46

Hoch zu Roß auf Rustys Rücken, den böig kalten Wind im Haar, bestaunte Jennsen die Pracht des Palasts der Konfessoren. Unmittelbar neben ihr saß, auf einem nervös tänzelnden Pete, Sebastian. Kaiser Jagang, dessen herrlicher Apfelschimmel mit einem Huf auf der Straße scharrte, wartete auf Sebastians anderer Seite, umdrängt von einem Kader aus Offizieren und Beratern, die jedoch schwiegen. Jagang betrachtete den Palast mit mißmutig finsterer Miene; düstere, bedrohlich wirkende Schatten trieben, einem aufziehenden Unwetter gleich, an der Oberfläche seiner schwarzgrauen Augen.

Bislang war der Vormarsch auf Aydindril völlig anders verlaufen als erwartet, und alle waren in großer Anspannung.

Hinter ihnen hatte ein Kontingent aus Schwestern des Lichts Aufstellung genommen; sie blieben jedoch unter sich und konzentrierten sich offenbar auf Angelegenheiten der Magie. Obwohl bislang keine der Schwestern Gelegenheit hatte, mit Jennsen zu sprechen, waren sich alle ihrer Anwesenheit deutlich bewußt und ließen sie so gut wie nie aus den Augen. Der größte Teil von ihnen war jedoch in verschiedene Richtungen ausgeschwärmt, während der Kaiser die Abteilung der Kavallerie der Imperialen Ordnung, einer dunklen Flutwelle gleich, über Bauernhöfe, Straßen und Hügel hinweg, um Häuser und Scheunen herum, immer weiter irgendwelche Straßen entlang und schließlich – beim Vordringen in die äußersten Randbezirke der Stadt Aydindril – zwischen die ersten Gebäude geführt hatte. Die riesige Stadt lag jetzt lautlos und still in ihrer ganzen Ausdehnung vor ihnen.

Sebastian hatte in der vergangenen Nacht unruhig geschlafen. Das wußte Jennsen, weil sie am Vorabend dieser so entscheidenden Schlacht praktisch überhaupt kein Auge zugetan hatte. Die Aussicht, endlich das Messer in ihrem Gürtel benutzen zu können, ließ sie dennoch hellwach sein.

Hinter den Schwestern warteten über vierzigtausend Elitesoldaten der Kavallerie der Imperialen Ordnung, manche mit angriffsbereit gesenkten Langspießen und Lanzen, andere mit Schwertern oder Streitäxten in den Händen. Jeder von ihnen hatte einen Ring im linken Nasenflügel. Obwohl die meisten von ihnen Bärte trugen und einige Glücksbringer in ihre langen, dunklen fettigen Haare geflochten hatten, gab es, offenbar aus Loyalität zu Kaiser Jagang, auch eine ganze Reihe kahl rasierter Schädel. Alle waren bis zum Zerreißen gespannt, Eroberer, die nur darauf warteten, die Stadt im Sturm zu nehmen.

Außer Jennsen und Sebastian hatten alle Anwesenden, abgesehen davon, daß sie Elitetruppen der Kavallerie, verläßliche Offiziere oder Schwestern des Lichts waren, etwas Entscheidendes gemeinsam, Sie alle kannten die Mutter Konfessor vom Sehen. Soweit Jennsen darüber unterrichtet war, hatte die Mutter Konfessor sowohl kleinere, überfallartige Angriffe gegen das Lager der Imperialen Ordnung angeführt als auch an Schlachten teilgenommen, in denen eine große Zahl Soldaten und Schwestern sie gesehen hatte. Nur wer die Mutter Konfessor vom Sehen kannte, war dazu auserkoren, mit Kaiser Jagang in die Stadt zu reiten. Jagang wollte unbedingt vermeiden, daß sie der tödlichen Umzingelung entging, indem sie in der Menge untertauchte oder womöglich als gemeine Wäscherin verkleidet floh. In Anbetracht der bisher vorgefundenen Situation hatte sich diese Befürchtung in Nichts aufgelöst.

Fröstelnd nicht nur wegen des kalten Windes sondern auch wegen der leidenschaftlichen Kampflust, die in den Augen der Soldaten aufblitzte, versuchte Jennsen das Zittern ihrer Hände zu unterbinden, indem sie den Sattelknauf fest umklammerte.

Jennsen.

Bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Morgen prüfte sie nach, ob ihr Messer griffbereit in seiner Scheide steckte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, drückte sie es, das metallische Klicken beim Einrasten zufrieden registrierend, wieder fest hinein. Sie hatte die Armee hierher begleitet, weil sie sich als Teil des Ganzen sah – und weil sie eine Aufgabe zu erledigen hatte.

Gib dich hin.

Endlich war sie die Jägerin und nicht mehr die Gejagte.

Gib deinen Willen hin, Jennsen. Gib deinen Körper hin.

»Laß mich in Frieden«, rief sie gereizt, weil die Stimme einfach keine Ruhe geben wollte.

Sebastian warf ihr einen mißbilligenden Blick zu. »Wie?«

Verärgert, daß sie es diesmal aus lauter Nachlässigkeit laut gesagt hatte, schüttelte Jennsen nur den Kopf. Sebastian kehrte wieder zu seinen eigenen Gedanken zurück, betrachtete die vor ihnen liegende Stadt und ließ den Blick forschend über das eindrucksvolle Labyrinth aus dicht gedrängten Gebäuden, Straßen und engen Gassen schweifen. Es gab nur eines, was dieser Stadt fehlte, und dieses eine versetzte alle Anwesenden in eine überaus gereizte und angespannte Stimmung.

Aus den Augenwinkeln sah Jennsen die Schwestern des Lichts untereinander tuscheln – alle bis auf eine, Schwester Perdita mit dem dunkelgrauen Kleid und dem bereits leicht angegrauten und lose nach hinten gebundenen Haar. Als ihre Blicke sich begegneten, setzte die Frau ihr typisches durchtriebenes, selbstzufriedenes Schmunzeln auf, so als könnte sie Jennsen bis auf den Grund der Seele blicken. Da es auf sie möglicherweise ganz anders wirkte als von der Frau beabsichtigt, quittierte Jennsen es, so gut es irgend ging, lächelnd und mit einem leichten Neigen des Kopfes, bevor sie sich wieder abwandte.

Wie alle anderen auch, betrachtete Jennsen den Palast auf dem Hügel in der Ferne. Es wäre auch nicht leicht gewesen, ihn zu übersehen, wie er sich, gleich Schnee auf schieferdunklem Grund, gegen die grauen Flanken der Berge abhob. Die hohen Fenster auf der Fassadenseite lagen zwischen hoch aufragenden, mit goldenen Kapitellen überkronten Säulen. Im Hintergrund, exakt über der Mitte, erhob sich weit über die hohen Mauern hinaus ein Kuppeldach. Jennsen hatte ihre liebe Mühe, die Pracht eines so wunderschönen Gebäudes mit der ruchlosen Herrschaft der Mutter Konfessor in Einklang zu bringen.

Das drohende, gespenstische Äußere der Burg der Zauberer hoch droben auf einem Berg jenseits des Palasts schien sehr viel eher der Mutter Konfessor zu entsprechen. Jennsen bemerkte, daß niemand gern zu diesem unheilvollen Ort hinaufsah; jeder beeilte sich, den Blick rasch wieder auf ein weniger verstörendes Ziel zu richten.

Die Burg, die auf sie herabzublicken schien, war – außer dem Palast des Volkes in D’Hara – das größte von Menschenhand geschaffene Bauwerk, das Jennsen je gesehen hatte. Graue Wolkenfetzen umwehten seine bis in schwindelerregende Höhen reichenden Außenmauern aus dunklem Stein. Die eigentliche, hinter diesen himmelstrebenden Mauern liegende Burg schien aus einer verwirrenden Anhäufung von Festungswällen, Brustwehren, mit Zinnen versehenen Mauern, Türmen, Giebeln, Verbindungsbrücken und Wehrwegen zu bestehen. Jennsen hätte nie für möglich gehalten, daß ein aus Stein erbautes Gebäude eine derart lebendige Bedrohlichkeit verströmen konnte.

Mit dem Geräusch des Windes, der stöhnend durch die kahlen Zweige der majestätischen Bäume fuhr, die die Straße säumten, drang plötzlich auch das Geräusch galoppierender Hufe an ihr Ohr. Aller Augen wandten sich den bärtigen, langhaarigen Männern zu, die, wehende Fetzen aus Fell und Häuten hinter sich im Wind, tief über die Widerriste ihrer Pferde gebeugt, auf der Straße rechts von ihnen herangejagt kamen. Jennsen erkannte sie an der fleckigweißen, gescheckten Färbung des führenden Tieres. Sie gehörten zu einem kleinen Aufklärungstrupp, den der Kaiser Stunden zuvor vorausgeschickt hatte. Weit drüben im Westen kehrte der entsprechende Trupp aus der anderen Richtung zurück; bislang waren sie nicht mehr als winzige Punkte, die sich von den fernen Vorbergen herunterbewegten.

Als die erste Reitergruppe zu Kaiser Jagang und seinen Beratern herangestürmt kam, bedeckte Jennsen ihren Mund mit einem Zipfel ihres Umhangs, damit man ihr durch die Staubwolke hervorgerufenes Gehuste nicht sah.

Der stämmige Mann an der Spitze des Reitertrupps riß sein scheckiges Pferd herum; seine fettigen Haarsträhnen peitschten herum wie der weiße Schweif des Pferdes. »Nichts, Euer Exzellenz.«

Jagang, sichtlich schlecht gelaunt und mit seiner Geduld nahezu am Ende, verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Nichts, aha.«

»So ist es, Euer Exzellenz, absolut nichts. Keine Spur von Truppen östlich von hier oder auf der anderen Seite der Stadt und auch nicht bis hinauf in die Berghänge. Nichts. Die Straßen, die Pfade – alles völlig verlassen. Keine Menschen, keine Spuren, kein Pferdemist, keine Wagenspuren ... nichts. Nichts deutet darauf hin, daß hier seit längerer Zeit überhaupt jemand gewesen ist.«

Der Mann fuhr fort mit einem umständlichen Bericht über die Orte, an denen sie sich, wenn auch erfolglos, umgesehen hatten, als die andere Reiterschar von Westen her angedonnert kam; ihre Pferde waren schweißbedeckt und befanden sich in einem Zustand höchster Erregung.

»Keine Menschenseele!«, rief der Mann an der Spitze, während er die Zügel verriß und damit den Kopf des Pferdes nach oben zog. Das Pferd, die Augen wirr und vorn harten Ritt noch unter Anspannung, drehte sich um seine eigene Achse und kam dann endlich vor dem Kaiser zum Stehen. »Nach Westen hin gibt es weder Truppen noch sonst eine Menschenseele, Exzellenz. Auch auf der Straße hinauf zur Burg waren keine Spuren zu erkennen.«

»Seid Ihr bis ganz hinauf zur Burg geritten, um nachzusehen?«, fragte er und bedachte den Mann mit einem finsteren Blick.

Der strenge Blick ließ den Mann schlucken. »Kurz bevor die Straße oben endet, gibt es eine steinerne Brücke, die eine gewaltige Felsschlucht überspannt. Bis dort sind wir hinaufgeritten, Exzellenz, trotzdem haben wir niemanden gesehen, auch keine Fußspuren. Das Fallgatter war heruntergelassen, und in der Burg dahinter waren keine Lebenszeichen auszumachen.«

»Das hat nicht das Geringste zu bedeuten«, meinte unweit hinter ihm eine Frauenstimme voller Spott. Es war Schwester Perdita. Wenigstens schaffte sie es, sich das überlegene Grinsen weitgehend zu verkneifen, als alle sie anstarrten.

»Das hat überhaupt nichts zu bedeuten«, wiederholte sie. »Ich sage es Euch, Exzellenz, das Ganze gefällt mir überhaupt nicht. Hier stimmt etwas nicht.«

»Und was zum Beispiel?«, fragte Jagang mit leiser, verdrießlicher Stimme.

Schwester Perdita verließ die Reihen der Kompanie aus mehreren Dutzend Schwestern des Lichts und ließ ihr Pferd ein Stück vorgehen, um ungestörter mit dem Kaiser sprechen zu können.

»Exzellenz«, meinte sie, nicht bevor sie unmittelbar bei ihm war, »kennt Ihr das Gefühl, einen Wald zu betreten und plötzlich zu bemerken, daß dort nicht der geringste Laut zu hören ist, obwohl dies eigentlich der Fall sein müßte? So, als wäre plötzlich alles verstummt?«

Jennsen hatte es bereits erlebt. Sie war erstaunt, wie präzise die Schwester das seltsam beklemmende Gefühl getroffen hatte, das sie genau in diesem Augenblick beschlich – eine Art unheilvoller Vorahnung, wenn auch ohne klar erkennbare Ursache, als ob sich ihr im Halbschlaf die feinen Nackenhaare sträubten, weil auf einen Schlag sämtliche Insekten verstummt waren.

Jagang durchbohrte Schwester Perdita mit seinem Blick. »Immer wenn ich einen Wald oder einen anderen Ort betrete, herrscht dort augenblicklich Ruhe.«

Die Schwester vermied es. ihm zu widersprechen, und versuchte es statt dessen noch einmal von vorn. »Exzellenz, wir liefern uns mit diesem Volk schon lange einen harten Kampf. Die mit der Gabe Gesegneten in unseren Reihen sind mit ihren magischen Tricks vertraut. Wir wissen, wann sie von ihrer Gabe Gebrauch machen, und wir haben gelernt zu erkennen, ob sie ihre Magie zum Errichten von Fallen benutzt haben, auch wenn die Fallen selbst nicht magisch sind. Aber dies ist anders. Hier stimmt etwas nicht.«

»Ihr habt mir noch immer nicht verraten, was«, meinte Jagang im Tonfall mühsam unterdrückter, ungeduldiger Gereiztheit, als wäre er es leid zu warten, bis sein Gegenüber endlich zur Sache kam.

Als Schwester Perdita seine Ungehaltenheit bemerkte, neigte sie leicht den Kopf. »Wenn ich es wüßte, Exzellenz, würde ich es Euch verraten. Es ist ja meine Pflicht, Euch nach bestem Wissen zu beraten. Bislang können wir keinerlei Verwendung von Magie entdecken – nicht die Geringste. Wir spüren auch keine Fallen, die jemals mit der Gabe in Berührung gekommen wären.

Aber leider vermag mich diese Erkenntnis nicht zu beruhigen. Ich möchte Euch jetzt und hiermit warnen, auch wenn ich zugeben muß, daß ich den Grund für meine Besorgnis selbst nicht kenne. Ihr braucht nur in meinen Verstand einzudringen und Euch selbst zu überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche.«

Jennsen hatte keine Ahnung, was die Schwester damit meinte, doch nachdem er sie eine Weile unverwandt angesehen hatte, wurde Jagang sichtlich gefaßter. Er entließ sie mit einem Brummen und richtete den Blick wieder auf den Palast. »Ich denke, nach dem langen Müßiggang dieses Winters seid Ihr schlicht ein wenig überreizt, Schwester. Wie Ihr ganz richtig sagtet, seid Ihr mit ihrer Taktik und den magischen Tricks vertraut; wenn es sich also um eine reale Bedrohung handelte, wüßtet Ihr und Eure Schwestern davon und auch den Grund dafür.«

»Ich bin nicht sicher, ob das zutrifft«, hakte Schwester Perdita nach. Sie warf einen kurzen, sorgenvollen Blick hinüber zur Burg der Zauberer hoch oben auf dem Berg. »Unsere Kenntnis der Magie ist umfassend, aber die Burg der Zauberer ist Tausende von Jahren alt. Da dieser Ort somit der Alten Welt angehört, liegt er außerhalb meines Erfahrungsbereiches. Über die speziellen Arten der Magie, die an diesem Ort vermutlich aufbewahrt werden, weiß ich nahezu nichts, außer daß sie, worum immer es sich handeln mag, überaus gefährlich sein dürften. Die sichere Verwahrung gewisser Dinge entspricht schließlich exakt dem Zweck eines Bergfrieds.«

»Aus eben diesem Grund verlange ich die Eroberung der Burg«, feuerte Jagang zurück. »Wenn sie uns nicht später zum Verhängnis werden sollen, dürfen diese gefährlichen Dinge nicht länger in den Händen unserer Feinde bleiben.«

Schwester Perdita strich sich nachsichtig mit den Fingerspitzen über ihre faltige Stirn. »Die Burg ist streng gesichert. Wie, kann ich nicht sagen; diese Sicherungsvorkehrungen wurden von Zauberern eingerichtet, nicht von Hexenmeisterinnen. Durchaus möglich, daß diese Vorkehrungen ohne Bewachung zurückgelassen wurden – Wachen sind dort überflüssig. Schutzvorkehrungen wie diese können durch einfaches Betreten ausgelöst werden – ganz ähnlich wie bei nicht magischen Fallen. Diese Schutzmechanismen können reine Vorsichtsmaßnahmen, aber ebenso gut auch absolut tödlich sein. Selbst wenn das Gemäuer dort oben völlig menschenleer sein sollte, könnten diese Schutzmechanismen jeden – wirklich jeden – töten, der ihnen auch nur nahe kommt, geschweige denn versucht, die Burg einzunehmen. Diese Verteidigungsmaßnahmen sind für die Ewigkeit angelegt – sie nutzen sich niemals ab. Ihre Effektivität bleibt stets erhalten, ob sie sich nun seit einem Monat oder seit einem Millennium an ihrem Platz befinden. Der Versuch, eine so gesicherte Burg einzunehmen, könnte uns genau zu dem Verhängnis werden, das wir zu vermeiden suchen.«

Jagang hatte genau zugehört. »Das ändert nichts daran, daß wir die Schutzvorkehrungen ausschalten müssen, wenn wir die Burg einnehmen wollen.«

Schwester Perdita warf einen Blick über ihre Schulter auf die dunkle, steinerne Burg hoch oben am Hang des Berges, bevor sie antwortete. »Wie ich schon mehrfach zu erklären versuchte, Exzellenz, bedeutet das Ausmaß unserer Talente und kollektiven Macht keineswegs, daß wir imstande wären, diese Schutzmechanismen auszuschalten oder zu überwinden. Diese Dinge haben nicht unbedingt etwas miteinander zu tun. Trotz seiner gewaltigen Körperkraft ist ein Bär nicht in der Lage, das Schloß einer Geldkassette aufzubrechen. Kraft allein ist nicht notwendigerweise der Schlüssel zu diesen Dingen. Ich muß noch einmal wiederholen, Mir gefällt das alles ganz und gar nicht.«

»Damit sagt Ihr mir nichts weiter, als daß Ihr Angst habt. Von allen mit der Gabe Gesegneten sind die Schwestern außergewöhnlich gut gerüstet, deswegen seid Ihr schließlich hier.« Jagang, offenkundig mit seiner Geduld am Ende, beugte sich zu ihr hinüber. »Ich erwarte von den Schwestern, daß sie jedwede Bedrohung durch Magie abwenden, muß ich deutlicher werden?«

Schwester Perdita erbleichte. »Nein, Exzellenz.« Nach einer Verbeugung vom Sattel aus riß sie ihr Pferd herum, um sich wieder unter ihre Schwestern einzureihen.

»Schwester Perdita«, rief Jagang ihr hinterher. Er wartete, bis sie sich umgedreht hatte. »Ich sagte es bereits, die Eroberung der Burg der Zauberer ist für uns ein absolutes Muß. Wie viele von Euch dabei ihr Leben lassen, schert mich wenig, für mich zählt einzig der Erfolg.«

Während sie zu ihren Schwestern zurückkehrte, um über die Angelegenheit zu beraten, sahen Jagang und alle anderen einen einzelnen Reiter, der ihnen aus der Stadt entgegengaloppiert kam. Irgend etwas am Ausdruck im Gesicht des Mannes ließ alle vorsichtshalber zu den Waffen greifen. Angespannt schweigend wartete man, bis sein Pferd vor dem Kaiser jäh zum Stehen kam. Der Mann war schweißgebadet, seine engstehenden Augen waren vor Erregung aufgerissen, dennoch gelang es ihm, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen.

»Ich habe keine Menschenseele gesehen. Exzellenz, niemanden – in der ganzen Stadt nicht. Aber ich habe Pferde gerochen.«

Jennsen sah den Offizieren ihre Besorgnis angesichts dieser neuerlichen Bestätigung ihrer Zweifel an der geradezu absurden Vorstellung, die Stadt sei vollkommen menschenleer, deutlich ins Gesicht geschrieben. Mit Einbruch des Winters hatte die Imperiale Ordnung die feindlichen Streitkräfte in diese Stadt hineingetrieben und damit nicht nur die Armee, sondern auch die gesamte Einwohnerschaft in einer Falle eingeschlossen. Es überstieg ihr Vorstellungsvermögen, wie man eine Stadt von dieser Größe – noch dazu im tiefsten Winter – evakuieren konnte. Trotzdem schien keiner bereit, diese Überzeugung gegenüber dem Kaiser allzu deutlich zu vertreten, dessen Blick starr auf die menschenleere Stadt gerichtet war.

»Pferde?«, fragte Jagang stirnrunzelnd. »Ein Stall vielleicht?«

»Nein, Exzellenz. Ich konnte die Tiere weder sehen noch hören, ich konnte sie nur riechen. Das war kein typischer Stallgeruch, sondern der Geruch von Pferden. Irgendwo dort unten gibt es Pferde.«

»Dann muß der Feind noch hier sein, genau wie wir angenommen hatten«, meinte einer der Offiziere zu Jagang. »Er hält sich versteckt, ist aber noch in der Stadt.«

Jagang wartete schweigend, daß der Mann fortfuhr.

»Und noch etwas, Exzellenz«, sprudelte der Kundschafter aufgeregt hervor. »Ich konnte die Pferde trotz ausgiebiger Suche nirgends finden, also beschloß ich, umzukehren und Verstärkung zu holen, um die feigen Feinde aufzustöbern. Bei meiner Rückkehr dann habe ich in einem Fenster des Palasts jemanden gesehen.«

Jagangs Blick schnellte unvermittelt zu ihm herum. »Wie war das?«

Der Soldat zeigte auf die Stadt. »In dem weißen Palast, Exzellenz. Ich kam gerade kurz vor dem Palastgelände am Stadtrand hinter einer Mauer hervor, als ich sah, wie oben im zweiten Stock jemand von einem Fenster zurücktrat.«

Jagang riß verärgert an den Zügeln, um ein seitliches Ausbrechen seines ungeduldigen Hengstes zu verhindern. »Seid Ihr sicher?«

Der Mann nickte heftig. »Aber ja, Exzellenz. Die Fenster dort sind hoch. Bei meinem Leben, ich kam gerade hinter der Mauer hervor und hob den Kopf, als jemand mich sah und von einem der Fenster zurücktrat.«

Den Blick unverwandt auf die von Ahornbäumen gesäumte Straße gerichtet, die zum Palast hinaufführte, überdachte der Kaiser die Folgen dieser neuen Entwicklung.

»Mann oder Frau?«, fragte Sebastian.

Der Reiter zögerte kurz, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, und versuchte wieder zu Atem zu kommen. »Ich habe die Person nur flüchtig gesehen, aber ich glaube, es war eine Frau.«

Jagang sah den Mann durchdringend aus seinen finsteren Augen an. »War sie es?«

»Mit Gewißheit könnte ich das nicht behaupten, Exzellenz. Vielleicht war es auch nur eine Lichtspiegelung auf dem Fenster, aber ich meine, mit dem kurzen Blick erkannt zu haben, daß sie ein langes weißes Kleid anhatte.«

Die Beschreibung paßte genau auf die Mutter Konfessor. Jennsen hielt es für ziemlich weit hergeholt, daß es sich bei der Spiegelung auf der Glasscheibe, genau in dem Augenblick, da jemand vom Fenster zurücktritt, einer Spiegelung, die den Eindruck erzeugte, besagte Person trage das weiße Kleid der Mutter Konfessor, um einen Zufall gehandelt haben könnte.

Und doch ergab es für Jennsen keinen Sinn. Warum sollte die Mutter Konfessor allein im Palast zurückbleiben? Bis zum bitteren Ende Widerstand zu leisten war eine Sache; etwas ganz anderes war es, dies ganz allein zu tun. War es möglich, wie der Mann angedeutet hatte, daß der Feind sich feige versteckte?

Sebastian trommelte müßig mit einem Finger auf seinen Oberschenkel. »Ich wüßte zu gern, was sie im Schilde führen.«

Jagang zog sein Schwert blank. »Ich denke, exakt das sollten wir herausfinden.« Er sah zu Jennsen hinüber. »Haltet Euer Messer bereit, Mädchen. Dies könnte der Tag sein, für den Ihr gebetet habt.«

»Aber Exzellenz, wie kann es sein, daß ...«

Der Kaiser richtete sich in den Steigbügeln auf und wandte sich mit einem boshaften Grinsen herum zu seiner Kavallerie, dann ließ er sein Schwert hoch über dem Kopf kreisen.

Schlagartig löste sich die Anspannung.

Unter ohrenbetäubendem Gebrüll stießen vierzigtausend Mann einen lange aufgestauten Schlachtruf aus und stürmten los. Als Rusty vor der auf den Palast zustürmenden Kavallerie im Galopp lossprengte, klammerte sich Jennsen erschrocken an den Hals des Tieres.

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