19

Jennsen suchte sich aufs Geratewohl einen Weg durch irgendwelche Straßen; dabei stellte sie sich vor, zwischen Bäumen hindurchzulaufen und sich durch die Wälder zu bewegen, in denen sie sich am heimischsten fühlte. Dort wäre sie jetzt auch am liebsten gewesen, in einem stillen Wald, im Schutz der Bäume, und hätte zusammen mit ihrer Mutter zugesehen, wie Betty an zarten Sprossen knabberte.

Sie war ganz krank vor Sorge um Betty. Die Wurstverkäuferin Irma handelte mit Ziegenfleisch, was zweifellos der Grund war, warum sie Betty überhaupt hatte kaufen wollen. Wahrscheinlich hatte das arme Tier verzweifelt und verängstigt reagiert, als es von einer Fremden fortgebracht wurde. Doch so sehr ihr die Sorge um Betty auch zu schaffen machte, so gern sie nach ihr gesucht hätte, um sie wiederzubekommen, sie durfte diesen Wunsch nicht über Sebastians Leben stellen.

Plötzlich traf sie ein noch viel beängstigenderer Gedanke wie ein Schlag: Mord-Sith. Wo immer Jennsen mit ihrer Mutter in D’Hara auf Reisen gewesen war hatte nichts und niemand den Menschen größere Angst eingeflößt als die Mord-Sith. Ihre Fähigkeit, den Menschen Schmerz und Leid zuzufügen, war legendär. Angeblich gab es außerhalb des unmittelbaren Einflußbereichs des Hüters niemanden, der den Mord-Sith in diesem Punkt das Wasser reichen konnte.

Was, wenn die D’Haraner sich einer dieser Frauen bedienten, um Sebastian zu foltern? Er besaß zwar keine magischen Kräfte, doch was zählte das schon? Mit dem Strafer vermochten die Mord-Sith jedem Schmerzen zuzufügen. Darüber hinaus besaßen sie auch noch die Fähigkeit, Menschen mit magischen Kräften einzufangen. Wer wie Sebastian keine Magie besaß, war für eine Mord-Sith nichts weiter als ein kurzes, allerdings blutiges Vergnügen.

Das Gedränge lichtete sich, während sie sich dem Rand des unter freiem Himmel liegenden Marktes näherte. Als sie den letzten Stand erreicht hatte, betrieben von einem hageren Burschen, der ledernes Zaumzeug und stapelweise gebrauchte Wagenbeschläge verkaufte, endete die provisorische Straße, auf der sie sich befand, im Nichts. Hinter seinem schwer beladenen Wagen voller Werkstücke und Ersatzteile folgte nichts als trostloses, offenes Gelände. Ein endloser Menschenstrom wälzte sich über die Straße, die nach Süden führte. Nach Westen führte keine einzige Straße.

Ein paar Leute am äußersten Rand des Marktplatzes blickten kurz in ihre Richtung, als sie sich auf den Weg machte, der untergehenden Sonne nach. Jennsen war froh, endlich allein zu sein. Das Leben unter Menschen hatte sich als genauso gefahrvoll erwiesen, wie sie immer befürchtet hatte. Als sie in westlicher Richtung losmarschierte, blieb das Geschehen des Marktplatzes rasch hinter ihr zurück.

Jennsen schob ihre Hand unter den Umhang, um sich des beruhigenden Vorhandenseins ihres Messers zu vergewissern. Eng an ihrem Körper anliegend, fühlte es sich warm an, fast so, als wäre es ein lebendiges Wesen und nicht aus Silber und Stahl.

Wenigstens hatte der Taschendieb ihr nur das Geld abgenommen und nicht auch noch das Messer. Vor die Wahl gestellt, hätte sie sich immer für das Messer entschieden. Da ihre Mutter und sie sich selbst versorgt hatten, war sie ihr ganzes Leben lang ohne größere Geldbeträge ausgekommen. Für diese Art sich durchzuschlagen war ein Messer überlebenswichtig. Geld brauchte man, wenn man in einem Palast lebte, unter freiem Himmel aber benötigte man ein Messer, und ein besseres als dieses hatte sie, trotz seiner Herkunft, noch nirgendwo gesehen.

Gedankenverloren strich sie mit den Fingern über den kunstvoll ziselierten Buchstaben »R« auf dem Silbergriff. Manche Leute brauchten wohl auch ein Messer, wenn sie in einem Palast lebten.

Sie drehte sich um, um einen Blick hinter sich zu werfen, und stellte erleichtert fest, daß ihr niemand gefolgt war. Das Felsplateau war mit der Entfernung geschrumpft, bis alle Menschen unterhalb von ihm wie winzige, durcheinander wimmelnde Ameisen aussahen. Es tat gut, diesen Ort hinter sich zu lassen, auch wenn sie wußte, daß sie nach ihrem Besuch bei Althea wieder dorthin zurückkehren mußte, um Sebastian zu befreien.

Als sie eine Weile rückwärts lief, um sich vom eiskalten Wind zu erholen, wanderte ihr Blick an der sich in Serpentinen die steilen Klippen hinaufwindenden Straße entlang bis zu der wuchtigen Steinmauer, die den eigentlichen Palast umgab. Da sie von Süden gekommen war, hatte sie die Straße nicht gesehen. An einer Stelle ihres Verlaufs überspannte eine Brücke einen besonders tückischen Spalt im Felsgestein. Jetzt war die Brücke hochgezogen. Als waren die Felsklippen selbst nicht bereits abschreckend genug, schienen die hohen Steinmauern rings um den Palast des Volkes jeden Versuch, unaufgefordert in sein Inneres vorzudringen, vereiteln zu wollen.

Sie hoffte inständig, daß der Weg bis zu Althea nicht ganz so schwierig werden würde.

Irgendwo in diesem gewaltigen Komplex hielt man Sebastian gefangen. Sie sprach ein stilles Gebet an die Gütigen Seelen, in dem sie darum bat, er möge die Hoffnung nicht aufgeben, und sie möchten ihm irgendwie ein Zeichen geben, daß sie ihn dort herausholen werde.

Nach einer Weile war sie das Rückwärtsgehen und den Anblick des Palasts des Volkes leid und drehte sich um. Nun mußte sie wieder dem Wind trotzen, der ihr kräftig entgegenblies und ihr manchmal die Atemluft geradezu aus dem Mund sog. Heftige Böen wirbelten das trockene, körnige Erdreich hoch bis in ihre Augen.

Das Gelände war eben, trocken und besaß keinerlei hervorstechende Merkmale; es bestand größtenteils aus hartem, verkrustetem Boden, gelegentlich unterbrochen von einem Streifen sandiger Erde. An manchen Stellen wies die bräunlich gelbe Landschaft dunklere braune Flecken auf, und nur gelegentlich stieß man auf Vegetation – in Gestalt einer niedrigen, kümmerlichen, jetzt winterbraunen und verdorrten Pflanze.

Nach Westen hin ragte ein steiler, stark zerklüfteter Gebirgszug in die Höhe. Der Berg in seiner Mitte sah aus, als könnte Schnee auf seinem Gipfel liegen, im Gegenlicht war das jedoch schwer zu beurteilen. Sie war mit dieser Art Landschaft nicht vertraut und fand es schwierig, in der Ebene Entfernungen zu schätzen. Nach allem, was sie wußte, konnte es Stunden, ja Tage dauern bis dorthin. Wenigstens mußte sie sich nicht mühsam durch Schnee kämpfen, wie sie es auf ihrem Weg zum Palast des Volkes des öfteren hatten tun müssen.

Jennsen war sich darüber im klaren, daß sie auch im Winter Wasser brauchen würde; sie nahm an, daß es in einem Sumpfgebiet reichlich davon gab. Auch dämmerte ihr allmählich, daß die Frau, die ihr den Weg beschrieben hatte, zwar davon gesprochen hatte, es sei weit, sich aber nicht näher darüber ausgelassen hatte, was sie darunter verstand. Vielleicht bedeutete ein weiter Weg für sie das, was in Jennsens Augen nur ein forscher Spaziergang von ein paar Stunden war, vielleicht hatte sie aber auch Tage gemeint. Jennsen murmelte leise ein Gebet, es möchten keine Tage sein, obschon ihr allein die Vorstellung, ein Sumpfgebiet zu betreten, absolut nicht behagte.

Als ein vom Wind herangetragenes Geräusch anschwoll, drehte sie sich um und sah hinter sich in der Ferne eine lange Staubfahne aufsteigen. Sie kniff die Augen halb zusammen und erkannte schließlich, daß sie von einem Wagen stammte, der auf sie zuhielt.

Jennsen ließ den Blick suchend über die baumlose Landschaft schweifen und versuchte eine Stelle zu finden, wo sie sich verstecken konnte. Die Vorstellung, ganz allein unter freiem Himmel überrascht zu werden, behagte ihr ganz und gar nicht. Ihr kam der Gedanke, daß womöglich irgendwelche Männer auf dem Markt sie hatten fortgehen sehen und anschließend abgewartet hatten, bis niemand mehr in der Nähe und sie völlig allein war, um ihr hinterherzufahren und sie zu überfallen.

Sie fing an zu laufen. Da der Wagen vom Palast her kam, lief sie in die Richtung, in die sie zuvor gegangen war – nach Westen – auf den dunklen Strich des Gebirges zu. Die Luft, die sie beim Laufen keuchend in ihre Lungen sog, war so kalt, daß ihr die Kehle wehtat. Vor ihr erstreckte sich die Ebene, endlos, ohne die geringste Vertiefung. Sie hielt so schnell es ging auf die Bergkette zu, doch selbst wenn sie rannte, mußte sie sich eingestehen, daß sie zu weit entfernt waren.

Kurz darauf zwang sie sich stehen zu bleiben; ihr Verhalten war überaus dumm, denn sie konnte doch unmöglich schneller laufen als die Pferde. Vornüber gebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln, verschnaufte sie, während sie beobachtete, wie der Wagen immer näher kam. Falls jemand tatsächlich vorhatte, sie zu verfolgen, um über sie herzufallen, dann war Weglaufen so ungefähr das Dümmste, was sie tun konnte.

Abermals wandte sie sich herum, um die Sonne im Gesicht zu haben, und ging weiter, allerdings in einem Tempo, das sie nicht ermüden würde. Wenn sie schon gezwungen war, sich zu verteidigen, sollte sie wenigstens nicht völlig außer Atem sein. Vielleicht waren es ja nur Leute auf dem Heimweg, die schon bald in eine andere Richtung abschwenken würden. Sie hatte sie ja nur aufgrund des Wagengeräuschs bemerkt und aufgrund des von ihm aufgewirbelten Staubes, wären sie zu Fuß, könnte man sie wahrscheinlich überhaupt nicht sehen.

Plötzlich beschlich sie ein entmutigender Gedanke, Vielleicht hatte eine Mord-Sith Sebastian ja bereits ein Geständnis abgepreßt; vielleicht war der Wagen, der auf sie zugefaßt kam, mit hünenhaften, brutalen d’Haranischen Soldaten besetzt, die entschlossen waren, sie gefangen zu nehmen. Vielleicht begann ihr Alptraum jetzt erst richtig. Vielleicht war dies der Tag, vor dem sie sich ihr ganzes Leben lang gefürchtet hatte.

Tränen der Angst brannten ihr in den Augen, als sie ihre Hand unter ihren Umhang gleiten ließ, um sich zu vergewissern, daß ihr Messer locker in der Scheide steckte. Sie zog es ein kleines Stück heraus, schob es anschließend wieder hinein und spürte das beruhigende metallische Klicken, als es in der Scheide einrastete. Bemüht, ihre Angst im Zaum zu halten, versuchte sie in Gedanken alles durchzugehen, was ihre Mutter ihr über den Umgang mit dem Messer beigebracht hatte. Jennsen war zwar allein, aber alles andere als wehrlos; sie wußte, was sie zu tun hatte, und nahm sich vor, das nicht zu vergessen.

Als sie sich abermals umdrehte, hielt der Wagen bereits unmittelbar auf sie zu. Sie setzte die Füße fest auf den Boden, den Umhang leicht geöffnet, um darunter greifen, ihr Messer ziehen und den Angreifer überraschen zu können; auch für sie konnte sich der Moment der Überraschung als wertvoller Verbündeter erweisen.

In diesem Moment erblickte sie ein leicht schiefes Grinsen aus makellosen Zähnen, das offensichtlich ihr galt. Der große blonde Mann lenkte seinen Wagen inmitten einer Wolke aus spritzendem Geröll und Staub bis unmittelbar vor sie. Als er die Bremse anzog, wehte der Staub davon. Es war der Mann vom Markt, der Mann neben Irmas Stand, jener Mann, der ihr einen Schluck Wein zu trinken gegeben hatte. Er war allein.

Sich über seine Absichten im Unklaren, schlug Jennsen einen schroffen Tonfall an und hielt ihre Messerhand bereit. »Was tut Ihr hier draußen?«

Er lächelte noch immer. »Ich bin hergekommen, um Euch mitzunehmen.«

»Und Eure Brüder?«

»Die hab ich am Palast zurückgelassen.«

Jennsen traute ihm nicht; er hatte keinen Grund, ihr hinterherzufahren und sie mitzunehmen. »Danke, aber ich denke, Ihr solltet Euch wieder um Eure eigenen Angelegenheiten kümmern.« Sie machte Anstalten weiterzugehen.

Er sprang vom Wagen herunter.

»Versteht doch, mir wäre einfach nicht wohl bei dem Gedanken«, sagte er.

»Bei welchem Gedanken?«

»Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich einfach tatenlos mit ansähe, wie Ihr hier draußen in Euer Verderben rennt – und genau das würde passieren ohne etwas zu essen, ohne Wasser, ohne überhaupt alles. Ich habe über Eure Worte nachgedacht, daß es Dinge gibt, die man einfach tun muß, da sonst das Leben seinen Sinn verliert und es sich nicht lohnt weiterzuleben. Ich könnte nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn ich wüßte, daß Ihr hier draußen seid und in Euer Verderben lauft.« Seine Beharrlichkeit wich einer gewissen Unsicherheit, und sein Tonfall bekam etwas Flehendes. »Kommt schon, steigt in den Wagen und laßt Euch mitnehmen, bitte.«

»Was ist mit Euren Brüdern? Bevor ich merkte, daß mir mein Geld abhanden gekommen war, sagtet Ihr, Ihr müßtet zurück nach Hause.«

Er hakte einen Daumen hinter seinen Gürtel, offenbar hatte er sich damit abgefunden, sich rechtfertigen zu müssen. »Also, heute lief es so gut mit dem Weinverkauf, daß wir ein ganz ordentliches Sümmchen verdient haben. Joe und Clayton wollten ohnehin lieber beim Palast bleiben und sich zur Abwechslung mal ein wenig amüsieren. Aber es war diese Irma, die schließlich den Ausschlag gegeben hat.« Er zuckte mit den Achseln. »Na ja, dank ihrer Hilfe haben wir heute gut abgeschnitten, was mir wiederum Gelegenheit gibt, Euch zu helfen. Da sie Eure Pferde und Vorräte mitgenommen hat, dachte ich, das Mindeste, was ich tun kann, ist, Euch ein Stück mitzunehmen. Als kleine Wiedergutmachung sozusagen. Ich will Euch doch nur ein Stück mitnehmen, es ist ja nicht so, als würde ich mein Leben riskieren. Ich biete bloß jemandem meine Hilfe an, von dem ich weiß, daß er sie dringend braucht.«

Hilfe konnte Jennsen ohne Zweifel gebrauchen, doch hatte sie nach wie vor Angst, dem Fremden zu vertrauen.

»Übrigens, ich heiße Tom«, sagte er, als hatte er ihre Gedanken erraten. »Ich würde mich freuen, wenn Ihr mir erlauben würdet, Euch auf diese Weise zu helfen.«

»Was genau meint Ihr damit?«

»Wie Ihr schon sagtet – es gibt Dinge, die man einfach tun muß, um dem Leben ein wenig Sinn zu geben.« Er erfaßte die roten Locken ihres Haars unter der Kapuze mit einem flüchtigen Blick, dann wurde er ernst. »Und genau das Gefühl hatte ich dabei ... es wäre mir eine Freude, wenn ich es tun könnte.«

Sie wich dem Blick aus. »Ich heiße Jennsen. Aber ich begreife nicht ganz ...«

»Dann kommt einfach mit. Ich habe etwas Wein dabei...«

»Ich mag keinen Wein. Davon bekomme ich nur Durst.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe auch reichlich Wasser. Außerdem habe ich ein paar Fleischpasteten mitgebracht. Ich wette, wenn Ihr Euch beeilt und gleich davon eßt, sind sie sogar noch warm.«

Sie musterte seine blauen Augen, blau wie die ihres Vaters. Allerdings sprach aus den Augen dieses Mannes eine gewisse unkomplizierte Offenheit; und sein Lächeln hatte nichts Hochnäsiges, sondern wirkte anständig.

»Habt Ihr keine Frau, die auf Euch wartet?«

Diesmal war es Tom, der ihrem Blick auswich und zu Boden schaute. »Nein, Ma’am, ich bin nicht verheiratet. Ich reise viel herum und kann mir nicht vorstellen, daß eine Frau an einem solchen Leben Gefallen finden würde. Zumal es mir kaum Gelegenheit bietet, jemanden so gründlich kennenzulernen, daß an Heirat überhaupt zu denken wäre. Eines Tages aber, das wünsche ich mir von ganzem Herzen, möchte ich eine Frau finden, die ihr Leben mit mir teilen möchte, eine Frau, die mich zum Lachen bringt und derer ich mich würdig erweisen kann.«

Zu ihrer Überraschung bemerkte Jennsen, daß ihm diese Frage die Röte ins Gesicht getrieben hatte. Sie hatte den Eindruck, als entspräche die Unerschrockenheit, mit der er sie angesprochen und ihr angeboten hatte, sie mitzunehmen, keineswegs seinem üblichen Verhalten; bei aller Liebenswürdigkeit wirkte er überaus schüchtern. Irgend etwas an der Art dieses großen, starken Mannes, sich von ihr, einer einsamen Frau mitten im Nirgendwo, mit einer Frage nach Herzensdingen einschüchtern zu lassen, ließ sie innerlich ganz ruhig werden.

»Wenn ich Euch und Eurem Geschäft, mit dem Ihr Euren Lebensunterhalt verdient, damit nicht schade ...«

»Aber nein«, fiel er ihr ins Wort. »Das tut Ihr nicht – auf keinen Fall.« Er wies zurück zum Felsplateau. »Wir haben heute guten Gewinn gemacht und können uns eine kleine Ruhepause leisten. Meine Brüder haben überhaupt nichts dagegen. Tagaus, tagein ziehen wir durch die ganze Weltgeschichte und kaufen, was immer wir zu einem vernünftigen Preis ergattern können, alles, von Wein über Teppiche bis hin zu jungen Hennen, die wir anschließend hierher transportieren, um sie zu verkaufen. Im Grunde tue ich meinen Brüdern einen Gefallen, wenn ich ihnen diese Pause gönne.«

Jennsen nickte. »Euer Angebot kommt mir sehr gelegen, Tom.«

Er wurde ernst. »Ich weiß. Das Leben eines Mannes steht auf dem Spiel.«

Tom kletterte umständlich auf den Wagen und reichte ihr die Hand. »Seht Euch vor, Ma’am.«

Sie ergriff seine große Hand und setzte einen Fuß auf die eiserne Sprosse. »Ich heiße Jennsen.«

»Das sagtet Ihr bereits, Ma’am.« Behutsam zog er sie hoch auf den Bock.

Kaum hatte sie Platz genommen, holte er von hinten eine Decke hervor, die er ihr zusammengefaltet auf den Schoß legte; offenbar wollte er nicht so vermessen sein, sie über sie zu breiten. Sie bedankte sich lächelnd für die wärmende Wolldecke und drapierte sie über ihre Beine. Dann langte er abermals hinter sich, kramte unter einem Stapel verschlissener Packdecken herum und brachte ein kleines Päckchen zum Vorschein. Lächelnd überreichte er ihr die in ein weißes Tuch gewickelte Pastete. Er hatte nicht zu viel versprochen, sie war tatsächlich noch warm. Schließlich holte er einen Wasserschlauch hervor und legte ihn zwischen ihnen auf den Bock.

»Falls es Euch lieber ist, könnt Ihr auch hinten sitzen. Ich habe genug Decken dabei, so daß Euch nicht kalt werden dürfte, außerdem sind sie bestimmt bequemer als die Holzbank.«

»Im Augenblick bin ich hier bestens versorgt«, erwiderte sie und gestikulierte mit der Pastete. »Sobald ich meine Vorräte und mein Geld zurückhabe, möchte ich Euch für alles bezahlen.«

Er löste die Bremse und ließ die Zügel schnellen. »Wenn Ihr unbedingt wollt, allerdings erwarte ich das nicht.«

»Aber ich«, erwiderte sie, als der Wagen anruckte.

Kaum waren sie unterwegs, schwenkte er von ihrem westlichen Kurs auf eine eher nordwestliche Richtung ein.

Augenblicklich kehrte Jennsens Mißtrauen zurück. »Was tut Ihr da? Was glaubt Ihr, wo Ihr hinfahrt?«

Ihr neu erwachtes Mißtrauen schien ihn ein wenig zu erschrecken. »Ihr wollt zu Althea, das stimmt doch, oder?«

»Schon, aber man sagte mir, ich müsse mich westlich halten, bis ich den höchsten, schneebedeckten Berg erreiche, und dann auf der anderen Seite Richtung Norden abbiegen und den Klippen folgen ...«

»Oh«, machte er, als ihm klar wurde, was sie dachte. »Den Weg wählt man nur, wenn man sich einen zusätzlichen Tag Zeit nehmen will.«

»Warum sollte mir die Frau diesen Weg erklären, wenn er länger dauert?«

»Wahrscheinlich, weil das der Weg ist, den jeder zu Althea nimmt, und sie nicht wußte, daß Ihr es eilig habt.«

»Und wieso werden die Leute dort entlang geschickt, wenn es länger dauert?«

»Die Leute nehmen diesen Weg, weil sie sich vor dem Sumpfgebiet fürchten. Auf diesem Weg kommt man Altheas Haus am nächsten, was bedeutet, daß man dort das kürzeste Stück Sumpfgebiet durchqueren muß. Wahrscheinlich kennt die Frau gar keinen anderen.«

Als der Wagen über eine Welle im felsigen Untergrund sprang, mußte Jennsen sich an der Querstange festhalten. Er hatte Recht auf der hölzernen Sitzbank saß man unbequem, und da der Wagen für den Transport schwerer Lasten konstruiert war, geriet er im Leerzustand leicht ins Hüpfen.

»Aber sollte ich dann nicht auch Angst vor dem Sumpf haben?«, fragte sie schließlich.

»Vermutlich schon.«

»Und warum sollte ich dann diesen anderen Weg nehmen wollen?«

Er schaute wieder zu ihr hinüber und riskierte einen flüchtigen Blick auf ihr Haar.

»Ihr habt davon gesprochen, daß das Leben eines Mannes auf dem Spiel steht«, sagte er, seine Schüchternheit war verflogen. »Hier entlang geht es erheblich schneller, wenn man die Strecke abkürzt, indem man sich auf dieser Seite des Gipfels halt, von dem sie Euch erzählte, und den Aufstieg durch die gewundene Schlucht unterhalb der Klippen vermeidet. Das Problem ist, daß man auf diese Weise von hinten in den Sumpf gelangt, so daß man eine größere Strecke durch Sumpfland zurücklegen muß, um zu Altheas Haus zu gelangen.«

»Dauert es nicht länger, wenn man eine größere Strecke durch Sumpfgebiet gehen muß?«

»Doch, aber ich wette, auch wenn der Weg durch den Sumpf selbst länger ist, spart Ihr mindestens einen Tag in beiden Richtungen. Macht insgesamt zwei Tage weniger.«

»Aber ist das denn nicht viel gefährlicher?«

»Ihr würdet nicht ganz allein losmarschieren, noch dazu ohne Vorräte, wenn es nicht ziemlich wichtig wäre – eine Frage von Leben und Tod. Wenn Ihr bereit seid, Euer Leben für diese Sache zu riskieren, dann, so dachte ich, wäre Euch auch daran gelegen, so viel Zeit wie möglich einzusparen. Aber wenn es Euch lieber ist, kann ich Euch auch den Umweg fahren, wo die Strecke durch das Sumpfland kürzer ist. Das liegt ganz bei Euch.«

»Nein, Ihr habt Recht.« Die Fleischpastete auf ihrem Schoß war noch immer warm, es tat gut, sie in den Händen zu halten. Und es war sehr aufmerksam von ihm gewesen, sie mitzubringen. »Ich möchte mich bei Euch bedanken, Tom, daß Ihr darüber nachgedacht habt, wie ich Zeit einsparen kann.«

»Wer ist dieser Mann, um dessen Leben oder Tod es geht?«

»Ein Freund«, antwortete sie kurz angebunden.

»Muß ein sehr guter Freund sein.«

»Ohne ihn wäre ich längst tot.«

Er schwieg, während sie auf den dunklen Streifen des Gebirges in der Ferne zurollten. Sie dachte angestrengt darüber nach, was sie im Sumpf erwarten mochte, schlimmer noch, sie quälte sich mit dem Gedanken, was Sebastian zustoßen würde, wenn sie nicht schnell genug Altheas Hilfe erbitten konnte.

»Wie lange dauert es noch, bis wir das Sumpfgebiet erreichen?«, erkundigte sich Jennsen.

»Das hängt ganz davon ab, wie tief der Schnee am Paß liegt, und von einer Reihe anderer Dinge. Ich fahre diesen Weg nicht oft, deshalb kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber wenn wir die Nacht durchfahren, bin ich einigermaßen sicher, daß wir gegen Morgen die Rückseite des Sumpflandes erreichen.«

»Und wie lange braucht man von dort bis zu Althea? Durch den Sumpf, meine ich?«

Er sah unsicher zu ihr hinüber. »Tut mir leid, Jennsen, aber das kann ich nicht genau sagen. Ich war noch nie in Altheas Sumpf.«

»Und was schätzt Ihr?«

»Den örtlichen Gegebenheiten nach zu urteilen, sollte man meiner Meinung nach nicht länger als einen Tag für den Hin- und Rückweg benötigen, aber das ist nur eine Schätzung. Und dabei ist die Zeit noch nicht berücksichtigt, die Ihr Euch bei Althea aufhalten werdet.« Seine Unsicherheit kehrte zurück. »Ich werde Euch jedenfalls auf dem schnellsten Weg zu ihr bringen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, es wäre das Beste, wenn Ihr beim Wagen und den Pferden wartet. Wenn Ihr die Nacht durchfahrt, werdet Ihr Euch ausruhen müssen, um bereit zu sein, sobald ich wieder zurückkomme. Wir würden dadurch Zeit sparen.«

Er dachte über ihre Worte nach und nickte. »Das klingt vernünftig. Aber ich könnte doch trotzdem ...«

»Nein. Ich weiß zu schätzen, daß Ihr mich mitgenommen habt, und das Essen, das Wasser und die warme Decke auch, aber ich werde nicht zulassen, daß Ihr ebenfalls Euer Leben dort riskiert. Am meisten würdet Ihr mir helfen, wenn Ihr beim Wagen wartet und bereit seid, mich gleich nach meiner Rückkehr zurückzufahren.«

Sie beobachtete das Spiel des Windes in seinen Haaren, wahrend er darüber nachdachte. »Also gut, wenn Ihr es so wünscht. Ich bin froh, daß Ihr mich helfen laßt, so weit es in meiner Macht steht. Wohin soll es nach Eurem Besuch bei Althea gehen?«

»Zurück zum Palast«, antwortete sie.

»Dann werde ich Euch, mit ein bißchen Glück, übermorgen wieder im Palast absetzen.«

Das bedeutete drei Tage für Sebastian. Sie wußte nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Aber solange Hoffnung bestand, daß er noch lebte, mußte sie durch diesen Sumpf.

Trotz des Unbehagens, das sie angesichts der vor ihr liegenden Aufgabe beschlich, mundete die Fleischpastete köstlich. Hungrig wie sie war, hätte ihr vermutlich alles großartig geschmeckt.

Tom meinte, »Der Mond wird nicht lange nach Sonnenuntergang aufgehen, ich sollte also auch nach Erreichen des Passes in den Bergen noch gut genug sehen können, um weiterzufahren. Im Wagen liegen jede Menge Decken. Sobald es Nacht wird, klettert Ihr vielleicht besser nach hinten und schlaft, wenn möglich, ein wenig für morgen vor. Ihr werdet die Ruhe gebrauchen können. Morgen früh, wahrend Ihr in den Sumpf geht, um Althea zu besuchen, lege ich mich kurz aufs Ohr. Sobald Ihr zurück seid, fahre ich die Nacht durch und bringe Euch auf schnellstem Weg zurück zum Palast. Ich hoffe, daß wir auf diese Weise genug Zeit einsparen können, damit Ihr Eurem Freund helfen könnt.«

»Vielen Dank, Tom. Ihr seid ein guter Kerl.«

Er schmunzelte. »Das meinte meine Mama auch immer.«

Sie wollte gerade noch ein Stück abbeißen, als er hinzufügte, »Hoffentlich denkt Lord Rahl das auch, Ihr werdet es ihm doch sagen, wenn Ihr ihn seht, oder?«

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er das gemeint haben konnte, und hatte Angst nachzufragen. Sie kaute, ihren vollen Mund als Vorwand benutzend, um Zeit zu gewinnen, während ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf schossen. Was immer sie darauf erwiderte, konnte sie in Schwierigkeiten bringen. Sebastians Leben stand auf dem Spiel, daher entschloß sich Jennsen zu lächeln und mitzuspielen.

»Aber ja.«

Dem kaum merklichen, nichtsdestoweniger begeisterten Lächeln zufolge, das seine Lippen umspielte, wahrend er die Zügel bediente und darauf achtete, wohin sie fuhren, war es genau die richtige Antwort gewesen.

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