48

Jennsen hastete unmittelbar hinter Jagang im Schatten der hohen Marmorsäulen die weite Marmortreppe hinauf. Den grimmigen Männern, die rings um sie her die Stufen hinaufsprangen, stand ihre wilde Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben.

Die Männer des in mehrere Lagen aus Lederrüstung, Kettenpanzer und derbe Tierhäute gehüllten Sturmtrupps hatten Kurzschwerter, gewaltige sichelförmige Streitäxte oder gefährliche Peitschen in der einen Hand, an ihrem anderen Arm dagegen trugen sie runde Metallschilde, versehen mit einem langen Mitteldorn, der sie ebenfalls zu Waffen machte. Darüber hinaus waren die Männer mit Gürteln und Riemen umwickelt, die mit spitzen Bolzen besetzt waren und den waffenlosen Kampf Mann gegen Mann günstigstenfalls zu einem gewagten Unterfangen machten. Jennsen konnte sich nicht vorstellen, wer den Mut besäße, sich diesen fürchterlichen Kriegern entgegenzustellen.

Bei ihrem Sturmangriff über die Treppe verfielen die Soldaten in ein animalisches Gebrüll; sie durchbrachen die mit Schnitzereien verzierten Doppeltüren wie Reisig, ohne auch nur ein einziges Mal vorher zu prüfen, ob sie nicht vielleicht unverschlossen waren. Jennsen schützte ihr Gesicht mit dem Arm, als sie mitten durch den Hagel aus zersplitterten Holztrümmern sprang.

Das donnernde Getrappel der Soldatenstiefel hallte drinnen durch die große Eingangshalle. Hohe, zwischen Pfeiler aus poliertem weißem Marmor eingelassene Fenster aus blaßblauem Glas warfen Lichtbalken über den Marmorboden, wo der Sturmtrupp vorüberhastete, auf dem Weg in die oberen Stockwerke, wo sie die Mutter Konfessor und Lord Rahl gesehen hatten, die erste Treppenflucht hinauf.

Der Umstand, daß sie im Begriff war, einen Menschen zu töten, war für Jennsen von untergeordneter Bedeutung. Als sie die Treppen hinaufhastete, beschäftigte sie nur ein einziger Gedanke, der Schrecken, den Lord Rahl in ihr Leben und das Leben anderer gebracht hatte. Durchdrungen von gerechtem Zorn, war sie entschlossen, dem ein für alle Mal ein Ende zu machen.

Sebastian, der neben ihr herrannte, hatte sein Schwert gezückt. Unmittelbar vor ihr lief angeführt von Kaiser Jagang selbst, ein Dutzend der hünenhaften Rohlinge. Hinter ihnen befanden sich Hunderte weiterer Soldaten dieses unbarmherzigen Sturmtrupps, alle fest entschlossen, dem Feind mit gnadenloser Härte zu begegnen. Zwischen ihr und den weiter hinten stürmenden Soldaten eilten, bis auf ihre Gabe unbewaffnet, Schwestern des Lichts die Stufen hinauf.

Sich in einer dichten Traube auf dem blank polierten Eichenboden zusammendrängend, machte der gesamte Trupp am oberen Ende der Treppenflucht halt. Kaiser Jagang warf nach beiden Seiten einen Blick in den Flur.

Eine der Schwestern zwängte sich völlig außer Atem durch die Männer nach vorn. »Exzellenz! Das ist doch völlig sinnlos!«

Seine einzige Antwort darauf war ein wütendes Funkeln, während er verschnaufte, bevor er den Blick auf der Suche nach seiner Beute abermals umherschweifen ließ.

»Exzellenz«, beharrte die Schwester, wenn auch bereits etwas ruhiger »warum sollten zwei Menschen, die für ihre Ziele von so entscheidender Bedeutung sind, allein in diesem Palast zurückbleiben? Ohne auch nur einen Posten, der vor ihrer Tür Wache hält? Das ergibt doch keinen Sinn.«

So sehr Jennsen sich wünschte, Lord Rahl vor ihr Messer zu bekommen, sie mußte ihr Recht geben. Das ergab wirklich keinen Sinn.

»Wer sagt denn, daß sie allein sind?«, erwiderte Jagang. »Spürt Ihr den Einsatz irgendwelcher magischen Kräfte?«

Natürlich hatte der Kaiser Recht. Durchaus denkbar, daß sie hinter irgendeiner Tür eine eintausend Schwerter starke Überraschung erwartete. Doch die Wahrscheinlichkeit schien sehr gering; logischer war, daß eine eventuell vorhandene Schutztruppe ihr Vordringen bis in den Palast gar nicht erst zugelassen hätte.

»Nein«, antwortete die Schwester. »Ich spüre keinerlei magische Kräfte; aber das heißt nicht, daß ihr Einsatz nicht jeden Augenblick angeordnet werden könnte. Ihr bringt Euch unnötig in Gefahr, Exzellenz. Es ist ... gefährlich, Jagd auf solche Leute zu machen, wenn so vieles an der ganzen Situation keinen Sinn ergibt.«

Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, es als töricht zu bezeichnen. Jagang, der der Schwester offenbar kaum zugehört hatte, während sie auf ihn einredete, gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin sie in Gruppen zu jeweils einem Dutzend in alle Richtungen in die Flure davonstürmten. Ein Fingerschnippen, begleitet von einem kurzen Wink, teilte jeder Gruppe eine Schwester zu.

»Ihr denkt wie ein Armeeoffizier, der noch grün hinter den Ohren ist«, meinte Jagang. »Die Mutter Konfessor ist weit durchtriebener und zehnmal so gerissen, wie Ihr glaubt. Sie ist nicht so dumm, in diesen einfachen Begriffen zu denken. Ihr habt doch selbst schon einiges mitbekommen, was sie sich geleistet hat. Diesmal kommt sie mir nicht ungestraft davon.«

»Aber warum sollten sie und Lord Rahl dann ganz allein hier zurückbleiben?«, fragte Jennsen, als sie sah, daß die Schwester sich nicht mehr traute, den Mund aufzumachen. »Welche Gründe könnten sie haben, sich so verwundbar zu machen?«

»Wo könnte man sich besser verstecken als in einer verlassenen Stadt?«, erwiderte Jagang. »Oder in einem menschenleeren Palast? Jeder Posten wäre doch sofort bereit, sie an uns zu verraten.«

»Aber warum sollten sie sich ausgerechnet hier verstecken?«

»Weil sie wissen, daß ihre Sache gefährdet ist. Sie sind Feiglinge, die sich der Gefangennahme entziehen wollen.« Einen Daumen in den Gürtel gehakt, unterzog Jagang die Anordnung der Flure ringsumher einer genauen Prüfung. »Dies ist also ihr Zuhause. Letzten Endes denken sie doch nur daran, ihre eigene Haut zu retten, ihre Mitmenschen sind ihnen völlig gleichgültig.«

Jennsen konnte sich nicht enthalten, weiter nachzuhaken, obwohl Sebastian sie zurückzog und zu bedrängen versuchte, still zu sein. Sie deutete mit einer flüchtigen Geste auf die riesigen Fensterflächen. »Warum lassen sie dann zu, daß man sie sieht? Wenn sie tatsächlich vorhätten, sich zu verstecken, warum sollten sie sich dann zu erkennen geben?«

»Weil sie von Natur aus bösartig sind!« Er sah sie aus seinen Furcht erregenden Augen an. »Sie wollten sehen, wie ich Bruder Narevs Überreste finde. Sie wollten sehen, wie ich ihre frevlerische und abscheuliche Metzelei an einem großen Mann entdecke. Einem so abartigen Vergnügen konnten sie einfach nicht widerstehen.«

»Aber...«

»Gehen wir!«, rief er seinen Männern zu.

Während der Kaiser sich mit entschlossenen Schritten entfernte, hielt Jennsen Sebastian in einem Anflug von Verzweiflung am Arm fest. »Glaubst du wirklich, sie könnten es sein? Du bist doch Stratege – findest du wirklich, daß irgendwas an dieser Geschichte logisch klingt?«

Er merkte sich, welche Richtung der Kaiser, gefolgt von einem riesigen Trupp ihm nacheilender Soldaten, einschlug, dann sah er sie wütend an.

»Du hast es auf Richard Rahl abgesehen, Jennsen. Dies könnte deine Chance sein.«

»Aber mir leuchtet einfach nicht ein, wieso ...«

»Widersprich mir nicht! Für wen hältst du dich eigentlich, daß du ständig alles besser weißt!«

»Sebastian, ich ...«

»Ich kann nicht auf alles eine Antwort wissen! Deswegen sind wir ja schließlich hier!«

Jennsen schluckte, weil sich ihr die Kehle zusammenzuschnüren drohte. »Ich bin doch nur besorgt um dich, Sebastian, und um Kaiser Jagang. Ich möchte nicht, daß Eure Köpfe auch auf einer Lanze enden.«

»Im Krieg gilt das Gebot des Handelns, und zwar nicht erst nach reiflicher Überlegung, sondern sobald man seine Chance erkannt hat. So ist das eben im Krieg – es kommt sehr häufig vor daß Menschen unsinnige oder scheinbar verrückte Dinge tun. Vielleicht ist den beiden schlicht ein dummer Fehler unterlaufen, und die Fehler seines Feindes muß man nutzen. Oftmals geht der als Sieger aus einem Krieg hervor, der auf Teufel komm raus attackiert und jeden Vorteil sofort zu nutzen weiß. Man hat nicht immer Zeit sich alles vorher ganz genau zurechtzulegen.«

»Sebastian, ich wollte doch nur...«

Er packte sie am Kleid und zog sie zu sich heran. Sein gerötetes Gesicht war wutverzerrt. »Hast du wirklich die Absicht, deine vielleicht einzige Chance, den Tod deiner Mutter zu rächen, ungenutzt verstreichen zu lassen? Wie würdest du dich fühlen, wenn Richard Rahl tatsächlich so verrückt gewesen wäre, hier zu bleiben? Oder sich einen Plan ausgeheckt hat von dem wir uns nicht mal einen Begriff machen können? Und du stehst hier herum und redest nur!«

Jennsen war wie gelähmt.

»Da sind sie«, ertönte ein Ruf ganz hinten aus dem Flur. Es war die Stimme Jagangs. Sie erblickte ihn, mit seinem Schwert auf etwas zeigend, inmitten einer fernen Traube seiner Soldaten, die sich gerade unter Geschiebe und Gestoße anschickte, um eine Ecke zu biegen. »Faßt sie! Ergreift sie endlich!«

Sebastian packte sie beim Arm, wirbelte sie herum und stieß sie vor sich her in den Flur. Jennsen fand ihr Gleichgewicht wieder und rannte wie entfesselt los. Sie schämte sich, daß sie Leuten widersprochen hatte, die sich mit Kriegsangelegenheiten auskannten. Für wen hielt sie sich überhaupt? Sie war ein Niemand. Große, bedeutende Männer hatten ihr eine Chance gegeben, und sie blieb an der Schwelle zu wahrer Größe stehen und wollte nichts als reden. Sie kam sich vor wie eine Närrin.

Zehntausende Kavalleriesoldaten hatten in einer gewaltigen, bis zum Fuß des Hügels reichenden Schlachtformation quer über das gesamte Palastgelände Aufstellung genommen. Schwerter, Streitäxte und Lanzen schwenkend, stürmten sie unter Grauen erregenden Schlachtrufen in geschlossener Formation voran, doch dann ging plötzlich ein gewaltiger Ruck durch ihre Reihen. Man hörte ein tönendes Scheppern, als sie gegen eine Wand aus unsichtbaren Feinden prallten.

Jennsen, die ans Fenster getreten war. traute ihren Augen nicht; der erschreckende Anblick draußen wollte einfach keinen Sinn ergeben. Sie hätte niemals geglaubt, was sich nun vor ihren Augen abspielte, wäre da nicht der Schock des völlig unvermittelt einsetzenden Gemetzels gewesen. Körper von Roß und Reiter wurden aufgerissen, Pferde bäumten sich auf, stürzten zu Boden. Soldatenköpfe und -arme wurden durch die Luft gewirbelt, als hätte eine Axt sie abgehauen. Männer wurden von Hieben zurückgetrieben, die ganze Stücke aus ihrem Körper rissen. Die dunkle, schlammbespritzte Streitmacht der Kavallerie der Imperialen Ordnung erstrahlte plötzlich leuchtend rot im gedämpften Tageslicht. Das Gemetzel war so entsetzlich, daß sich der grüne Rasen in einem breiten Streifen hügelabwärts rot verfärbte.

Wo man eben noch Schlachtrufe vernommen hatte, hörte man jetzt nur noch die spitzen Schreie grauenhafter Schmerzen und Qualen, als Männer, in Stücke gehackt, mit abgetrennten Gliedern und tödlichen Verwundungen, sich auf allen vieren kriechend in Sicherheit zu bringen versuchten. Aber draußen auf dein Schlachtfeld gab es einen solchen Ort nicht, dort gab es nur völlige Verwirrung und Tod.

Voller Entsetzen blickte Jennsen hoch in Sebastians entgeistertes Gesicht. Bevor einer von ihnen auch nur ein Wort sagen konnte, erzitterte das Gebäude wie von einem Blitz getroffen. Unmittelbar nach dem krachenden Donnerschlag füllte sich der Flur mit wallendem Rauch; Flammen schlugen ihnen entgegen. Sebastian schnappte ihren Arm und warf sich mit ihr gegenüber dem Fenster in einen Seitengang.

Die Explosion wälzte sich tosend durch den Gang, trieb Holzsplitter, ganze Sessel und lichterloh brennende Vorhänge vor sich her. Glasund Metallsplitter sirrten vorbei und durchschlugen mühelos die Wände.

Kaum war die Walze aus Rauch und Flammen verzogen, liefen Sebastian und Jennsen, ihre Waffen einsatzbereit in der Hand, auf den Gang hinaus und rannten in die Richtung, in der Kaiser Jagang verschwunden war.

Alle Fragen, alle Einwände waren vergessen – sie waren schlagartig bedeutungslos geworden. Das Einzige, was jetzt zählte, war, daß Richard Rahl – irgendwie – hier zu sein schien. Sie mußte ihm Einhalt gebieten. Auch die Stimme hielt sie dazu an; und diesmal versuchte sie nicht, ihr den Mund zu verbieten, diesmal erlaubte sie ihr, die Flammen ihres brennenden Verlangens nach Rache anzufachen und ihr den überwältigenden Wunsch einzureden, jemanden zu töten.

Mindestens fünfzig der stämmigen Soldaten des Sturmtrupps lagen über den ganzen Korridor verteilt, alle übersät mit Brandwunden, viele von ihnen von umherfliegenden Holz- und Glassplittern zerfetzt; die meisten Gesichter waren nicht mehr als solche zu erkennen.

Unter den Toten befand sich auch eine Frau – eine der Schwestern. Wie eine Reihe von Soldaten auch, war sie beinahe in zwei Teile gerissen worden, als ihr zerschundenes Gesicht im Tod zu einem Ausdruck der Überraschung erstarrt war.

Der Gestank des Blutes löste bei Jennsen Brechreiz aus; sie konnte sich kaum überwinden, Luft zu holen, als sie hinter Sebastian her lief. Sie folgten einer blutigen Spur hinunter in ein Labyrinth aus prunkvollen Fluren, wo ihnen aus großer Ferne die Geräusche von Soldaten entgegenschlugen. Zu Jennsens Erleichterung konnte sie die Stimme des Kaisers unter ihnen ausmachen. Sie klangen wie Hunde, die unter unablässigem Gekläff die Fährte eines Fuchses aufgenommen hatten und sich weigerten, ihre Beute jemals wieder zu verlieren.

»Sir!«, rief ein Mann aus einer Tür schräg neben ihnen. »Hier entlang, Sir!«

Sebastian blieb stehen, um den Mann und seine aufgeregten Handzeichen kurz zu mustern, dann zog er Jennsen in ein prunkvoll eingerichtetes Zimmer. Auf der anderen Seite des mit einem eleganten Teppich in gold- und rostfarbenem Rautenmuster ausgelegten Fußbodens, jenseits der mit prächtigen, grünen Vorhängen versehenen Fenster, stand, neben einer in einen weiteren Korridor führenden Tür, ein Soldat.

»Sie ist es!«, rief der Mann Sebastian zu. »Beeilt Euch! Sie ist es! Ich habe sie gerade vorbeieilen sehen.«

Plötzlich ließ der Soldat sein Schwert fallen und faßte sich an die Brust; seine Augen weiteten sich, sein Mund klappte auf, dann brach er, ohne ein Zeichen äußerer Verletzung, vor ihren Füßen tot zusammen.

Fast im selben Augenblick hörte Jennsen aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, das schnappende, zischende Geräusch von etwas, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Sie ließ sich zu Boden fallen, warf sich über Sebastian und drückte ihn wie ein schutzbedürftiges Kind in den Winkel zwischen Fußboden und Wand. Als die krachende Explosion hinter ihr den Fußboden erzittern ließ, schrie sie vor Angst. Eine Schutt- und Trümmerwolke schoß sirrend durch den Raum.

Ihnen bot sich ein Bild der Zerstörung. Die Wand vor ihnen war mit Löchern übersät. Aus unerfindlichem Grund waren sie und Sebastian unverletzt geblieben, was sie in ihrer Überzeugung nur bestätigte.

»Das war er!« Sebastians Arm schoß unter ihrem Körper hervor und wies quer durchs Zimmer. »Das war er!«

Jennsen drehte sich um, konnte aber niemanden erkennen.

Sebastian wiederholte seine Geste. »Das war Lord Rahl, ich habe ihn gesehen. Du hattest mich gerade gegen die Wand geschoben, als er an der Tür vorbeilief und irgendeinen Zauber – eine winzige Menge funkelnden Staubes – in dieses Zimmer warf. Unmittelbar darauf ist dieses Zeug dann explodiert. Es ist mir ein Rätsel, wie wir überlebt haben.«

Im Zimmer war das Unterste nach oben gekehrt worden. Die Vorhänge waren zerfetzt, die Wände durchlöchert. Das noch wenige Augenblicke zuvor so prächtige Mobiliar war nun ein Trümmerhaufen aus zersplittertem Holz und zerrissenen Polstern. Der zerwühlte Teppich war mit einer Schicht aus weißem Staub, Putzstücken und Holzsplittern bedeckt.

Ein baumelndes Stück Wandverputz löste sich, krachte zu Boden und wirbelte noch mehr Staub auf, während Jennsen sich einen Weg durch das verwüstete Zimmer hinüber zur Tür bahnte, durch die sie gekommen waren, zu der Tür, auf die Sebastian gezeigt hatte und wo, nur Augenblicke zuvor, Richard Rahl zu sehen gewesen war. Sebastian hob sein Schwert vom Boden auf und folgte ihr mit hastigen Schritten nach draußen.

»Was, im Namen der Schöpfung, mag hier nur vor sich gehen?«, murmelte Sebastian vor sich hin. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte ein mit Tausenden von Leichen übersätes Schlachtfeld.

»Du mußt Kaiser Jagang unbedingt von hier fortschaffen«, sagte Jennsen. Was immer hier geschah, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Jennsen wußte nur eins: Sie war fest entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Als sie an einer Kreuzung vorsichtig um die Ecke bogen, trafen sie auf etliche Soldaten, die unmittelbar hinter der Türöffnung eines kleinen Raumes in den Schatten kauerten; sie waren blutüberströmt, lebten aber noch; auch vier Schwestern befanden sich unter ihnen. Jennsen erspähte Kaiser Jagang, der keuchend an einer Wand lehnte, das Schwert fest in seiner blutverschmierten Hand. Als sie auf ihn zueilte, begegnete er ihrem Blick, in seinen schwarzgrauen Augen stand nicht etwa Angst oder Sorge, wie sie erwartet hatte, sondern wütende Entschlossenheit.

»Wir sind ganz dicht davor. Mädchen. Haltet Euer Messer bereit.« Sebastian entfernte sich, um mit Hilfe einiger Soldaten, die auf seine stummen Handzeichen hin seinen Anordnungen folgten, ihre unmittelbare Umgebung zu sichern.

Jennsen konnte kaum glauben, was sie hörte oder sah. »Kaiser Jagang. Ihr müßt augenblicklich fort von hier.« Er sah sie voller Mißbilligung an. »Habt Ihr den Verstand verloren?«

»Wir stehen kurz davor, völlig aufgerieben zu werden! Überall liegen tote Soldaten. Da hinten habe ich Schwestern gesehen, zerfetzt von...«

»Magie«, fiel er ihr boshaft grinsend ins Wort.

Das Grinsen brachte sie vollends außer Fassung. »Exzellenz. Ihr müßt von hier weg, bevor Ihr ebenfalls getötet werdet.«

Sein Grinsen verflog, statt dessen wurde sein Gesicht rot vor Zorn. »Das hier ist Krieg! Was glaubt Ihr wohl, was Krieg bedeutet? Krieg bedeutet Töten. Sie haben es getan, und ich bin fest entschlossen, es ihnen doppelt zu vergelten. Wenn es Euch an Mumm gebricht, das Messer zu gebrauchen, dann verschwindet und flieht in die Berge! Aber wagt nicht noch einmal, mich um Hilfe zu bitten!«

Jennsen weigerte sich, klein beizugeben. »Ich denke nicht daran, zu fliehen, denn ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier. Ich wollte nur, daß Ihr diesen Ort verlaßt, damit der Orden nach Bruder Narev nicht auch noch Euch verliert.«

Er schnaubte angewidert. »Wie rührend.« Dann wandte er sich seinen Männern zu und vergewisserte sich, ob sie ihm auch aufmerksam zuhörten. »Eine Hälfte besetzt das Zimmer rechts, gleich dort vorn, die Übrigen bleiben bei mir. Ich will sie nach draußen, ins Freie treiben.«

Er schwenkte sein Schwert vor den Gesichtern der vier Schwestern. »Zwei begleiten sie, zwei mich. Und daß Ihr mich jetzt nicht enttäuscht!«

Daraufhin teilten sich Soldaten und Schwestern auf und entfernten sich; die eine Hälfte durch das Zimmer zur Rechten, die andere im Schlepptau des Kaisers. Sebastian winkte Jennsen wild gestikulierend zu sich. Sie schloß sich ihm an, dann stürmten sie Seite an Seite hinter Kaiser Jagang hinaus in den dämmrigen Korridor.

»Da ist er!«, hörte sie Jagang weiter vorn rufen. »Hierher! Hier entlang!«

Es folgte eine krachende Explosion von solcher Heftigkeit, daß Jennsen die Beine unter dem Körper weggerissen wurden und sie der Länge nach hinschlug. Schlagartig füllte sich der Gang mit einer Feuerwalze und allen nur erdenklichen, von den Wänden zurückprallenden Trümmerteilen, die auf sie zugeschossen kamen. Sebastian packte ihren Arm, riß sie auf die Beine und zog sie gerade noch rechtzeitig in eine zurückversetzte Türnische.

Soldaten weiter vorn im Gang schrien unter tödlichen Schmerzen. Ihre Schreie waren so ungezügelt, daß es Jennsen eiskalt überlief. Dunkelheit und Rauch erschwerten jegliche Orientierung, trotzdem stießen sie kurz darauf auf die ersten Leichen. Zwar gab es einige Überlebende, doch deren gräßliche Verletzungen ließen keinen Zweifel daran, daß auch ihr Ende nahte. Jennsen und Sebastian kletterten über die Sterbenden hinweg und stolperten auf der Suche nach Jagang durch die Spuren des Gemetzels und die knietiefen, von einer Wand zur anderen reichenden Trümmer.

Dann endlich fanden sie ihn. Jagangs linker Oberschenkel war bis auf den Knochen freigelegt; neben ihm stand eine Schwester, den Rücken an die Wand gepreßt. Eine riesige, zersplitterte Eichenplanke hatte sie unmittelbar unterhalb des Brustbeins durchbohrt und an die Wand gespießt. Sie lebte noch, trotzdem war offenkundig, daß jede Hilfe zu spät kam.

»Gütiger Schöpfer, vergib mir. Gütiger Schöpfer, vergib uns«, murmelte sie leise ein ums andere Mal mit bebenden Lippen vor sich hin. Sie wandte die Augen herum, als sie die beiden kommen sah. »Bitte«, hauchte sie. während sich blutiger Schaum um ihre Nase bildete, »so helft mir doch, bitte.«

Offenbar hatte sie unmittelbar neben dem Kaiser gestanden, ihn wahrscheinlich mit ihrer Gabe abgeschirmt, alle entfesselten Energien von ihm abgelenkt und ihm damit das Leben gerettet. Jetzt wand sie sich in Todesqualen.

Sebastian zog einen hinter seinem Rücken verborgenen Gegenstand unter seinem Umhang hervor. Mit wuchtigem Schwung ließ er seine Streitaxt kreisen, bis sich die Klinge mit einem hallenden Geräusch in die Mauer bohrte und stecken blieb. Der Kopf der Schwester purzelte herab und rollte zwischen die staubigen Trümmer.

Ein kräftiger Ruck, und Sebastian hatte seine Axt wieder befreit. Während er sie in die Schlaufe hinter seinem Rücken zurückschob, drehte er sich herum, so daß er Jennsen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Sie konnte nur entsetzt in seine kalten, blauen Augen starren.

»Angenommen, das wärst du«, sagte er »würdest du wollen, daß ich dich solche Qualen leiden lasse?«

Unfähig, ihm zu antworten, wandte Jennsen sich ab und ließ sich neben Kaiser Jagang auf die Knie fallen. Sie hatte geglaubt, er müsse grauenhafte Schmerzen leiden, doch abgesehen von der Gewißheit, daß ihm sein Bein nicht mehr gehorchte, schien er sich der klaffenden Wunde kaum bewußt. Er drückte die beiden Wundränder, so gut es eben ging, mit einer Hand zusammen, verlor aber immer noch große Mengen Blut. Mit der anderen Hand hatte er sich zur Seite hinüberziehen können, wo er an der Wand lehnte. Das Gesicht schweiß- und rußverschmiert, wies Jagang mit seinem Schwert in einen Seitengang. »Sie ist es, Sebastian! Genau hier hat sie gestanden. Um ein Haar hätte ich sie gehabt. Laßt sie nicht entkommen!«

Eine zweite Schwester stolperte durch das Dunkel auf sie zu. »Exzellenz! Ich habe Euch rufen hören! Ich bin schon da, ich bin hier, ich werde Euch helfen.«

Jagang, eine Hand auf seiner wogenden Brust, nickte dankbar. »Sebastian, laßt sie nicht entkommen! Macht schon!«

»Jawohl, Exzellenz.« Mit einem Blick zu der Schwester legte er Jennsen eine Hand auf die Schulter. »Du bleibst hier bei ihnen. Sie wird dich und den Kaiser beschützen. Ich komme wieder hierher zurück.«

Plötzlich war Jennsen allein mit dem schwer verwundeten Kaiser, einer Schwester der Lichts und der Stimme.

Sie ergriff das lose Ende eines Fetzens durchsichtigen Vorhangstoffs und zog ihn unter den Trümmern hervor. »Ihr verliert große Mengen Blut. Ich muß die Wunde schließen, so gut es eben geht.« Sie blickte hoch in die alptraumhaften Augen Kaiser Jagangs. »Könntet Ihr mir helfen, sie zuzuhalten, während ich Euch verbinde?«

Er grinste. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht, helle Streifen im staubigen Schmutz hinterlassend. »Es tut nicht weh, Mädchen. Nur zu, ich hab schon Schlimmeres durchgemacht. Und macht schnell.«

Jennsen ging daran, den schmutzigen Vorhangstreifen unter seinem Bein hindurchzufädeln, das Bein zu umwickeln und den Vorgang zu wiederholen, wahrend Jagang die klaffende Wunde nach besten Kräften zusammenhielt. Das zarte Gewebe verfärbte sich fast augenblicklich rot, als es mit seinem dicken Blut in Berührung kam. Die Schwester stützte sich mit einer Hand auf Jennsens Schulter ab und ließ sich auf die Knie hinunter, um ihr zu helfen. Dann legte sie ihre Hände flach zu beiden Seiten neben den riesigen Riß in seinem Oberschenkelmuskel.

Jagang schrie auf vor Schmerz.

»Tut mir leid, Exzellenz«, sagte die Schwester. »Ich muß die Blutung stoppen, sonst verblutet Ihr.«

»Dann macht endlich, dämliches Weib! Und quatscht mich nicht tot!«

Die Schwester, in Tränen aufgelöst, nickte; es war offenkundig, daß ihr das, was sie tat, entsetzliche Angst bereitete, sie aber genau wußte, daß sie keine andere Wahl hatte. Sie schloß die Augen und legte ihre zitternden Hände abermals auf Jagangs behaartes, blutverschmiertes Bein. Jennsen wich ein Stück zurück, um ihr Platz zu machen und beobachtete im dämmrigen Licht, wie sie die Verletzung des Kaisers ganz offensichtlich mit Magie verwob.

Anfangs war überhaupt nichts zu sehen. Als die Magie der Schwester zu wirken begann, biß Jagang die Zähne aufeinander und stöhnte vor Schmerz. Wie gebannt verfolgte Jennsen, wie die Gabe wahrhaftig dazu benutzt wurde, einem Menschen zu helfen, statt immer nur Leid zu verursachen. Für einen kurzen Augenblick schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, ob die Imperiale Ordnung wohl auch diese Magie, die das Leben des Kaisers retten half, für böse hielt. Im trüben Licht beobachtete Jennsen, wie das ausgiebig aus der Wunde schießende Blut plötzlich zu einem gemächlich tröpfelnden Rinnsal gerann.

Stirnrunzelnd beugte Jennsen sich vor und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, wie die Schwester mit dem Vernähen der entsetzlichen Wunde des Kaisers begann. Dicht über ihn gebeugt, hörte Jennsen ihn ganz unvermittelt flüstern.

»Dort ist er.« Jennsen sah hoch. »Richard Rahl – dort steht er. Das ist er.«

Jennsen folgte Kaiser Jagangs Blick, das Messer fest umklammert. Im Korridor selbst war es dunkel, am hinteren Ende jedoch sah man einen undeutlichen Lichtschein, vor dem sich eine Gestalt als Silhouette abzeichnete, die sie beobachtete.

Die Gestalt hob ihre Arme, zwischen ihren ausgestreckten Händen erwachte ein Feuer zum Leben. Aber es war kein Feuer, wie man es normalerweise kannte, etwa aus einem offenen Kamin, sondern ein Feuer wie aus einem Traum. Es war da und auch wieder nicht, real – und gleichzeitig unwirklich. Jennsen glaubte im Grenzgebiet zweier Welten zu stehen.

Und doch war die tödliche Gefahr, die die flackernde Flamme darstellte, nur zu offenkundig. Der rotierende Feuerball zwischen den unbeweglichen Händen wurde größer und nahm ein beängstigend zielbewußtes Aussehen an. Jennsen wußte, daß sie Zeugin einer Demonstration tödlicher Entschlossenheit wurde.

Und dann schleuderte er dieses unerbittliche flammende Inferno in ihre Richtung.

Jagang hatte behauptet, es sei Richard Rahl, der dort am Ende des Korridors stand; sie dagegen sah nichts weiter als die Umrisse einer Gestalt, aus deren Händen dieses entsetzliche Feuer auf sie zugeschossen kam. Obwohl die Flamme die Wände beleuchtete, blieb ihr Erzeuger merkwürdigerweise nach wie vor im Dunkeln.

Der sengende Feuerball nahm an Umfang zu, als er mit stetig wachsender Geschwindigkeit auf sie zuraste. Die flüssigen blauen und gelben Flammen schienen vor beseelter Entschlossenheit zu brennen.

Und doch war es auf seltsame Weise auch ein Nichts.

»Zauberfeuer!«, kreischte die Schwester und sprang auf. »Gütiger Schöpfer, nein!«

Die Schwester stürzte sich in den dunklen Gang, den heranrasenden Flammen entgegen, riß in ungezügelter Hingabe die Arme in die Luft, die Handflächen dem heranschießenden Feuer entgegengestreckt, so als wollte sie einen magischen Schild zu ihrem Schutz errichten. Der immer weiter anschwellende Feuerball schoß auf sie zu, beleuchtete im Vorüberheulen Wände, Decke und Trümmer.

Mit erschütternder Wucht prallte der Feuerball gegen sie, so daß sie sich vor einem strahlend hell aufflackernden gelben Licht als gleißend heller Schattenriß abzeichnete. Einen Herzschlag später hatte die Flamme sie gänzlich umschlossen, ihren Aufschrei erstickt und sie in einem einzigen blendenden Auflodern verzehrt. Eine bläulich schimmernde Hitzewand flimmerte kurz auf als die Flamme einen Moment lang wirbelnd in der Luft stand; dann verpuffte sie, und zurück blieb nur ein winziges Rauchwölkchen und der Geruch verbrannten Fleisches.

Jennsen starrte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf die Stelle, wo soeben ein Menschenleben vernichtet worden war.

Lord Rahl erzeugte derweil einen weiteren Ball des fürchterlichen Zauberfeuers, beschwor ihn mit seinen Händen, zu wachsen und sich auszudehnen. Und wieder schleuderte er ihn mit gestreckten Händen nach vorn. Der tosende, wallende Feuerball kam heulend auf sie zugeschossen, schwoll im Näherkommen an, ließ im Vorüberfliegen erneut die Wände aufleuchten, bis der brennende Tod schließlich von einer Wand zur anderen, vorn Boden bis zur Decke reichte und keinen Platz mehr ließ, um sich zu verstecken.

Während der Tod Jennsen und Kaiser Jagang unter gewaltigem Höllenlärm zu ereilen drohte, machte Lord Rahl Anstalten, sich zu entfernen und sie ihrem Schicksal zu überlassen.

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