Die Azrith-Ebene.«
»Ganz recht. Nach Westen hin wird das Land immer zerklüfteter und bergiger. Wenn Ihr, genau westlich von hier, jenseits des höchsten, schneebedeckten Berges exakt nach Norden schwenkt, Euch unmittelbar dahinter an die Felsklippen haltet, die Ihr dort seht, und der Senke immer weiter nach unten folgt, gelangt Ihr in eine gefährliche, ziemlich unangenehme Gegend, in ein Sumpfgebiet. Dort leben Althea und Friedrich.«
»In einem Sumpf? Aber doch wohl nicht mitten im Winter.«
Die Frau beugte sich dicht zu ihr heran und senkte die Stimme. »Doch, sogar mitten im Winter, wie man sich erzählt. Altheas Sumpf ist ein wahrhaft scheußlicher Ort. Manche behaupten, daß es dort nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn Ihr wißt, was ich meine.«
»Ihr meint... wegen ihrer Magie?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Manche behaupten das.«
Jennsen bedankte sich mit einem Nicken und wiederholte die Wegbeschreibung noch einmal. Die Frau kratzte sich mit einem ihrer langen Fingernägel am Kopf. »Aber ohne eine Einladung solltet Ihr nicht dorthin gehen.«
Jennsen blickte sich kurz um, um Sebastian einen Wink zu geben, konnte ihn aber nirgendwo sehen. »Und wie bekommt man eine Einladung?«
»Die meisten Leute wenden sich deswegen an Friedrich. Ich sehe immer, wie sie herkommen, sich mit ihm unterhalten und wieder gehen, ohne seine Arbeiten auch nur eines Blickes zu würdigen. Vermutlich fragt er Althea anschließend, ob sie bereit ist, die Leute zu empfangen, und wenn er dann das nächste Mal mit seinen vergoldeten Schnitzereien zurückkommt, gibt er ihnen eine Einladung. Es kommt auch vor, daß die Leute ihm einen Brief an seine Frau mitgeben.
Andere wandern bis zum Anfang des Sumpfes und warten dort. Wie ich höre, kommt er manchmal aus dem Sumpf heraus, um die Leute in Empfang zu nehmen und Altheas Einladung an sie weiterzuleiten. Wieder andere müssen vom Rand des Sumpfgebietes umkehren, ohne je eine Einladung zu erhalten, dann war die ganze Warterei umsonst. Uneingeladen traut sich jedenfalls niemand in den Sumpf. Zumindest ist nie jemand zurückgekommen, der davon hätte berichten können, wenn Ihr wißt, was ich meine.«
»Soll das heißen, ich muß einfach nur dorthin gehen und warten? Warten, bis sie oder ihr Mann kommen und uns einladen, sie zu begleiten?«
»Ich denke schon. Aber es wird nicht Althea sein, die kommt. Ich hab mir sagen lassen, daß sie den Sumpf niemals verläßt. Ihr könnt natürlich auch jeden Tag hierher kommen, bis Friedrich sich endlich wieder blicken läßt, um seine vergoldeten Schnitzereien zu verkaufen. Länger als einen Monat ist er noch nie fortgeblieben. Ich würde sagen, innerhalb der nächsten ein, höchstens zwei Wochen kommt er wieder in den Palast.«
Wochen! Jennsen konnte unmöglich wochenlang an einem Ort ausharren und abwarten, während Lord Rahls Männer ihr auf den Fersen waren und mit jedem Tag näher rückten. So nah, wie sie Sebastians Meinung zufolge bereits waren, würde es vermutlich nicht einmal mehr Tage und erst recht keine Wochen dauern, bis sie aufgegriffen wurde.
»Jedenfalls vielen Dank für Eure Hilfe. Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen noch einmal herkommen und nachsehen, ob Friedrich zurück ist, dann kann ich ihn ja fragen, ob ich für eine Weissagung willkommen bin.«
Lächelnd setzte sich die Frau wieder hin und nahm ihre Stickerei zur Hand. »Das wäre wohl das Beste.«
Jennsen ließ den Blick durch die riesige Eingangshalle wandern, immer noch auf der Suche nach Sebastian. Weit konnte er ja nicht sein, und schließlich sah sie ihn, er stand mit dem Rücken zu ihr drüben auf der anderen Seite des breiten Korridors, gerade im Begriff, sich von einem Stand abzuwenden, an dem man Silberschmuck verkaufte.
Sie war nicht mal zwei Schritte weit gekommen, als Soldaten von allen Seiten herbeigelaufen kamen und einen Ring um ihn bildeten. Jennsen erstarrte mitten in der Bewegung, Sebastian ebenfalls.
Ein halbes Dutzend funkelnder, rasiermesserscharfer Langspieße richtete sich bedrohlich auf Sebastian, Schwerter wurden gezogen. Die Umstehenden wichen zurück, andere wandten sich herum, um einen Blick zu riskieren. Zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab, hob Sebastian, inmitten eines Rings aus d’Haranischen Soldaten stehend, die ihn samt und sonders überragten, die Arme.
Gib dich hin.
Just in diesem Augenblick ertönte eine Glocke, eben jene Glocke weiter hinten auf dem Platz.