52

Nachdem sie ihre Pferde angepflockt hatten, kraulte Jennsen Rusty die Stirn und streichelte das Tier nervös mit ihrer anderen Hand unterm Kinn, während sie ihre Wange gegen die Pferdeschnauze schmiegte.

»Sei ein gutes Mädchen, bis ich wieder da bin«, flüsterte sie. Rusty antwortete auf ihre besänftigenden Worte mit einem leisen Wiehern.

Jennsen blickte hoch in das krallenartige Geäst, das sich im fahlen Licht eines hinter einem zarten, milchigen Wolkenschleier verborgenen Vollmondes, der wie ein stummer Zeuge über den Himmel zog, sanft wiegte.

»Kommst du?«

»Ja, Schwester Perdita.«

»Dann beeil dich. Die anderen warten bestimmt schon.«

Jennsen folgte der Frau eine Böschung hinauf. Der moosbewachsene Boden war übersät mit festem, vertrocknetem Eichenlaub und einer Schicht aus dünnen Zweigen. Gelegentlich aus dem lockeren Lehmboden zu Tage tretende Wurzeln gaben genug halt, um den steilen Abhang zu erklimmen; oben wurde das Gelände ebener. Jennsen fiel auf, daß Schwester Perditas Bewegungen für eine Frau von so kräftiger Statur von erstaunlicher Geschmeidigkeit waren.

Die Stimme blieb stumm. In Augenblicken erhöhter Anspannung, so wie jetzt, flüsterte die Stimme normalerweise auf sie ein; jetzt aber schwieg sie. Jennsen hatte sich immer gewünscht, die Stimme würde sie endlich in Frieden lassen, aber jetzt dämmerte ihr ganz langsam, wie beängstigend diese Stille sein konnte.

Da der Mond nur hinter einem feinen Wolkenschleier verborgen war, spendete er ihnen genug Licht, um sich vorwärts zu tasten. Jennsen konnte ihren Atem in der kalten Luft sehen, als sie der Schwester zwischen niedrigen, ausladenden Tannen- und Fichtenzweigen hindurch mitten in den Wald hinein folgte. Früher hatte sie sich in den Wäldern stets zu Hause gefühlt, doch als sie der Schwester jetzt in diesen Wald hinein folgte, wollte sich dieses Gefühl nicht so recht einstellen.

Sie wäre lieber allein gewesen statt in Gesellschaft einer derart unfreundlichen Frau. Kaum hatte Jennsen ihr gegenüber jenes eine Wort ausgesprochen, das Sebastians Leben retten würde, hatte Schwester Perdita ein Verhalten unverhohlener Überheblichkeit an den Tag gelegt, das jede Toleranz vermissen ließ. Mittlerweile hatte sie eindeutig das Sagen und war sicher, daß Jennsen dies ebenfalls wußte.

Wenigstens hatte sie Wort gehalten. Unmittelbar nach Jennsens Zusage hatte sie einige andere Schwestern gedrängt, die Rettung von Sebastians Leben in Angriff zu nehmen. Während sie vorgeschickt wurden, um ihre wie auch immer gearteten Vorbereitungen zu treffen, erhielt Jennsen Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, daß alles Menschenmögliche für seine Rettung getan wurde.

Bevor sie ihn verließ, hatte sie sich über ihn gebeugt und ihm einen zarten Kuß auf seinen hübschen Mund gehaucht, ihm zärtlich über sein weißes Stoppelhaar gestrichen und seine geschlossenen Augen mit den Lippen gestreift. Dann hatte sie ein leises Gebet an ihre bei den Gütigen Seelen weilende Mutter gesprochen und sie gebeten, über ihn zu wachen.

Schwester Perdita hatte sie weder daran gehindert noch zur Eile gedrängt; erst ganz zum Schluß hatte sie Jennsen sacht zurückgezogen, ihr leise zugeraunt, man müsse die Schwestern, die sich bereits um ihn drängten, jetzt allein lassen, damit sie ihre Arbeit verrichten konnten.

Auf dem Weg nach draußen hatte Jennsen einen kurzen Blick in das Privatgemach des Kaisers werfen dürfen, wo sie vier Schwestern tief über sein verwundetes Bein gebeugt sah. Der Kaiser hatte das Bewußtsein verloren. Die vier fieberhaft um den Kaiser bemühten Schwestern schienen selbst Schmerzen zu leiden, denn manchmal faßten sie sich gequält an den Kopf. Erst als sie diese Schwestern sah und Schwester Perdita es ihr erklärte, wurde Jennsen bewußt, wie unangenehm und schwierig das Heilen sein konnte. Anders als in Sebastians Fall waren sie allerdings nicht besorgt, das Leben ihres Patienten sei unmittelbar in Gefahr.

Jennsen bog einen Tannenzweig zurück und folgte der Schwester tiefer in den unheimlichen Wald.

»Wieso müssen wir uns eigentlich so weit vom Feldlager entfernen?«, fragte Jennsen flüsternd. Bereits der Ritt hierher schien Stunden gedauert zu haben.

Schwester Perditas zusammengebundenes Haar fiel nach vorn über ihre Schulter, als sie nach hinten schaute, so als sei dies eine ganz besonders dumme Frage. »Damit wir unter uns sind, um zu tun, was getan werden muß.«

Jennsen versuchte nicht daran zu denken, was sie erwartete, sondern versuchte sich statt dessen vorzustellen, wie sie am nächsten Morgen mit dem wieder genesenen Sebastian aufbrechen, wie sie mit ihm durch die Lande reiten würde – fernab der vielen Menschen und vor allem fernab der grimmig dreinblickenden Soldaten der Imperialen Ordnung.

Natürlich war ihr bewußt, daß diese Soldaten mit ihrem Kampf gegen Lord Rahl unschätzbare Arbeit leisteten, aber das änderte nichts daran, daß es sie beim bloßen Gedanken an diese Männer eiskalt überlief. Ihre Gegenwart machte sie so nervös wie ein Kitz unter den Blicken eines Rudels gierig geifernder Wölfe.

Wenn sie einfach nur tat, was Schwester Perdita von ihr verlangte, würden Sebastian und sie am Morgen fortgehen können. Was immer die Schwestern an Hilfe für sie vorgesehen hatten, sie gaben ihr damit die Zuversicht, Richard Rahl leichter töten zu können. Im Augenblick war dies abgesehen von Sebastian das Einzige, was Jennsen interessierte.

Sie hatten die Pferde in einem völlig kahlen, größtenteils aus Eichen bestehenden Waldstück zurückgelassen. Da die Bäume noch nicht ausgeschlagen hatten, war der Wald anfangs noch licht gewesen, mittlerweile jedoch drangen sie immer tiefer in einen dichteren Wald aus Tannen, Fichten und Föhren vor, deren mächtige Zweige oft bis hinunter auf den Boden reichten. Die himmelwärts strebenden Föhren hatten zwar unten am Stamm keine Zweige, dafür sperrten ihre breiten Wipfel das trübe Mondlicht aus. Schwester Perdita bewegte sich dennoch mit der Sicherheit eines Menschen, der einer Straße folgt, obwohl es hier weit und breit nicht mal einen Pfad zu geben schien.

Dann plötzlich drang ein schwaches Geräusch durch das dichte Unterholz an Jennsens Ohr. Weiter vorn erblickte sie einen schwachen rötlichen Lichtschein auf der Unterseite einiger Zweige. Eine merkwürdige, unangenehme Witterung lag in der eisigen Luft, Verwesungsgeruch ganz ähnlich, allerdings mit einer äußerst ekelhaften süßen Note.

Während sie Schwester Perdita weiterhin durch die dichten, eng beieinander stehenden Nadelbäume folgte, konnte Jennsen nach und nach einzelne, zu einem leisen rhythmischen, heiseren Sprechgesang vereinte Stimmen unterscheiden. Die Worte selbst verstand sie nicht, ihre Schwingungen jedoch spürte sie bis in ihre Brust und – da der ungewöhnliche Rhythmus ihr verwirrend vertraut erschien – sogar bis in den entlegensten Winkel ihres Verstandes. Auch ohne die einzelnen Worte unterscheiden zu können, schien es dieser Sprechgesang zu sein, der der Luft den üblen Geruch verlieh. Die ebenso seltsamen wie quälend vertrauten Worte hatten zur Folge, daß sich ihr vor Übelkeit der Magen umdrehte.

Schwester Perdita hielt einen niedrigen Tannenzweig für sie zur Seite, und Jennsen trat hindurch. Als sie unmittelbar dahinter die im Sprechgesang vereinten Stimmen vernahm, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Durch die Lücke konnte sie eine Lichtung im Wald erkennen, die einen ungehinderten Blick auf den Himmel und den hoch oben stehenden Mond gewährte.

Jennsen warf einen Blick in das unfreundliche Gesicht der Schwester, dann trat sie noch ein Stück weiter vor bis zum Rand der Lichtung. Vor ihr befand sich ein weiter Kreis aus Kerzen. Die Kerzen standen so dicht nebeneinander, daß sie fast wie ein zur Abwehr von Dämonen angelegter Feuerring wirkten. Unmittelbar innerhalb des Kerzenrings war ein zweiter Kreis auf den nackten Waldboden gezeichnet worden, mit einer Substanz, die an weißen, im Mondschein glitzernden Sand erinnerte. Die gesamte Innenfläche des Kreises war mit geometrischen; aus dem gleichen Sand gezeichneten Figuren ausgefüllt, die Jennsen nichts sagten.

Inmitten der glitzernden Sandfiguren saßen sieben Frauen im Kreis. Einen Platz hatte man für eine noch fehlende Person freigelassen, offenbar Schwester Perdita. Während sie den Sprechgesang in der fremden Sprache anstimmten, hatten die Frauen die Augen geschlossen. Das Mondlicht spiegelte sich blinkend auf den Ringen in ihrer Unterlippe, als sie die heiseren, kehligen Worte intonierten.

»Dir ist der Platz in der Mitte des Kreises vorbehalten«, meinte Schwester Perdita mit leiser Stimme. »Leg deine Kleider ab und setz dich, das Gesicht dem freien Platz zugewandt, in die Mitte des Kreises.«

Der Befehl wurde mit derart kühler Autorität erteilt, daß Jennsen schlichtweg keine andere Wahl hatte, als zu gehorchen. Die Schwester nahm ihren Umhang entgegen, dann schaute sie ihr schweigend zu. Nachdem ihr Kleid zu Boden geglitten war, schlang Jennsen sich die Arme um die fröstelnden Schultern. Ihre Zähne klapperten, aber keineswegs nur wegen der Kälte. Als sie den stummen, funkelnden Blick der Schwester bemerkte, schluckte Jennsen angewidert und legte rasch auch noch ihre restlichen Kleidungsstücke ab.

Schwester Perdita stieß einen Finger in ihre Richtung. »Geh.«

»Was mache ich eigentlich hier?« Jennsen kam ihre eigene Stimme überraschend kräftig vor.

Schwester Perdita dachte einen Augenblick über die Frage nach, bevor sie sie schließlich beantwortete. »Du wirst in Kürze Richard Rahl eliminieren. Um dir dabei zu helfen, werden wir eine Lücke in den Schleier zur Unterwelt reißen.«

Jennsen schüttelte den Kopf. »Nein, kommt nicht in Frage. Ich werde nichts dergleichen tun.«

»Jeder tut das. Wenn man stirbt, tritt man durch den Schleier. Der Tod ist Teil des Lebens. Wenn du Lord Rahl töten willst, wirst du Hilfe benötigen; und genau diese Hilfe werden wir dir gewähren.«

»Aber die Unterwelt ist das Reich der Toten. Ich kann doch nicht...«

»Du kannst und du wirst. Du hast dein Wort bereits gegeben. Wenn du dich weigerst, wie viele Menschenleben wird Lord Rahl dann noch vernichten? Du wirst es tun, denn sonst wird das Blut jedes dieser Opfer an deinen Händen kleben. Du würdest mit deiner Weigerung den Tod zahlloser Menschen heraufbeschwören und dich zum Gehilfen deines Bruders machen. Du, Jennsen Rahl würdest dem Tod Tür und Tor öffnen und zulassen, daß all diese Menschen sterben. Du, Jennsen Rahl, würdest zur Anhängerin des Hüters werden. Wir fordern dich auf, all deinen Mut zusammenzunehmen, dich dem zu widersetzen und statt dessen Richard Rahl den Tod zu bringen.«

Fröstelnd dachte Jennsen über Schwester Perditas entsetzliche Aufforderung nach, über die entsetzliche Entscheidung, der sie sich auf einmal gegenübersah. Jennsen sprach ein Gebet an ihre Mutter und bat sie um Rat. doch es erschien kein Zeichen, das ihr geholfen hätte. Auch die Stimme hüllte sich in Schweigen.

Jennsen trat über den Ring aus Kerzen.

Sie mußte es tun; sie mußte der Herrschaft Richard Rahls ein Ende machen. Dankenswerterweise schien der gesamte mittlere Bereich des sorgfältigen Arrangements im Dunkeln zu liegen. Jennsen empfand es als demütigend, sich nackt vor Fremden zu zeigen, auch wenn es Frauen waren, aber das war im Augenblick noch ihre geringste Sorge.

Als sie über den Kreis aus glitzerndem, weißem Sand hinwegtrat, empfing sie dahinter eine erschreckende Kälte; es war, als wäre sie mit einem Schritt mitten im tiefsten Winter gelandet. Zitternd und bibbernd, die Arme um den Körper geschlungen, begab sie sich schließlich in den inneren Kreis der Frauen.

In der Mitte befand sich eine mit demselben weißen Sand gezeichnete, im Mondschein glitzernde Huldigung. Davor blieb sie stehen, den Blick auf das Symbol gerichtet, das sie selbst so oft gezeichnet hatte, auch wenn damals nicht die Gabe ihre Hand geführt hatte.

»Setz dich hin«, kommandierte Schwester Perdita.

Jennsen fuhr erschrocken hoch. Die Frau stand unmittelbar hinter ihrem Rücken. Als sie die Hände auf Jennsens Schulter legte und drückte, ließ Jennsen sich zu Boden sinken und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen genau in den achtzackigen Stern in der Mitte der Huldigung. Jetzt sah sie, daß jede Schwester an der Verlängerung eines von den Zacken des Sterns ausgehenden Strahls saß – bis auf den einen unmittelbar vor ihr. Dieser Platz war unbesetzt.

Nackt und zitternd hockte Jennsen im Mittelpunkt des Kreises, als die Schwestern erneut zu ihrem leisen Sprechgesang ansetzten.

Der Wald war dunkel und unheimlich. Der Wind ließ die Äste klappernd aneinanderschlagen wie die Gebeine jener Toten, die die Schwestern, wie Jennsen befürchtete, gerade herbeiriefen.

Der Sprechgesang brach unvermittelt ab. Statt sich, wie Jennsen vermutet hatte, auf den einen leeren Platz zu setzen, der im Kreis der Schwestern frei geblieben war war Schwester Perdita hinter ihr stehen geblieben und sprach mit knappen, strengen Worten in der fremden Sprache.

An bestimmten Stellen der langen, in leierndem Tonfall vorgetragenen Ansprache legte Schwester Perdita eine gewisse Betonung auf ein bestimmtes Wort – Grushdeva – und streute mit ausgestrecktem Arm ein wenig Staub auf Jennsens Kopf. Der Staub entzündete sich mit einem rauschenden, dumpfen Knall, der Jennsen jedes Mal erschrocken auffahren ließ und die Schwestern im Schein der wallenden Flammen in ein grelles Licht tauchte.

Jedesmal, wenn das Feuer daraufhin gen Himmel stieg, intonierten die Schwestern wie aus einem Mund, »Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«

Dies waren nicht nur Worte, die sie kannte, Jennsen merkte auch, daß die Stimme in ihrem Kopf die Worte gemeinsam mit den Schwestern intonierte. Die Stimme wiederzuhaben, hatte etwas gleichermaßen Beängstigendes wie Tröstliches, denn das beklemmende Angstgefühl nach dem Verstummen der Stimme war unerträglich gewesen.

» Tu vash misht Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«

Das Geräusch des Sprechgesangs hatte eine beruhigende und im weiteren Verlauf auch schläfrig machende Wirkung auf Jennsen. Sie mußte daran denken, was alles dazu geführt hatte, daß sie sich jetzt an diesem Punkt befand, an den Alptraum, aus dem ihr ganzes Leben bestanden hatte, von jenem Zeitpunkt an, als sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter aus dem Palast des Volkes geflohen war, bis hin zu den unzähligen Malen, da Lord Rahls Soldaten ihnen ganz nahe gekommen waren und sie nur mit knapper Not entkommen konnten, bis hin zu der fürchterlichen Regennacht als die Männer Lord Rahls in ihr Haus eingedrungen waren. Jennsen spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, sobald sie an den Tod ihrer Mutter auf dem blutverschmierten Fußboden dachte. Der entsetzliche Schmerz ließ sie gequält aufschreien.

»Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«

Tränenüberströmt schüttelte sich Jennsen unter heftigem Schluchzen. Ihre Mutter fehlte ihr; sie hatte Angst um Sebastian. Sie fühlte sich so entsetzlich allein in der Welt. Sie hatte so viele Menschen sterben sehen, das alles sollte endlich ein Ende haben.

» Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.«

Als sie den Blick hob, gewahrte sie etwas Dunkles auf dem Augenblicke zuvor noch unbesetzten Platz genau vor ihr. Die Augen dieses Etwas glänzten im Schein der Kerzen. Als Jennsen in diese Augen starrte, war es, als sähe sie die Stimme selbst vor sich.

»Tu vash misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht«. sprach die Stimme vor ihr und in ihrem Kopf in leise knurrendem Tonfall. »Öffne dich für mich, Jennsen. Öffne dich für mich, Jennsen.«

Gefangen in dem feurigen, durchbohrenden Blick aus diesen Augen war Jennsen wie gelähmt. Es war die Stimme, nur befand sie sich diesmal nicht in ihrem Kopf. Es war die Stimme unmittelbar vor ihr.

Hinter ihr verstreute Schwester Perdita abermals ihren Staub, und als er sich diesmal entzündete, beleuchtete er die Person, die dort mit feurig glühenden Augen vor ihr hockte.

Es war ihre Mutter.

»Jennsen«, girrte ihre Mutter. »Gib dich hin.«

»Was?«, wimmerte Jennsen, zu Tode erschrocken.

»Gib dich hin.«

Jetzt brachen alle Dämme, und ihre Tränen ergossen sich in einem einzigen, unkontrollierbaren Sturzbach. »Mama! Oh. Mama!«

Jennsen machte Anstalten, sich zu erheben, machte Anstalten, auf ihre Mutter zuzugehen, doch Schwester Perdita drückte sie an den Schultern wieder hinunter auf ihren Platz.

Als die wogenden Flammen gen Himmel stiegen und erloschen, als das Licht verblaßte, verschmolz ihre Mutter mit der Dunkelheit, und vor ihr saß wieder dieses Etwas mit den glühenden Kerzenaugen.

»Grushdeva du kalt misht«, knurrte die Stimme.

»Was?«, wimmerte Jennsen.

»Rache geschieht durch mich«, übersetzte die Stimme knurrend. »Surangie, Jennsen. Gib dich auf, und dein wird die Rache sein.«

»Ja!«, schrie Jennsen in ihrer untröstlichen Qual. »Ja, ich werde mich ganz der Rache hingeben!«

Als das Etwas daraufhin grinste, war es, als täte sich ein Tor zur Unterwelt auf.

Es erhob sich, ein flirrender Schatten, und beugte sich zu ihr vor. Das Mondlicht glänzte auf seinen knotigen Muskeln, als es sich streckte und fast wie eine Katze lächelnd auf sie zukam und ihr dabei seine Reißer zeigte, bei deren Anblick einem das Herz stehen blieb.

Jennsen war mittlerweile völlig hilflos und wußte nur noch eins, Sie war mit ihrer Kraft am Ende und wollte, daß es aufhörte, denn sie ertrug es einfach nicht mehr länger. Sie wollte Richard Rah! töten; sie wollte Rache. Und sie wollte ihre Mutter wiederhaben.

Das Wesen stand genau vor ihr, ein unbestimmtes Etwas aus schimmernder Kraft und Form; es war da und doch auch nicht, teils in dieser Welt und teils in einer anderen.

In diesem Moment bemerkte Jennsen jenseits des Wesens, jenseits der Schwestern und des glitzernden weißen Sandes und der Kerzen riesige Gestalten draußen in den Schatten – vierbeinige Gestalten. Es waren Hunderte, mit Augen, die sämtlich gelb im Dunkeln leuchteten, und dampfendem Atem vor ihren knurrenden Schnauzen. Sie sahen aus, als entstammten sie einer anderen Welt, obwohl sie in diesem Moment zweifellos und voll und ganz in dieser weilten.

»Jennsen«, flüsterte die Stimme ganz dicht über ihr. »Jennsen«, girrte sie, »Jennsen.« Sie lächelte ein Lächeln, so unergründlich finster wie die Augen Kaiser Jagangs, so dunkel wie eine Neumondnacht.

»Was ...«, wimmerte sie unter Tränen. »Was sind das für Wesen dort draußen?«

»Nun, das sind die Hunde der Rache«, sprach die Stimme leise in vertraulichem Ton. »Umarme mich, dann lasse ich sie los.«

Sie riß die Augen auf. »Was?«

»Gib dich mir hin, Jennsen. Umarme mich, und ich werde die Hunde in deinem Namen loslassen.«

Jennsen vermochte nicht einmal zu blinzeln, als sie vor dem Wesen zurückwich. Es verschlug ihr fast den Atem. Ein leises Geräusch, ein schnurrendes Rasseln drang aus der Kehle des Wesens, als es sich ganz weit über sie beugte und ihr von oben herab in die Augen blickte.

Sie suchte krampfhaft nach dem einen kleinen Wort, dem ach so wichtigen kleinen Wort. Es verbarg sich irgendwo in ihren Gedanken, doch als sie jetzt in diese leuchtenden Augen hinaufstarrte, wollte es ihr einfach nicht einfallen. Ihr Verstand schien wie erstarrt. Sie brauchte dringend dieses Wort, doch es war einfach wie verschwunden.

»Grushdeva du kalt misht«. girrte die Stimme mit ihrem kehligen, hallenden Knurren. »Rache geschieht durch mich.«

»Rache«, wiederholte Jennsen benommen mit leiser Stimme.

»Öffne dich mir, öffne dich mir. Gib dich hin. Räche deine Mutter.«

Das Wesen strich ihr mit einem langen Finger über das Gesicht, und plötzlich spürte sie deutlich, wo Richard Rahl sich befand – so als fühlte sie die Bande, die anderen Menschen seinen Aufenthaltsort verriet. Irgendwo im Süden, tief unten im Süden. Jetzt konnte sie ihn finden.

»Umarme mich«, hauchte die Stimme, nur wenige Zoll vor ihrem Gesicht.

Plötzlich wurde Jennsen sich bewußt, daß sie flach auf dem Rücken lag, eine Erkenntnis, die sie gleichermaßen überraschte und bestürzte. Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, sich zurückgelehnt zu haben. Ihr war. als beobachtete sie eine andere, die all diese Dinge tat. Sie merkte, daß das Wesen, das die Stimme war, zwischen ihren leicht gespreizten Beinen kniete.

»Gib deinen Willen hin, Jennsen. Gib deinen Körper hin«, girrte die Stimme, »und ich werde die Hunde in deinem Namen loslassen. Ich werde dir helfen, Richard Rahl zu töten.«

Das Wort war weg, verloren. Einfach verloren, genau wie sie.

»Ich ... ich«, stammelte sie, während ihr die Tränen aus den weit aufgerissenen Augen liefen.

»Umarme mich, und dein wird die Rache sein. Dann steht es ganz in deiner Macht, Richard Rahl zu töten. Umarme mich. Gib deinen Körper hin, und mit ihm deinen Willen.«

Sie war Jennsen Rahl. sie war es, die ihr Leben bestimmte.

»Nein.«

Die Schwestern im Kreis wimmerten plötzlich vor Schmerzen. Sie schlugen sich die Hände auf die Ohren, schrieen vor Schmerzen und heulten wie die Hunde.

Die leuchtenden Wachslichtaugen musterten sie von oben herab. Das Lächeln kehrte zurück, diesmal begleitet von leise zischendem Dampf, der zwischen seinen Reißern entwich.

»Gib dich hin, Jennsen«, polterte die Stimme plötzlich in einem so gebieterischen Ton, daß Jennsen glaubte, davon erdrückt zu werden.

»Gib deinen Körper hin. Gib deinen Willen hin. Und die Rache wird dein sein. Richard Rahl wird dir ausgeliefert sein.«

»Nein«, wiederholte sie und wich zurück, als das Wesen sich noch näher vor ihr Gesicht schob. Ihre Finger krallten sich in die Erde. »Nein! Ich werde meinen Körper hingeben und meinen Willen auch, wenn das der Preis ist, wenn es das ist, was ich tun muß, um die Welt des Lebens von diesem mörderischen Bastard Richard Rahl zu erlösen, aber das tue ich erst, wenn Ihr mir zuvor das andere zugesteht.«

»Du willst einen Handel?«, zischte die Stimme. Die leuchtenden Augen färbten sich gefährlich rot.

»Das ist mein Preis. Laßt Eure Hunde los. Helft mir, Richard Rahl zu töten. Sobald ich mich gerächt habe, werde ich mich hingeben.«

Das Wesen grinste ein wahrhaft alptraumhaftes Grinsen.

Eine lange, dünne Zunge schnellte vor und schleckte sie in grauenhaft verheißungsvoller Vertraulichkeit vom Schritt hinauf bis zwischen ihre Brüste ab, eine Berührung, die sie bis auf den Grund ihrer Seele erschauern ließ.

»Abgemacht, Jennsen Rahl.«

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