24

Jennsens Gedanken verloren sich in einem Nebel aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Der Sumpf existierte nur insofern, als er der Boden unter ihren Füßen war, sie umgab und über ihrem Kopf wucherte, ihre Gedanken jedoch waren wirrer und chaotischer als all das verschlungene Geäst rings um sie her. So vieles, was sie geglaubt hatte, war letzten Endes falsch gewesen; was nicht nur bedeutete, daß sie viele ihrer Hoffnungen aufgeben, sondern auch ihre Lösungen verwerfen mußte.

Vor lauter Tränen konnte sie kaum den Weg erkennen, auf dem sie ging; nahezu blind stapfte sie durch den Morast.

Irgendwann blickte sie über ihre Schulter auf die endlose, dunkle Wasserfläche und überlegte, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn sie hinunterfiele, von der Tiefe verschlungen würde und es endlich hinter sich hätte. Der Gedanke erschien ihr verlockend, er verhieß ihr ebenjenen inneren Frieden, nach dem sie sich so sehnte. Endlich Frieden. Vielleicht könnte sie dann bei ihrer Mutter und den anderen Gütigen Seelen sein.

Sie bezweifelte allerdings, ob die Gütigen Seelen eine Selbstmörderin aufnehmen würden. Es war falsch zu töten, es sei denn zur Verteidigung eines Menschenlebens. Wenn Jennsen aufgab, dann wären all die Mühen ihrer Mutter, ihr ganzes aufopferungsvolles Leben vergeblich gewesen.

Auch Althea hatte bei dem Versuch, ihr zu helfen, nahezu alles verloren. Wie konnte Jennsen solche Tapferkeit ignorieren – und zwar nicht nur Altheas, sondern auch Friedrichs? So elend ihr wegen ihrer Schuldgefühle auch zumute sein mochte, das eine Leben, das sie besaß, durfte sie nicht einfach fortwerfen.

Trotzdem fühlte sie sich, als hätte sie Althea der Chance auf ein eigenständiges Leben beraubt. Woher nahm Jennsen überhaupt das Recht, von anderen Hilfe zu erwarten? Warum sollten andere ihretwegen Leben und Freiheit verwirken? Jennsens Mutter war nicht die Einzige, die ihretwegen gelitten hatte. Althea und Friedrich waren an den Sumpf gebunden, Lathea hatte man ermordet und Sebastian wurde gefangen gehalten. Selbst Tom, der oben auf der Wiese auf sie wartete, hatte den Verdienst seines Lebensunterhalts hintangestellt, nur um ihr beistehen zu können.

So viele Menschen hatten versucht, ihr zu helfen, und dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, daß sie andere für ihre Ziele einspannen durfte? Andererseits – wie konnte sie ohne ihre Hilfe weiterexistieren?

Nachdem sie das schmale Felsband und den Tümpel hinter sich gelassen hatte, schleppte sich Jennsen mühsam durch ein endloses Wurzelgewirr; zweimal fiel sie der Länge nach hin, doch beide Male stand sie wieder auf und ging weiter. Beim dritten Sturz schlug sie so fest mit dem Gesicht auf, daß sie vor Schmerz kurz das Bewußtsein verlor. Überzeugt, etwas müsse gebrochen sein, tastete Jennsen mit den Fingern Wangenknochen und Stirn ab, konnte aber weder Blut noch einen offenen Bruch entdecken. Als sie dort zwischen den schlangenartigen Wurzeln lag, überkam sie ein Gefühl von Scham wegen all des Ärgers, den sie in das Leben anderer getragen hatte.

Und schließlich wurde sie wütend.

Jennsen.

Sie mußte an die Worte ihrer Mutter denken, »Verstecke dich niemals hinter Schuldgefühlen, nur weil andere Menschen böse sind.«

Jennsen stützte sich auf ihre Arme. Wie viele andere mochten versucht haben, den Menschen, die wie Jennsen waren, den Nachkommen des Lord Rahl, zu helfen, und hatten dafür mit dem Leben büßen müssen? Wie viele würden es noch tun?

Lord Rahl war es, der die Verantwortung für diese ruinierten Leben trug.

Jennsen., gib dich hin.

Hatte es denn nie ein Ende?

Grushdeva du kalt misht.

Sebastian war nur der Letzte in einer langen Reihe. Wurde er in diesem Moment ihretwegen gefoltert? Bezahlte auch er mit dem Leben dafür, daß er ihr half?

Gib dich hin.

Armer Sebastian. Plötzlich wurde sie sich der Sehnsucht nach ihm schmerzlich bewußt. Er war so freundlich gewesen, ihr zu helfen, so tapfer, so stark.

Tu vasht misht. Tu vask misht. Grushdeva du kalt misht.

Die Stimme, beharrlich, gebieterisch, hallte durch ihren Kopf, leise Worte flüsternd, die keinen Sinn ergaben. Sie erhob sich unsicher. Hatte sie denn überhaupt kein eigenes Leben – nicht einmal in ihren Gedanken? Mußte sie andauernd verfolgt werden, entweder von Lord Rahl oder von dieser Stimme?

Jenn -

»Laß mich in Ruhe!«

Sie mußte Sebastian helfen.

Und schon eilte sie weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, schob Schlingpflanzen und Zweige zur Seite und bahnte sich so einen Weg durch das Dickicht. Sie mußte endlich begreifen, daß es ganz allein bei ihr lag, das zu tun, was nötig war, um sich selbst zu helfen – und auch anderen.

Jennsen, gib dich hin.

»Nein. Laß mich in Frieden!«

Sie war das alles so leid. Und jetzt wurde sie auch noch wütend.

Jennsen stürmte weiter durch den Sumpf. Sie mußte Sebastian helfen, und dazu mußte sie zu ihm zurück; zum Glück wartete Tom auf sie.

Aber was dann? Wie würde sie Sebastian aus dem Gefängnis herausbekommen?

Als sie die ausgedehnte Wasserfläche erreichte, wo sie zuvor der Schlange begegnet war, hielt sie inne, ließ den Blick suchend über die stille, unbewegte Wasserfläche schweifen, konnte aber nichts erkennen. Nirgendwo ragten Wurzeln, die in Wahrheit Schlangen sein mochten, aus der Wasseroberfläche. Es wurde langsam schummrig, deshalb konnte sie nicht sehen, ob in den dunklen Schatten unter dem wuchernden Blattwerk am Ufer etwas lauerte.

Sebastians Leben stand auf Messers Schneide! Jennsen watete in das Wasser hinein.

Sie stand bereits bis zur Hüfte darin, als ihr einfiel, daß sie eigentlich einen Stock hatte mitnehmen wollen, der ihr auf dem Rückweg durch das offene Wasser helfen sollte, das Gleichgewicht zu wahren. Unschlüssig blieb sie stehen und ging mit sich zu Rate, ob sie zurückgehen sollte, um einen abzuschneiden. Doch da der Rückweg ebenso lang gewesen wäre wie der Weg nach vorn, ging sie weiter. Sich mit den Füßen vorantastend, gelangte sie auf einen festen Untergrund aus Wurzeln, echten Wurzeln. Solange sie auf den Wurzeln blieb, reichte ihr das Wasser überraschenderweise nur bis zu den Knien, und sie konnte ihre Röcke raffen, damit sie beim Waten durch das undurchsichtige Wasser nicht noch nasser wurden.

Etwas stieß gegen ihr Bein, so daß Jennsen furchtbar erschrak. Ganz kurz nur sah sie Schuppen aufblitzen, als sie mit dem Fuß abrutschte, doch dann erkannte sie mit einem berauschenden Gefühl der Erleichterung, daß es bloß ein Fisch war der von dannen flitzte.

Beim Versuch, Gleichgewicht und Halt wiederzufinden, trat Jennsen mit ihrem ganzen Gewicht in ein bodenloses, schwarzes Loch. Sie hatte nur noch Zeit, kurz Luft zu holen, bevor das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug und Dunkelheit sie umgab. Im Untergehen bemerkte sie einen Strudel aus kleinen Bläschen; überrascht trat sie wie von Sinnen mit den Beinen aus und versuchte den Boden, irgendetwas zu berühren, um nicht unterzugehen, doch da war nichts – sie befand sich in tiefem Wasser und wurde von ihren nassen Kleidern nach unten gezogen. Statt ihr Gewicht zu tragen, drohten jetzt selbst ihre Stiefel sie in die Tiefe zu ziehen.

Mit den Armen rudernd kam Jennsen gerade lange genug an die Oberfläche, um kurz Luft zu holen, bevor sie erneut untertauchte.

Alles ging entsetzlich schnell. So sehr sie sich an das Leben klammerte, es schien ihr zwischen den Fingern zu zerrinnen. Alles erschien ihr unwirklich.

Jennsen.

Schatten näherten sich.

Jennsen.

Die Stimme hatte einen drängenden Unterton.

Jennsen.

Etwas stieß gegen sie. Sie sah etwas schillernd Grünes aufblitzen.

Die Schlange!

Hätte sie gekonnt, hätte sie lauthals aufgeschrien. Sie war dazu verdammt, hilflos mit anzusehen, wie der endlos lange Körper des Tieres unter ihr ringelnd näher kam.

Jennsen war zu erschöpft, um sich zu wehren.

Jennsen.

Jetzt würde sie ertrinken.

Dunkle Schlingen legten sich um ihren Körper.

Es tat weh.

Sie hatte immer geglaubt, wenn man ertrank, würden einen sanfte Fluten sacht in ihre Arme schließen, doch so war es keineswegs. Die Schmerzen waren schlimmer als alles, was sie bis dahin erlebt hatte. Das Gefühl, hilflos zu ersticken, war entsetzlich, denn ein schneidender, unerträglicher Schmerz drohte ihre Brust zu zermalmen. Verzweifelt wünschte sie sich sein Ende herbei.

Es tat weh.

Jennsen.

Sie fragte sich, wieso die Stimme sie nicht aufforderte, sich hinzugeben, so wie sonst. Sie empfand es als Ironie, daß die Stimme sie nicht darum bat, sondern nur ihren Namen rief, jetzt, da sie endlich bereit war, sich der Schlange und somit ihrem Schicksal zu überlassen.

Jennsen spürte einen Stoß von etwas Hartem gegen ihre Schulter. Es folgte ein nicht minder harter Schlag gegen ihren Kopf, dann gegen die Hüfte.

Sie wurde gegen das Ufer gedrückt, dort, wo die Wurzeln ins Wasser hineinwuchsen. Beinahe ohne zu merken, was sie tat, packte sie die Wurzeln und begann wie von Sinnen daran zu ziehen. Das Tier unter ihr drückte sie weiterhin sachte nach oben.

Dann endlich durchbrach Jennsen die Wasseroberfläche. Gierig sog sie die Luft mit weit aufgerissenem Mund in ihre Lungen; sie war außerstande, sich vollends aus dem Wasser zu ziehen, aber wenigstens war ihr Kopf im Trockenen und sie bekam wieder Luft.

Keuchend, die Augen geschlossen, klammerte sich Jennsen mit zitternden Fingern an die Wurzeln, um zu verhindern, daß sie ins Wasser zurückrutschte. Es war ein wunderbares Gefühl, als ihre verzweifelten Atemzüge die Lungen füllten. Sie spürte, wie ihre Kräfte mit jedem Atemzug zurückkehrten.

Schließlich gelang es ihr, sich Zoll um Zoll, Hand über Hand, an den Wurzeln aufs Ufer zu ziehen. Keuchend, hustend und bebend ließ sie sich auf die Seite fallen und beobachtete den nur wenige Zoll entfernten trägen Wellenschlag des Wassers. Dann sah sie, wie der Kopf der Schlange die Wasseroberfläche durchbrach, mit müheloser Eleganz und völlig lautlos. Die gelben, in den schwarzen Streifen eingebetteten Augen musterten sie. Eine ganze Weile starrten sie einander an.

»Danke«, hauchte Jennsen.

Eines der Wesen, die sie am meisten fürchtete, war zu ihrem Retter geworden!

Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, setzte sie sich wieder in Bewegung und kroch auf Händen und Knien auf höher gelegenes Gelände; das Wasser lief ihr dabei unablässig aus Kleidung und Haaren. Sie konnte noch nicht aufstehen, traute ihren Beinen noch nicht, also krabbelte sie auf allen vieren. Es tat gut, sich wieder bewegen zu können; kurz darauf richtete sie sich unsicher wieder auf. Sie mußte unbedingt weiter. Die Zeit lief ihr wieder davon.

Mit eiligen Schritten hastete sie durch das Dickicht aus Schlingpflanzen und dornigem Gestrüpp, über verdrehte Wurzeln hinweg und zwischen Bäumen hindurch; als sie endlich die Stelle erreichte, wo der Fels über dem moosbewachsenen Waldboden anzusteigen begann, legte sich ihre innere Unruhe. Erleichtert, daß sie die markante Stelle in dem weglosen Sumpfgebiet gefunden hatte und die feuchte, morastige Senke verlassen konnte, begann sie den Felsgrat hinaufzuklettern. Es wurde mit jeder Minute düsterer, und es war ein weiter Weg bis oben. Solange es noch hell genug war, durfte sie also auf keinen Fall anhalten. Bei jedem Stolpern rief sie sich erneut ins Gedächtnis, daß der Grund an manchen Stellen zu den Seiten hin jäh abfiel, und ermahnte sich zu größerer Vorsicht. Wenn sie im Dunkeln von einer Klippe stürzte, wäre bestimmt keine hilfsbereite Schlange zur Stelle, die sie auffing.

Während des Aufstiegs ging sie in Gedanken immer wieder alles durch, was Althea ihr erklärt hatte, in der Hoffnung, daß ihr etwas davon weiterhelfen könnte. Jennsen wußte nicht, wie sie Sebastian befreien sollte, aber sie wußte, daß sie es versuchen mußte – sie war seine einzige Hoffnung.

Tom. Wieso hatte Tom ihr eigentlich geholfen? Diese winzig kleine Frage ragte plötzlich wie ein Fels aus der Landschaft ihrer Gedanken heraus, nicht unähnlich dem steilen Grat, der nach oben aus dem Sumpf herausführte. Allerdings wußte sie nicht, zu welcher Antwort sie sie führen würde.

Tom hatte ihr geholfen – aber warum?

Sich in Gedanken ganz auf diese eine Frage konzentrierend, schleppte sie sich mühsam den steilen Anstieg hinauf. Nach seinen eigenen Worten hätte er es sich nie verziehen, wenn er tatenlos mit angesehen hätte, wie sie ganz allein und ohne Vorräte in die AzrithEbene aufbrach.

Aber sie wußte, daß mehr dahinter steckte. Er wirkte absolut entschlossen, ihr zu helfen, fast, als fühlte er sich dazu verpflichtet.

Desweiteren hatte er sie gebeten, Lord Rahl von seiner Hilfe zu erzählen, und ihr gesagt, daß er ein anständiger Mensch sei. Die Erinnerung daran ließ sie einfach nicht mehr los. Die Bemerkung war zwar ganz beiläufig gefallen, trotzdem war sie ernst gemeint gewesen. Nur, was hatte er damit gemeint?

Sie ging es in Gedanken immer wieder durch, während sie den felsigen Hang hinaufkletterte. Jennsen erinnerte sich, daß Tom ihr Messer bemerkt hatte, als sie nach ihrer gestohlenen Geldbörse suchte. Sie legte eine Pause ein und richtete sich auf. War es möglich, daß Tom sie für eine Art Abgesandte oder Agentin Lord Rahls hielt?

Jennsen ging weiter und tauchte unter einer Reihe schwerer Zweige hinweg, die bis knapp über den Felsen herabhingen. Als sie auf der anderen Seite stehen blieb und sich umsah, merkte sie, daß es rasch immer dunkler wurde. Eilig kletterte sie weiter den steilen Hang hinauf und mußte dabei daran denken, wie Tom ihr rotes Haar angesehen hatte.

Just in diesem Augenblick flog ein dunkler Schatten genau auf ihr Gesicht zu. Jennsen stieß einen spitzen Schrei aus und wäre beinahe hingefallen, als der dunkle Schatten sich wieder entfernte. Fledermäuse. Sie legte eine Hand auf ihr klopfendes Herz, es flatterte genauso schnell wie deren Flügel. Die kleinen Tierchen waren aus ihren Höhlen hervorgekommen, um sich die winzigen Insekten zu schnappen, von denen es in der Luft nur so wimmelte.

Plötzlich wurde ihr klar, daß sie in ihrem Schreck leicht hätte einen Schritt zurückweichen und abstürzen können. Die Vorstellung, daß ein kurzes Nachlassen der Aufmerksamkeit, ein Schreck, ein loser Stein, ein Ausrutscher sie in einen Abgrund stürzen lassen konnte, aus dem es keine Wiederkehr gab, war beängstigend. Außerdem war sie besorgt wegen der Tiere, die sie jetzt, da sie den Sumpf beinahe hinter sich glaubte, noch immer aus der Dunkelheit anfallen konnten.

Doch dann stolperte Jennsen unvermittelt auf ebenen Boden. Irgendwo brannte ein Lagerfeuer. Sie starrte darauf, im ersten Augenblick unfähig, diese Szenerie zu begreifen.

»Jennsen!« Tom sprang auf, kam herbeigeeilt und legte ihr seinen kräftigen Arm um die Schultern, um sie zu stützen. »Bei den Gütigen Seelen, seid Ihr wohlauf?«

Sie nickte, zu erschöpft, um zu sprechen. Er bekam das Nicken gar nicht mehr mit, da er bereits zum Wagen hinüberlief. Jennsen ließ sich schwer auf den grasbewachsenen Boden fallen und verschnaufte, sie war überrascht, endlich am Ziel zu sein, und sprachlos vor Erleichterung, daß sie den Sumpf hinter sich hatte.

Tom kam mit einer Decke in der Hand zurückgelaufen. »Ihr seid ja naß bis auf die Knochen«, sagte er, während er die Decke um sie legte. »Was ist bloß passiert?«

»Ich habe ein Bad genommen.«

Er unterbrach das Abtupfen ihres Gesichts mit dem Deckenzipfel und sah sie stirnrunzelnd an. »Ich will euch ja keine Vorschriften machen, was Ihr zu tun habt, trotzdem glaube ich. das war keine gute Idee.«

»Die Schlange wäre mit Euch da sicherlich einer Meinung.«

Seine Stirn furchte sich noch tiefer als er sein Gesicht ganz nah an ihres heranschob. »Die Schlange? Was ist da unten vorgefallen?«

Immer noch nach Atem ringend, tat Jennsen seine Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Sie hatte solche Angst gehabt, dort unten von der Dunkelheit überrascht zu werden, daß sie sich völlig verausgabt hatte.

Allmählich holte die Angst sie wieder ein. Ihre Schultern fingen an zu zittern, und plötzlich merkte sie, daß sie sich an Toms muskulösen Arm klammerte, als ginge es ums nackte Überleben. Er schien es gar nicht zu bemerken, und falls doch, enthielt er sich jeden Kommentars. Obwohl es gut tat, seine Kraft zu spüren, seinen festen, Verläßlichkeit ausstrahlenden Körper und seine aufrichtige Besorgnis, ließ sie wieder von ihm ab.

»Seid Ihr bei Althea gewesen?«

Sie nickte, und als er ihr einen Wasserschlauch reichte, trank sie gierig.

»Ich schwöre, ich habe noch nie gehört, daß jemand es geschafft hätte, wieder aus dem Sumpf herauszukommen – es sei denn, er hat ihn, nachdem man ihn eingeladen hatte, von der anderen Seite her betreten. Habt Ihr irgendwelche Tiere gesehen?«

»Eine Schlange, dicker als Euer Bein, hat sich um meinen Körper geschlungen; ich hatte ziemlich ausgiebig Gelegenheit, sie mir anzusehen – ausgiebiger als mir lieb war, wenn ich ehrlich sein soll.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann hat die Hexenmeisterin Euch also geholfen? Ihr habt bekommen, was Ihr so unbedingt von ihr wolltet?« Er hielt unvermittelt inne und schien seine Neugier zu zügeln. »Verzeiht. Ihr friert und seid völlig durchnäßt. Ich sollte Euch nicht so mit Fragen überhäufen.«

»Althea und ich hatten eine lange Unterhaltung miteinander. Ich kann nicht behaupten, daß ich bekommen hätte, was ich wollte, aber immerhin ist es besser, die Wahrheit zu kennen, als irgendwelchen Wunschvorstellungen nachzujagen.«

Seine Augen, seine Art, dafür zu sorgen, daß die wärmende Decke sie ganz einhüllte, verriet, wie beunruhigt er war. »Wenn Ihr die dringend benötigte Hilfe nicht bekommen habt, was wollt Ihr dann jetzt tun?«

Jennsen zog ihr Messer und atmete tief durch, um sich zu wappnen. Dann hielt sie es ihm vors Gesicht, so daß der Schein des Lagerfeuers auf das Heft fiel. Das ziselierte Metall, aus dem der prunkvoll verzierte Buchstabe »R« gebildet war, funkelte, als wäre es mit Edelsteinen besetzt. Sie hielt es vor sich wie einen Talisman, wie eine in Silber gegossene offizielle Verlautbarung, wie einen Befehl von ganz oben, dem man sich nicht widersetzen konnte.

»Ich muß zurück in den Palast.«

Ohne Zögern nahm Tom sie mit seinen kräftigen Armen auf, als wäre sie nicht schwerer als ein junges Lamm, und trug sie hinüber zum Wagen. Er hob sie über die Seitenwand und setzte sie behutsam, inmitten eines Deckenhaufens, auf der Ladefläche ab.

»Seid unbesorgt – ich bringe Euch hin. Den schwierigen Teil habt Ihr hinter Euch, jetzt legt Euch einfach unter die warmen Decken, ruht Euch aus und laßt Euch von mir hinfahren.«

Jennsen war erleichtert, als sie ihre Vermutungen bestätigt sah. Ein bißchen schäbig kam sie sich aber auch dabei vor, denn sie log ihn an, benutzte ihn. Das war nicht richtig, doch sie wußte nicht, wie sie sich sonst hätte verhalten sollen.

Bevor er sich abwenden konnte, hielt sie ihn am Arm fest. »Tom, habt Ihr eigentlich gar keine Angst, mir zu helfen, da ich doch verwickelt bin in etwas so ...«

»Gefährliches?«, beendete er den Satz für sie. »Was ich tue, ist nichts verglichen mit dem Risiko, das Ihr dort unten eingegangen seid.« Er wies auf ihr verfilztes Haar. »Ich bin niemand Besonderer wie Ihr, aber ich freue mich, daß Ihr mir erlaubt, das wenige zu tun, was in meinen Kräften steht.«

»Ich bin nicht annähernd so besonders, wie Ihr zu glauben scheint.« Auf einmal kam sie sich eher gewöhnlich vor. »Ich tue nur, was ich glaube, tun zu müssen.«

Tom zog noch ein paar Decken hervor. »Ich komme viel unter Leute, ich brauche keine Gabe, um zu erkennen, daß Ihr etwas Besonderes seid.«

»Ihr seid Euch darüber im Klaren, daß dies eine geheime Mission ist und ich Euch nicht verraten kann, was ich vorhabe? Tut mir leid, aber ich kann es wirklich nicht.«

»Natürlich nicht. Nur außergewöhnliche Menschen tragen eine so besondere Waffe. Ich hatte nicht erwartet, daß Ihr ein Wort darüber verlieren würdet, und hätte auch niemals nachgefragt.«

»Danke, Tom.«

Er lächelte. »Wickelt Euch einfach in die Decken ein und seht zu, daß Ihr trocken werdet. Wir werden in Kürze wieder in der Azrith-Ebene sein. Für den Fall, daß Ihr es vergessen haben solltet, Dort draußen herrscht Winter. In Eurem durchnäßten Zustand würdet Ihr glatt erfrieren.«

»Nochmals danke, Tom. Ihr seid wirklich sehr freundlich.« Zu erschöpft von der ganzen Quälerei, um länger aufrecht sitzen zu bleiben, ließ Jennsen sich nach hinten in die Decken fallen.

»Ich verlasse mich darauf, daß Ihr Lord Rahl von mir berichtet«, meinte er mit seinem unbekümmerten Lachen. Tom löschte rasch das Feuer, dann kletterte er auf den Wagenbock. Ganz ohne Hintergedanken half er ihr bei einer Sache, von der er zumindest annehmen mußte, daß sie ein gewisses Risiko barg. Die Vorstellung, was ihm zustoßen könnte, wenn er dabei geschnappt wurde, wie er Darken Rahls Tochter half, machte ihr Angst. Er glaubte, Lord Rahl zu helfen, dabei tat er das genaue Gegenteil, ohne auch nur zu ahnen, was er damit riskierte. Sie würde ihn in noch weit größere Gefahr bringen, bevor die Sache ausgestanden war.

Sie hatten erst eine kurze Strecke zurückgelegt, da war Jennsen bereits fest eingeschlafen.

Загрузка...