Fast völlig außer Atem beugte Jennsen sich über Rustys Hals, die Arme zu beiden Seiten des Pferdehalses nach vorn gestreckt, um dem Tier alle nötigen Freiheiten zu lassen, während sie in gestrecktem Galopp aus den Ausläufern des Umlandes in die breit angelegte Stadt Aydindril einfielen.
Dieser gewaltige Ansturm hatte etwas Berauschendes. Nicht, daß ihr die Ungeheuerlichkeit, das Entsetzliche dessen, was hier geschah, nicht bewußt gewesen wäre, aber ein winziger Teil von ihr konnte nicht umhin, sich von dem alles beherrschenden Gefühl, Teil des Ganzen zu sein, mitreißen zu lassen.
Von grimmiger Leidenschaft erfüllte Männer mit Blutgier in den Augen schwärmten im Vorwärtsstürmen zu den Seiten hin aus. Die Luft schien erfüllt vom Blitzen und Blinken der in den Himmel gereckten Streitäxte und Schwerter und der geschliffenen Spitzen der Lanzen und Spieße, die die stille Morgenluft zu durchbohren schienen.
Sebastian ritt unmittelbar neben ihr, sehr um ihre Sicherheit bemüht; er hatte Angst, sie könnte in dieser wahnsinnigen, ungestümen, bewußt herbeigeführten Massenhysterie verloren gehen. Und auch die Stimme ritt mit ihr; sie weigerte sich zu schweigen, sosehr Jennsen auch versuchte, sie zu ignorieren oder sie inständig bat, sie in Frieden zu lassen. Ihre Konzentration galt allein dem, was in diesem Augenblick geschah und was vielleicht schon bald geschehen würde. Sie konnte sich keine Ablenkung leisten, nicht jetzt.
Als die Stimme sie beim Namen rief, sie aufforderte, Willen und Körper hinzugeben, und sie einmal mehr mit jenen rätselhaften und doch seltsam verführerischen Worten lockte, gab ihr das jedes andere Geräusch übertönende Getöse rings um sie her endlich jene Anonymität, um aus Leibeskräften »Laß mich in Frieden! Laß mich endlich in Ruhe!« zu brüllen, ohne daß jemand etwas davon mitbekam. Es war ein berauschendes Gefühl innerer Reinigung, die Stimme endlich so ungehemmt und nachdrücklich in die Schranken weisen zu können.
Der wüste Sturmangriff verlief vollkommen anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Statt eines geordneten Formationsritts über offenes Gelände entwickelte er sich zu einem aberwitzigen Vorstoß mitten durch das Herz einer großen Stadt; es ging über breite, mit prächtigen Gebäuden gesäumte Hauptverkehrsstraßen, gefolgt von einem jähen Schwenk in dunkle, schluchtähnliche Gassen, zwischen hohen Steinmauern hindurch, die den schmalen Streifen offenen Himmels mancherorts in Form von Brücken unterteilten, dann plötzlich schoß man in vollem Tempo hinein in ein Gewirr aus engen, verwinkelten Seitenstraßen inmitten alter, fensterloser Gebäude, deren Anordnung keinem erkennbaren Plan zu folgen schien. Ein Abbremsen, um nachzudenken oder Entscheidungen zu fällen, gab es nicht; es war vielmehr ein einziger, rücksichtsloser und unaufhaltsamer Massenansturm.
Aufgrund des fehlenden Widerstands gegnerischer Truppen hatte Jennsen das Gefühl, der ungezügelte Ansturm sei vollends außer Kontrolle geraten, obwohl sie wußte, dies waren die Elitetruppen der Kavallerie und der rücksichtslose, unbarmherzige Sturmangriff ihre Spezialität. Im Übrigen schien Kaiser Jagang, hoch zu Roß auf seinem prachtvollen Hengst die Dinge völlig im Griff zu haben.
Plötzlich wirbelten die Pferde einen Hagel aus Rasenstücken auf, schossen durch eine breite Maueröffnung und sprengten unvermittelt die ausgedehnte Rasenfläche vor dem Palast der Konfessoren hinauf. Unter wütendem Gebrüll scherten die Reiter nach beiden Seiten hin aus und ließen die malerische Szenerie von ihren Pferden zertrampeln. Die breite Promenade war gesäumt von ausgewachsenen Ahornbaumen, deren kahle, mit Knospen beladenen Zweige sich über ihnen verflochten.
Trotz ihrer leidvollen Erfahrungen, trotz ihres Wissens und der vielen Dinge, die ihr lieb und teuer waren, begriff Jennsen nicht, wieso sie das eindeutige Gefühl hatte, in diesem Augenblick an einer frevlerischen Schändung teilzunehmen.
Der Eindruck verging, als sie ihr Augenmerk statt dessen auf etwas richtete, das sie weiter vorn erspähte. Dieses Etwas befand sich ganz in der Nähe der breiten, zum Haupteingang des Palastes der Konfessoren hinaufführenden Marmortreppe, und ähnelte einer einzelnen Stange, auf der ein Gegenstand befestigt war. Ein langer, roter, unmittelbar unterhalb des oberen Stangenendes angebrachter Stoffetzen flatterte im Wind, so als wollte er ihnen zuwinken, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihnen endlich ein Ziel zu geben. Kaiser Jagang lenkte den Sturmangriff genau auf diese Stange mit ihrem roten, im Wind wehenden Wimpel zu.
Während des scharfen Ritts hatte Jennsen sich ganz auf das Spiel der gehorsamen, kräftigen Muskeln und die von ihnen ausgehende Wärme konzentriert und aus den vertrauten Bewegungen ihres Pferdes Mut und Kraft geschöpft. Jetzt konnte Jennsen nicht umhin, zu den weißen Marmorsäulen hinaufzusehen, die über ihnen emporragten. Es war ein majestätisches Portal. An diesem Tag würde der Imperialen Ordnung endlich jener Ort in die Hände fallen, an dem das Böse lange Zeit ungehindert seine Herrschaft ausgeübt hatte.
Kaiser Jagang reckte sein Schwert in die Höhe und gab der Kavallerie das Zeichen zum Anhalten. Das Gejohle, das Gebrüll und Gekreische der Schlachtrufe verebbte nach und nach, als Zehntausende von Soldaten ihre erhitzten Tiere zum Stehen brachten. Jennsen tätschelte Rustys schweißnasse Flanke, bevor sie sich von ihrem Pferd gleiten ließ. Sie landete inmitten eines wilden Durcheinanders aus Soldaten, größtenteils Offiziere und Berater, aber auch reguläre Kavalleristen, die in Scharen herbeigeeilt kamen, um den Kaiser abzuschirmen. Noch nie zuvor hatte sie sich so hautnah mitten unter den regulären Truppen befunden; es war abstoßend, wie man sie mit den Augen musterte, als sie mitten unter ihnen stand. Alle schienen voller Ungeduld darauf zu warten, endlich über einen Feind herfallen zu können. Die Männer waren ein verdreckter Haufen, und sie rochen übler als ihre Pferde. Aus irgendeinem Grund war es dieser widerliche Schweißgestank, der ihr am meisten Angst einflößte.
Sebastian packte sie beim Arm und zog sie zu sich. »Alles in Ordnung mit dir?«
Jennsen nickte, während sie den Kaiser auszumachen und herauszufinden versuchte, was ihn veranlaßt hatte, halt zu machen. Sebastian, der ebenfalls etwas zu erkennen versuchte, nahm sie ins Schlepptau, als er sich durch einen schützenden Ring aus stämmigen Offizieren zwängte. Als sie ihn erkannten, gaben sie den Weg frei.
Die beiden blieben stehen, als sie wenige Schritte vor sich den Kaiser erblickten, allein, ihnen den Rücken zukehrend, mit hängenden Schultern, das Schwert kraftlos neben seinem Körper in der Hand; offenbar hatten seine Männer Angst, sich ihm zu nähern.
Dicht gefolgt von Sebastian, der sie einzuholen versuchte, lief Jennsen auf Kaiser Jagang zu. Er stand, zur Salzsäule erstarrt, vor dem Speer, den man mit dem unteren Ende in die Erde gepflanzt hatte, und starrte ihn an, als hätte er eine Erscheinung vor sich. Unter der langen, mit Widerhaken versehenen, rasiermesserscharfen Metallspitze festgebunden, knallte das lange rote Band in der ansonsten absoluten Stille.
Auf das obere Ende des Speers hatte man den Kopf eines Mannes gespießt.
Jennsen erschrak, als sie das schockierende Bild sah. Der schauerliche, sauber in der Mitte des Halses abgetrennte Kopf wirkte fast lebendig. Die dunklen Augen unter der tief zerfurchten Stirn waren in einem Ausdruck unerbittlicher Furchtlosigkeit erstarrt. Eine dunkle, gekniffte Kappe war ihm ein Stück weit in die Stirn gerutscht. Irgendwie schien die schmucklose Kappe, die man ihm über den Kopf gestülpt hatte, dem strengen Gesichtsausdruck des Mannes zu entsprechen. Vereinzelte Strähnen seines lockigen Haars lugten über seinen Ohren unter ihr hervor und wehten sacht im Wind. Es schien, als könnten die schmalen, widerwärtigen Lippen ihnen jeden Moment aus der Welt der Toten zulächeln. Das Gesicht des Mannes machte den Eindruck, als sei er zu Lebzeiten so unbarmherzig gewesen wie der Tod.
Kaiser Jagangs dumpfe Bestürzung angesichts des auf einer Speerspitze aufgespießten Kopfes unmittelbar vor seinen Augen sowie die Tatsache, daß nicht einer der Zehntausende von Männern sich auch nur zu räuspern wagte, ließ Jennsens Herz schneller schlagen als bei dem verwegenen Galopp auf Rustys Rücken.
Vorsichtig riskierte Jennsen einen Seitenblick auf Sebastian. Er stand ebenfalls wie vom Donner gerührt. Als sie den Ausdruck in seinen aufgerissenen, tränenüberströmten Augen sah, drückte sie ihm voller Mitgefühl den Arm. Schließlich beugte er sich zu ihr, um ihr mit tränenerstickter Stimme etwas zuzuflüstern.
»Bruder Narev.«
Der Schock der beiden kaum hörbar geflüsterten Worte traf Jennsen wie ein Schlag ins Gesicht. Es war der große Mann höchstpersönlich, das geistige Oberhaupt der gesamten Alten Welt, Kaiser Jagangs persönlicher Freund und engster Berater – ein Mann, von dem Sebastian glaubte, daß er dem Schöpfer näher stand als jeder andere Mann, der je das Licht der Welt erblickt hatte, ein Mann, dessen Lehren Sebastian peinlich genau befolgte ...
Der Kaiser streckte seine Hand vor und zog ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier heraus, das seitlich in Bruder Narevs Kappe steckte. Als Jennsen sah. wie Jagang den sorgfältig gefalteten Zettel mit seinen fleischigen Fingern auseinanderklappte, fühlte sie sich unerwartet an den schicksalhaften Tag erinnert, als auch sie, bei einem toten d’Haranischen Soldaten auf dem Grund der Schlucht, einen kleinen Zettel gefunden und auseinandergefaltet hatte, an jenen Tag, an dem sie Sebastian zum ersten Mal begegnet war, an den Tag, bevor die Soldaten Lord Rahls sie aufgespürt und ihre Mutter umgebracht hatten.
Kaiser Jagang hielt das Stück Papier vor sich, um schweigend zu lesen, was darauf stand. Eine beängstigend lange Zeit schien er einfach nur auf das Papier zu starren; schließlich ließ er den Arm schlaff an seinem Körper herabfallen. Eine ungeheure Wut kochte in ihm hoch und ließ seine Brust anschwellen, während er Bruder Narevs Kopf auf der Spitze des Speers betrachtete. Mit glutvoller, von bitterer Empörung erfüllter Stimme wiederholte Jagang den Text des Zettels gerade laut genug, daß die Umstehenden ihn hören konnten.
»Mit besten Empfehlungen von Richard Rahl.«
Der auffrischende Wind fuhr stöhnend durch eine nahe Baumreihe. Niemand sprach ein Wort, alles wartete auf Weisungen des Kaisers.
Der üble Gestank ließ Jennsen die Nase rümpfen. Sie blickte hoch und sah, daß der Kopf, der eben noch so perfekt schien, vor ihren Augen zu verwesen begann. Der Unterkiefer klaffte auf. Der schmale Strich des Mundes weitete sich, so daß man fast meinen konnte, er setze an zu einem Schrei.
Zusammen mit allen anderen, Kaiser Jagang eingeschlossen, wich Jennsen einen Schritt zurück, als das Fleisch des Gesichts in plötzlichem Verfall auf schauderhafte Weise aufzuplatzen begann und das faulige Gewebe darunter sichtbar wurde. Die Zunge schwoll an, während der Kiefer weiter nach unten klappte, die Augäpfel kippten nach vorn aus ihren Höhlen und schrumpften ein. Klumpen stinkenden Gewebes lösten sich und fielen zu Boden.
Was normalerweise ein monatelanger Zerfallsprozeß gewesen wäre, geschah hier in Sekundenschnelle, und zurück blieb ein Totenschädel unter einer geknifften Kappe, der sie durch Fetzen schlaff herabhängenden Gewebes angrinste.
»Er war mit einem magischen Netz umgeben, Exzellenz«, sagte Schwester Perdita; fast klang es wie die Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Jennsen hatte gar nicht bemerkt, daß sie sich ihnen von hinten genähert hatte. »Der Bann hat ihn in diesem Zustand erhalten, bis Ihr den Brief aus der Kappe zogt, wodurch der Zauber, der ihn konservierte, aufgehoben wurde. Nachdem die Magie entfernt war, durchliefen seine ... sterblichen Überreste den üblichen Verfallsprozess, wie er normalerweise längst stattgefunden hätte.«
Kaiser Jagang musterte sie mit seinen kalten, unergründlichen Augen. Jennsen konnte nicht wissen, was er dabei dachte, sah aber den unbändigen Zorn, der hinter diesen alptraumhaften Augen aufkam.
»Der Schutzmechanismus, der ihn bis zu dem Augenblick konservierte, da ihn exakt die richtige Person – beim Herausziehen des Briefes – berührte, war überaus komplex«, erläuterte Schwester Perdita mit ruhiger Stimme. »Wahrscheinlich war der Schutzmechanismus auf Eure Berührung abgestimmt, Exzellenz.«
Einen erschreckenden Augenblick lang befürchtete Jennsen, Kaiser Jagang könnte sein Schwert mit einem wütenden Aufschrei kreisen lassen und der Frau den Kopf abschlagen.
Ein etwas seitlich von ihnen stehender Offizier wies hinauf zum Palast der Konfessoren.
»Seht doch! Sie ist es!«
»Gütiger Schöpfer!«, hauchte Sebastian, als auch er den Kopf hob und eine Person im Fenster stehen sah.
Andere Soldaten begannen ebenfalls zu rufen, sie hätten sie gesehen. Jennsen stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte an den unzähligen nach vorne stürmenden Soldaten und gestikulierenden Offizieren vorbei, durch die Spiegelungen der Fensterscheibe einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die sie, etwas zurückversetzt, im dunklen Hintergrund des Raumes erspäht zu haben glaubte. Sie hielt die Hand schützend über ihre Augen, um besser sehen zu können. Unter den Soldaten wurde aufgeregt getuschelt.
»Da!«, stieß ein anderer Offizier hervor. »Seht doch! Es ist Lord Rahl! Dort! Das ist Lord Rahl!«
»Da!«, schrie wieder ein anderer. »Jetzt laufen sie dort hinten entlang! Es sind die beiden!«
»Jetzt sehe ich sie auch«, knurrte Jagang, während er die beiden fliehenden Gestalten mit seinem düsteren Blick verfolgte. »Dieses Miststück würde ich selbst noch im entlegensten Winkel der Unterwelt erkennen. Und dort drüben – Lord Rahl ist bei ihr!«
Jennsen bekam die beiden an den Fenstern vorbeihuschenden Gestalten immer nur für kurze Augenblicke zu sehen.
Kaiser Jagang, die Luft mit seinem Schwert zerteilend, gab seinen Männern ein Zeichen. »Umstellt den Palast damit sie auf keinen Fall entkommen können!« Dann wandte er sich an seine Offiziere. »Ein Sturmtrupp soll mich begleiten! Außerdem ein Dutzend Schwestern! Schwester Perdita – Ihr bleibt hier draußen bei den anderen Schwestern. Und laßt ja niemanden vorbei!«
Sein Blick suchte Sebastian und Jennsen. Als er sie inmitten der Umstehenden erspäht hatte, durchbohrte er Jennsen mit seinem wütend funkelnden Blick.
»Wenn Ihr Euer Vorhaben in die Tat umsetzen wollt. Mädchen, dann müßt Ihr mich jetzt begleiten.«
Jennsen jagte bereits zusammen mit Sebastian in Kaiser Jagangs Schlepptau davon, als sie plötzlich merkte, daß sie das Messer in der geballten Faust hielt.