14

Mit einer spielerischen, gleichwohl makellos präzisen Drehung seines Handgelenks nahm Friedrich Gilder ein Stück Blattgold auf die feinen Härchen seiner Bürste und trug es auf. Das Gold, so leicht, daß es auf dem zartesten Lufthauch zu schweben vermochte, schmiegte sich wie durch Magie auf den Gipsgrund. Konzentriert über seine Werkbank gebeugt, benutzte Friedrich einen Bausch aus Schafwolle, um behutsam – sie dabei auf etwaige Fehler untersuchend – über die frisch vergoldete Oberfläche der kleinen, stilisierten Schnitzerei eines Vogels zu reiben.

Draußen tröpfelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Obwohl erst Mittag, war es unter den gemächlich dahinziehenden, gelegentlich einen Schauer bringenden Wolken so düster, als dämmerte es bereits.

Friedrich sah auf, schaute von seinem Arbeitsplatz im Hinterzimmer durch die Türöffnung in den eigentlichen Wohnraum und beobachtete seine Frau, die mit vertrauten Bewegungen ihre Steine über die Huldigung streute. Er hatte die Linien ihrer Huldigung vor vielen Jahren vergoldet – den achtstrahligen Stern innerhalb eines Kreises, der von einem Quadrat mit einem weiteren umliegenden Kreis umschlossen wurde –, natürlich erst, nachdem sie alles ganz präzise vorgezeichnet hatte. Hätte er sie gezeichnet, wäre die Huldigung unbrauchbar gewesen, denn nur wer die Gabe besaß, war fähig, eine echte Huldigung zu zeichnen.

Es bereitete ihm Freude, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihr Leben ein wenig schöner zu gestalten, schließlich war sie es, die sein Leben lebenswert machte. Seiner Ansicht nach konnte nur der Schöpfer selbst ihrem Lächeln diesen goldenen Glanz verliehen haben.

Friedrich sah auch, wie die Frau, die sich wegen einer Weissagung bis zu ihrem Haus gewagt hatte, sich erwartungsvoll vorbeugte, um ganz gefesselt die Entwicklung ihres Schicksals zu verfolgen.

Diese Frau, mittleren Alters und verwitwet, war eine sympathische Person, die Althea bereits zweimal aufgesucht hatte, das lag jedoch einige Jahre zurück. Ganz in seine Arbeit versunken, hatte er zerstreut zugehört, wie sie Althea von ihren erwachsenen Kindern erzählte, die allesamt verheiratet waren und ganz in ihrer Nähe lebten, und daß ihr erstes Enkelkind unterwegs sei. Nun aber war es kein Kind, sondern der Fall der Steine, dem ihre ganze Aufmerksamkeit galt.

»Wieder?«, rief sie. Es war weniger eine Frage als vielmehr ein Ausdruck der Verblüffung. »Jetzt haben sie es schon wieder getan.«

Althea enthielt sich eines Kommentars. Friedrich polierte das frisch aufgetragene Gold und lauschte auf die vertrauten Geräusche seiner Frau beim Aufnehmen der Steine vom Brett.

»Tun sie das öfters?«, wollte die Frau wissen. Althea antwortete ihr nicht. Die Frau rieb sich so fest die Knöchel, daß Friedrich befürchtete, die Haut könnte sich lösen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Still«, murmelte Althea, während sie die Steine in ihrer hohlen Hand schüttelte.

Friedrich hatte seine Frau gegenüber einer Kundin noch nie so verschlossen erlebt. Von dem knöchernen Klacken der Steine in Altheas locker geschlossener Faust schien eine gewisse Dringlichkeit auszugehen. Die Frau rieb sich in Erwartung ihres Schicksals erneut die Knöchel.

Abermals rollten die sieben Steine über das Brett, um die heiligen Geheimnisse des Schicksals preiszugeben.

Von seinem Platz aus konnte Friedrich den Fall der Steine nicht sehen, hörte aber das vertraute Klackern, wenn ihre unregelmäßigen Formen über das Brett kullerten. Nach all den Jahren sah er Althea nur noch selten bei der Ausübung ihres Berufes zu, das heißt, dem eigentlichen Werfen der Steine; nichtsdestoweniger war es für ihn auch nach all den Jahren noch ein Genuß, Althea anzuschauen.

Die Frau hielt erschrocken den Atem an. »Schon wieder!«, flüsterte sie dann tonlos. Wie um ihre Bemerkung zu unterstreichen, rollte fernes Donnergrollen über das Haus hinweg. »Was mag das nur bedeuten, Lady Althea?« Der besorgte Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Althea, auf ihrem Kissen auf dem Boden liegend, die kraftlosen Beine seitlich ausgestreckt, stützte sich mit einem Arm vom Boden ab, um sich aufzurichten. Schließlich sah sie die Frau an.

»Es bedeutet. Margery, daß Ihr eine Frau von großer seelischer Kraft seid ...«

»Das hier bin ich, einer von diesen beiden Steinen? Eine Frau von großer seelischer Kraft?«

»Ganz recht«, bestätigte Althea mit einem Nicken.

»Und der andere? Das kann doch unmöglich etwas Gutes verheißen, nicht an dieser Stelle.«

»Ich war gerade im Begriff, Euch zu erklären, daß die Position des anderen Steins, so wie sie sich nach jedem Wurf ergibt, ebenfalls für eine Person von großer seelischer Kraft steht und zwar für einen Mann.«

Margery rieb sich nervös die Knöchel und besah sich die Steine auf dem Brett noch einmal. »Aber aber sie fallen beide ...« Sie machte eine fahrige Handbewegung. »Sie fallen beide immer dorthin ... ganz an den Rand, außerhalb des äußeren Kreises. In die Unterwelt.« Ihre besorgten Augen versuchten Altheas Gesicht zu ergründen.

Althea umfaßte ihre Knie und zog ihre Beine vor den Körper wo sie sie übereinander schlug. Obwohl sie keine Kraft mehr in den Beinen hatte und sie nahezu nutzlos waren, fiel ihr das aufrechte Sitzen leichter, wenn sie sie vor ihrem auf dem Boden liegenden Kissen verschränkte.

»Ach was, nein, meine Liebe, keineswegs. Begreift Ihr denn nicht? Das verheißt etwas Gutes. Diese beiden starken Seelen gehen gemeinsam durchs Leben und durch alles, was danach kommt. Ein besseres Ergebnis könnte eine Weissagung gar nicht haben.«

Margery betrachtete das Brett erneut mit sorgenvoller Miene. »Wirklich? Ganz bestimmt, Lady Althea? Eurer Ansicht nach ist es ein gutes Zeichen, wenn sie ... das immer wieder tun?«

»Selbstverständlich, Margery. Das Ergebnis ist eindeutig positiv. Zwei starke Seelen, die zueinander finden.«

Nachdenklich sah Margery hoch zu Althea. »Aber wer könnte es sein? Wer ist dieser geheimnisvolle Mann, den ich bald kennen lernen werde?«

Althea zuckte mit den Achseln. »Für eine solche Aussage ist es noch zu früh. Aber die Steine sagen, daß Ihr einem Mann begegnen werdet« – sie preßte zur Verdeutlichung Zeige- und Mittelfinger fest gegeneinander – »und daß Ihr beide unzertrennlich sein werdet. Meinen Glückwunsch, Margery. Es sieht ganz so aus, als solltet Ihr schon bald das Glück finden, das Ihr sucht.«

»Wann wird es so weit sein?«

Wieder zuckte Althea mit den Achseln. »Für eine solche Aussage ist es noch zu früh. Die Steine sagen lediglich, daß etwas geschehen wird, nicht wann. Vielleicht schon morgen, vielleicht erst nächstes Jahr. Das Wichtige aber ist, daß Ihr über kurz oder lang einem Mann begegnen werdet, der gut zu Euch sein wird, Margery. Ihr müßt von nun an die Augen offen halten.«

»Aber wenn die Steine doch sagen ...«

»Die Steine sagen, daß er stark und Euch gegenüber aufgeschlossen ist, aber sie legen es nicht unverrückbar fest. Das bleibt Euch und diesem Mann vorbehalten. Seid offen für ihn, wenn er in Euer Leben tritt, sonst könnte es sein, daß er vorübergeht, ohne Euch zu bemerken.«

»Das werde ich tun, Lady Althea.« Ihre Stimme klang bereits merklich überzeugter. »Ganz bestimmt. Ich werde mich bereithalten, und wenn er dann wie zufällig in mein Leben tritt, werde ich ihn erkennen, und er mich auch – genau so. wie die Steine es geweissagt haben.«

»Gut.«

Die Frau kramte in dem ledernen Geldbeutel, der an ihrem Gürtel hing, bis sie eine Münze gefunden hatte. Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Weissagung, war sie gern bereit, sich von dem Geldstück zu trennen.

Nahezu vier Jahrzehnte schaute Friedrich jetzt schon zu, wie Althea ihre Weissagungen machte, und noch nie hatte er in all den Jahren erlebt, daß sie jemanden angelogen hätte.

Die Frau erhob sich und reichte ihr die Hand. »Darf ich Euch aufhelfen, Lady Althea?«

»Danke, meine Liebe, aber Friedrich wird mir helfen, später. Im Augenblick möchte ich noch ein wenig vor meinem Brett sitzen bleiben.«

Die Frau lächelte, wahrscheinlich träumte sie bereits von dem neuen Leben, das sie erwartete. »Nun, dann sollte ich mich jetzt besser auf den Weg machen, bevor es noch später wird ... und die Nacht hereinbricht. Außerdem ist es ein langer Ritt zurück.« Sie beugte sich ein Stück zur Seite und winkte durch die offene Tür. »Schönen Tag noch, Meister Friedrich.«

Mittlerweile hatte der Regen angefangen, energisch gegen die Fensterscheiben zu prasseln; der Himmel hatte sich verdunkelt und tauchte das mitten im Sumpf gelegene Haus in graues Dämmerlicht. Friedrich erhob sich von seiner Werkbank und versuchte, sie mit einer Handbewegung zurückzuhalten. »Erlaubt, daß ich Euch zur Tür begleite, Margery. Es wartet doch hoffentlich jemand, der Euch zurückbegleitet, oder?«

»Ja, mein Schwiegersohn wartet oben bei den Pferden am Rand der Schlucht, wo der Pfad in den Sumpf beginnt.« In der Türöffnung hielt sie inne und wies mit einer Handbewegung auf seine Arbeit auf der Werkbank. »Ein schönes Stück, das Ihr da gerade fertiggestellt habt.«

Friedrich lächelte. »Hoffentlich finde ich im Palast einen Kunden, der genauso denkt.«

»Das werdet Ihr, ganz gewiß. Eure Arbeiten sind ausgezeichnet, das sagt jeder. Wer ein Stück aus Eurer Hand besitzt, kann sich glücklich schätzen.«

Margery bedankte sich noch einmal beglückt mit einem Knicks vor Althea, ehe sie ihren Lammfellumhang vom Haken neben der Tür nahm. Lächelnd blickte sie in den düsteren Himmel, legte ihren Umhang um und schlug die Kapuze über den Kopf; sie konnte es kaum erwarten, loszumarschieren und sich auf die Suche nach ihrem neuen Mann zu machen. Die Frau hatte einen weiten Weg vor sich. Ehe sie die Tür schloß, ermahnte Friedrich sie noch, beim Aufstieg aus der Schlucht unbedingt darauf zu achten, nicht vom Weg abzukommen und aufzupassen, wohin sie ihre Füße setzte. Sie erwiderte, die Instruktionen seien ihr noch gut in Erinnerung, und versprach, sie genauestens zu beachten.

Er sah ihr hinterher, wie sie sich mit eiligen Schritten entfernte und die Schatten und der Nebel sie verschluckten, bevor er die Tür gegen das scheußliche Wetter fest verriegelte. Dann wurde es wieder still im Haus, nur von draußen war tiefes Donnergrollen zu hören; es klang wie eine Unmutsäußerung.

Mit schlurfenden Schritten näherte sich Friedrich von hinten seiner Frau. »Warte, laß mich dir in deinen Sessel helfen.«

Althea hatte ihre Steine wieder aufgenommen. Ein weiteres Mal rasselten sie, den Gebeinen verstorbener Seelen gleich, in ihrer hohlen Hand. Es widersprach ihrer sonst so aufmerksamen Art, nicht zu reagieren, wenn er sie ansprach, und noch viel weniger entsprach es ihrer Art, die Steine nach Aufbruch eines Kunden noch einmal zu werfen. Das Werfen ihrer Steine für eine Weissagung beanspruchte ihre Gabe auf eine Weise, die er nicht völlig verstand. Was er jedoch verstand, war, wie sehr es sie erschöpfte; es zehrte so sehr an ihren Kräften und versetzte sie in einen Zustand solcher Weltentrücktheit, daß sie gewöhnlich eine Weile nur zu gern darauf verzichtete, sie noch einmal zu werfen.

Jetzt jedoch hatte ein unausgesprochener Zwang von ihr Besitz ergriffen.

Sie öffnete ihre Hand mit einer Drehung des Handgelenks und warf die Steine mit derselben Leichtigkeit und Eleganz, mit der er sein hauchfeines Blattgold behandelte. Die glatt gewetzten, dunklen, unregelmäßig geformten Steine verließen ihre Hand, hüpften über das Brett und sprangen über die vergoldete Huldigung.

Vieltausendmal in ihrem gemeinsamen Leben hatte er sie ihre Steine werfen sehen; es gab Zeiten, in denen er so wie ihre Kunden auch versucht hatte, ein Muster im Fall der Knochen zu erkennen. Es war ihm nie gelungen.

Althea dagegen stets.

Im Akt des Werfens selbst offenbarte sich dieses Muster nicht; es war die Anordnung der Steine, die von Kräften beeinflußt wurde, über die er nicht nachzudenken wagte. Kräfte, die sich der Hexenmeisterin allein kraft ihrer Gabe offenbarten. An dieser zufälligen Struktur innerhalb der Unordnung konnte sie den Strom der Kräfte ablesen, der die Welt des Lebens durchzog – und wohl ebenfalls, wie er befürchtete, auch wenn sie nie darüber sprach, die Welt der Toten. So nah sie sich mit Leib und Seele standen, dies war ein Punkt, den sie in ihrem gemeinsamen Leben niemals würden teilen können.

Ein Blitz zuckte, unmittelbar darauf gefolgt von krachendem Donner.

Friedrich machte ein ungläubiges Gesicht. Er überlegte, wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit sein mochte, daß die Steine am Ende ihres unkontrollierten Gepurzels exakt an diesen Punkten der Huldigung zu liegen kamen. Ihm war nie zuvor aufgefallen, daß sie sich zu einem erkennbaren Muster angeordnet hätten.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte er.

»Ich fürchte, ja«, erwiderte sie flüsternd, während sie die Steine mit ihren schlanken Fingern abermals zusammenschob.

»Wirklich?« An ein so unglaubliches Ereignis, an eine so beunruhigende Regelmäßigkeit würde er sich doch bestimmt erinnern. »Und wann soll das gewesen sein?«

Sie schüttelte die Steine in ihrer hohlen Hand. »Bei den vier vorangegangenen Würfen. Mit diesem Wurf sind es insgesamt fünf, alle absolut identisch, jeder einzelne Stein kam genau auf derselben Stelle zu liegen wie zuvor.«

Sie warf die Steine abermals über das Brett. Im selben Augenblick schien der Himmel seine Pforten zu öffnen, und strömender Regen trommelte aufs Dach; der Lärm hallte durch das ganze Haus. Friedrichs Blick ging unfreiwillig kurz zur Decke, bevor er zusammen mit Althea verfolgte, wie die Steine über das Brett tanzten und sprangen.

Der erste Stein rollte genau bis zum Mittelpunkt der Huldigung und blieb dort liegen. Ein Blitz zuckte. Die anderen Steine kullerten auf scheinbar ganz natürliche Weise über das Brett und blieben, scheinbar ebenfalls ganz natürlich, liegen, nur eben an jeweils exakt derselben Stelle wie zuvor.

»Damit waren es sechs«, stellte Althea flüsternd fest. Ein Donner krachte.

Friedrich wußte nicht zu sagen, ob sie mit ihm sprach oder mit sich selbst.

»Aber die ersten vier Würfe galten dieser Frau, dieser Margery. Du hast sie für sie geworfen, der Wurf war für ihre Weissagung bestimmt.«

Selbst in seinen Ohren klang es eher nach einer Ausflucht denn nach einer vernünftigen Erklärung.

»Margery kam her um sich weissagen zu lassen«, sagte Althea. »Das bedeutet aber nicht, daß es den Steinen beliebte, ihr eine zu gewähren. Offenbar haben die Steine beschlossen, daß diese Weissagung mir gelten soll.«

»Und was besagt sie nun?«

»Nichts«, erwiderte sie. »Zumindest noch nicht. In diesem Stadium handelt es sich erst um eine Möglichkeit – eine dunkle Gewitterwolke am Horizont. Möglicherweise beschließen die Steine ja noch, daß dieser Sturm an uns vorüberziehen soll.«

Während er ihr zusah, wie sie die Steine abermals einsammelte, beschlich ihn ein unbestimmtes Angstgefühl. »Das reicht jetzt – du mußt dich ausruhen. Wie wär’s, wenn du dir von mir aufhelfen läßt, Althea? Ich werde dir etwas zu essen machen.« Er beobachtete, wie sie den letzten Stein, den in der Mitte, vom Brett aufnahm. »Laß deine Steine jetzt erst mal in Ruhe. Ich brühe dir auch einen schönen, heißen Tee auf.«

Noch nie zuvor hatte er die Steine als etwas Unheilvolles betrachtet, jetzt aber schien es ihm, als seien sie im Begriff, eine Bedrohung für ihr Leben heraufzubeschwören.

Er wollte nicht, daß sie die Steine noch einmal warf, und ließ sich neben ihr nieder. »Althea ...«

»Sei still, Friedrich.« Sie sprach die Worte ohne besondere Betonung, weder verärgert noch vorwurfsvoll, sondern einfach nur, weil sie nicht anders konnte. Der Regen trommelte mit ungestümer Heftigkeit aufs Dach, und die aus den Regenrinnen herabstürzenden Wassermassen rauschten. Immer wieder wurde die Dunkelheit draußen vor den Fenstern von Blitzen zerrissen.

Er lauschte auf das leise Rasseln der Steine, es war, als sprächen die Gebeine der Toten zu ihr. Zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben empfand er so etwas wie Abscheu und Feindseligkeit gegenüber den Steinen in ihrer Hand, so als wären sie ein Liebhaber, der gekommen war, um sie ihm fortzunehmen.

Althea saß auf ihrem rotgoldenen Kissen und streute erneut die Steine über die Huldigung.

Schicksalsergeben verfolgte er, wie sie erst über das Brett purzelten und schließlich, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, auf exakt denselben Punkten wie zuvor liegen blieben. Überrascht wäre er nur gewesen, wenn sie sich anders angeordnet hätten.

»Sieben«, sagte sie leise. »Siebenmal sieben Steine.«

Man hörte einen tiefen, hallenden Donner, eine unzufriedene Stimme der Seelen aus der Unterwelt.

Friedrich legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. Eine Erscheinung war in ihr Haus eingedrungen und hatte sich in ihr Leben gedrängt; sehen konnte er sie nicht, aber er wußte, daß sie da war. Eine ungeheure Mattigkeit befiel ihn, so als spürte er plötzlich all die Jahre seines Lebens auf einmal, die ihn unter ihrem Gewicht zu erdrücken schienen und ihm das Gefühl gaben, alt, sehr alt zu sein. Er fragte sich, ob dies in geringerem Maß der Mattigkeit entsprach, die sie stets nach einer Weissagung verspürte. Die Vorstellung, sich immer in einem solchen Zustand emotionaler Aufgewühltheit zu befinden, ließ ihn schaudern. In ihrer Blindheit für die Turbulenzen der stürmischen Kräfte rings um sie her erschien ihm seine Welt, die Welt des Vergoldens, im Vergleich dazu sehr einfach und glücklich.

Das Schlimmste aber war, daß er sie vor dieser unsichtbaren Bedrohung nicht schützen konnte. In dieser Hinsicht war er völlig hilflos.

»Was hat das zu bedeuten, Althea?«

Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und starrte noch immer unverwandt auf die abgewetzten dunklen Steine.

»Es kommt jemand, der die Stimmen hört.«

Ein blendender, wütender Blitz zuckte und ließ den Raum in seinem weißen Gleißen taghell aufleuchten, der flimmernde Kontrast zwischen strahlend hellem Licht und alles erstickender Dunkelheit war Schwindel erregend. Das heftige Flackern schien noch nicht ganz erloschen, als ein krachender Donnerschlag erfolgte, dessen dumpfer Nachhall den Boden erzittern ließ. Unmittelbar darauf folgte ein weiteres ohrenbetäubendes Krachen.

Friedrich schluckte. »Weißt du auch, wer?«

Sie langte hinauf und tätschelte die auf ihrer Schulter ruhende Hand. »Tee. hast du gesagt? Mir ist ein wenig kalt vom Regen. Ja, ich hätte gern einen Tee.«

Sein Blick wanderte von ihren faltigen, lächelnden Augen zu den Steinen auf ihrer Huldigung. Was immer der Grund sein mochte, im Augenblick war sie nicht bereit, die Frage zu beantworten; also stellte er statt dessen eine andere.

»Warum sind deine Steine so gefallen, Althea? Was könnte das bedeuten?«

Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein; das anschließende Krachen des Donners fühlte sich an, als bestünde die dabei zerreißende Luft aus massivem Stein. Der Regen peitschte in hemmungslosen Wellen gegen die Fensterscheiben.

Schließlich löste Althea ihren Blick vom Fenster, hinter dem die Schöpfung ihrem Zorn freien Lauf ließ, und wandte sich wieder dem Brett zu. Sie streckte die Hand vor und berührte den Stein in der Mitte mit dem Zeigefinger.

»Der Schöpfer?«, riet er laut, bevor sie ihn benennen konnte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Lord Rahl.«

»Aber der Stern im Zentrum steht doch für den Schöpfer – für seine Gabe.«

»Innerhalb der Huldigung trifft das auch zu. Nur darfst du nicht vergessen, daß es sich hier um eine Weissagung handelt, das ist etwas völlig anderes. Eine Weissagung bedient sich lediglich der Huldigung, und in dieser Weissagung steht der Stein im Zentrum für den, der im Besitz Seiner Gabe ist.«

»Dann könnte es also jeder x-Beliebige sein«, erwiderte Friedrich. »Jeder, der die Gabe besitzt.«

»Nein. Die von den acht Zacken des Sterns ausgehenden Linien stellen die Gabe in dem Augenblick dar, da sie das Leben verläßt, den Schleier zwischen den Welten und anschließend den äußeren Kreis passiert, um schließlich in die Unterwelt einzudringen. Somit repräsentiert der Stern die Gabe auf eine Weise, wie dies bei keiner anderen Person möglich wäre, die Gabe für die Magie beider Welten, der Welt des Lebens und der Welt der Toten, additive und subtraktive Magie. In dem in der Mitte liegenden Stein vereint sich beides.«

Er blickte noch einmal auf den Stein im Zentrum der Huldigung. »Aber wieso sollte das ausgerechnet auf Lord Rahl hindeuten?«

»Weil er seit drei Jahrtausenden der Einzige ist, der mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde. Während dieser endlos langen Zeit, bis er seine Gabe erhielt, ist kein von mir geworfener Stein jemals auf dieser Stelle liegen geblieben; es wäre auch gar nicht möglich gewesen.

Wie lange ist das jetzt her, daß der jetzige die Nachfolge seines Vaters angetreten hat – zwei Jahre?«

»Aber ich erinnere mich, wie du mir vor vielen Jahren erzählt hast, Darken Rahl habe sich beider Seiten der Magie bedient«, unterbrach Friedrich seine Frau.

Schreckliche Erinnerungen vor Augen, schüttelte Althea den Kopf. »Er hat sich auch subtraktiver Kräfte bedient, aber nicht aufgrund seiner Abstammung. Als Gegenleistung für die Gunst des Hüters mußte er ihm unschuldige Kinderseelen opfern. Darken Rahl hat sich die eingeschränkte Nutzung dieser Kräfte erkaufen müssen. Dieser Mann dagegen, der jetzige Lord Rahl. wurde mit beiden Seiten der Gabe geboren, wie früher die Altvorderen.«

Friedrich wußte nicht recht, was er davon halten sollte, worin nun die Gefahr bestand, die er so überdeutlich spürte. Der Tag, an dem der neue Lord Rahl an die Macht gekommen war, war ihm noch klar und deutlich in Erinnerung. Friedrich war im Palast gewesen, um seine vergoldeten Schnitzereien zu verkaufen, als das große Ereignis stattgefunden hatte. An diesem Tag hatte er den neuen Lord Rahl, Richard Rahl, gesehen.

Es war einer jener Augenblicke im Leben gewesen, die man nie vergaß – es war erst der dritte Lord Rahl zu Friedrichs Lebzeiten. Und dann war da noch das Schwert gewesen, das er trug, eine legendäre Waffe, wie man sie seit Friedrichs Kindertagen – lange vor Errichtung der Grenzen, die D’Hara vom Rest der Neuen Welt trennten – dort nicht mehr gesehen hatte.

Der frisch erkorene Lord Rahl war in Begleitung eines alten Mannes – eines Zauberers, dem Vernehmen nach – und einer außergewöhnlichen Frau durch die Korridore des Palastes des Volkes gewandelt. Die Frau mit ihrem langen, vollen Haar und ihrem weißen, schimmernden Kleid hatte den Prunk und die Eleganz des Palasts im Vergleich belanglos und gewöhnlich aussehen lassen.

Es schien kein Zweifel daran zu bestehen, daß Richard Rahl und diese Frau zusammengehörten. Friedrich sah es an den Blicken, die sie miteinander wechselten. Die Entschlossenheit, Treue und Verbundenheit in den grauen Augen dieses Mannes und den grünen Augen dieser Frau waren ebenso vollkommen wie unverkennbar gewesen.

»Und was ist mit den anderen Steinen?«, fragte er.

Althea wies auf den Bereich außerhalb des größeren Kreises der Huldigung, in den sich nur die goldenen Strahlen der Gabe des Schöpfers wagten und wo nun die beiden dunklen Steine in der Welt der Toten lagen.

»Das sind die, die die Stimmen hören«, meinte Althea.

Er nickte, als er seine Vermutung bestätigt sah. Es geschah nicht oft, daß seine aus dem Offenkundigen geschlossene Vermutung in Dingen, die sich mit Magie befaßten, auch tatsachlich richtig war.

»Und die anderen?«

Den Blick auf die vier auf den Kreuzpunkten der Linien liegenden Steine gerichtet, antwortete sie mit leiser Stimme, die sich mit dem Prasseln des Regens vermischte. »Das sind die Beschützer.«

»Wen beschützen sie? Lord Rahl?«

»Nein, uns alle.«

In diesem Moment bemerkte er. wie ihr Tränen über die Wangen liefen.

»Bete dafür«, sagte sie leise, »daß ihre Zahl groß genug sein möge, da wir sonst allesamt dem Hüter in die Hände fallen.«

»Soll das heißen, es gibt nur diese vier, die uns beschützen?«

»Es gibt auch noch andere, aber von diesen vier hängt alles ab.«

Friedrich benetzte die Lippen; er war sehr besorgt um das Schicksal der vier Wächter, die es mit dem Hüter der Toten aufzunehmen hatten. »Weißt du, wer sie sind, Althea?«

Daraufhin drehte sie sich um, schlang ihre Arme um ihn und schmiegte ihre Wange an seine Brust. Er hätte sich kaum eine kindlichere Geste vorstellen können; sie rührte ihn zutiefst und erinnerte ihn schmerzlich daran, wie sehr er sie liebte. Behutsam legte er seine Arme schützend um sie und tröstete sie.

»Trägst du mich in meinen Sessel, Friedrich?«

Er nickte und nahm sie auf die Arme, während sie sich an seinem Hals festhielt; eine Frau, die so mächtig war, daß sie mitten im Winter ein warmes und regengepeitschtes Sumpfgebiet um sich herum erzwingen konnte, und doch mußte sie sich von ihm in ihren Sessel tragen lassen, von ihm, Friedrich, einem ganz gewöhnlichen Mann, den sie liebte – einem Mann, der nicht mit der Gabe gesegnet war.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Althea.«

Ihre Arme schlossen sich fester um seinen Hals.

»Einer dieser vier beschützenden Steine«, sagte sie leise, »bin ich.«

Friedrich musterte mit großen Augen noch einmal die Huldigung mit den darauf verstreuten Steinen. Sein Unterkiefer klappte herunter, als er sah, daß einer der vier Steine zu Asche zerfallen war.

Sie brauchte gar nicht hinzusehen. »Einer der anderen war meine Schwester«, erklärte Althea. Er spürte, wie sie in seinen Armen vor Kummer zu schluchzen begann. »Jetzt sind es nur noch drei.«

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