31

Steif und durchgefroren nach der kalten Nacht auf nacktem Boden, wachte Jennsen auf, als der erste matt rosafarbene Schimmer den Himmel verfärbte, im Westen war der Himmel noch mit Sternen übersät. Sie hatte kaum ein Auge zugetan und hätte gern noch ein wenig länger geschlafen, aber sie konnten es sich nicht leisten, liegen zu bleiben. Hier im offenen Gelände überrascht zu werden, wo man sie über Meilen hinweg ausmachen konnte, hätte ohne Zweifel verhängnisvolle Folgen.

Das Erste, was sie sah, als Jennsen ihre Arme über den Kopf streckte, war die sich vor der zarten Röte des östlichen Himmels schwarz abhebende Silhouette des Felsplateaus. Der Palast des Volkes begann vor ihren Augen im Gegenlicht der ersten goldenen Strahlen der noch hinter dem Horizont verborgenen Morgensonne von den Rändern her zu leuchten. Als sie so dastand und den Palast betrachtete, überkam Jennsen ein seltsam sehnsüchtiges Gefühl. Dies war ihre Heimat. Wie gern hätte sie ein stärkeres Gefühl dafür bekommen, wo sie hingehörte.

Aus Angst vor der noch immer großen Nähe zum Palast und Zauberer Rahl suchten sie rasch ihre Habseligkeiten zusammen und sattelten ihre Pferde. Es war ein scheußliches Gefühl, auf einen eiskalten Sattel klettern zu müssen. Jennsen breitete eine Decke über ihren Schoß, damit Rustys Körperwärme ihr half, warm zu werden. Sie tätschelte und streichelte den Hals des Pferdes, aus Zuneigung, aber auch, um ihre Finger zu wärmen. Rustys Körperwärme würde auch verhindern, daß ihre zweite, in ihr Bettzeug eingewickelte und hinter dem Sattel festgebundene Fleischpastete, gefror.

Sie ritten forsch und ließen ihre Pferde nur gelegentlich im Schritt gehen, um ihnen eine Verschnaufpause zu gönnen; ihre Mühe wurde belohnt, als das Gelände im weiteren Verlauf des Tages die ersten Anzeichen aufzuweisen begann, daß sie sich dem Rand der AzrithEbene näherten. Sie hatten es sich zum Ziel gemacht, in der den westlichen Horizont säumenden Gebirgskette unterzutauchen. Sehr zu ihrer Erleichterung ließ die ungehinderte Sicht zurück über die gesamte Ebene bislang noch keine Verfolger erkennen.

Am späten Nachmittag gelangten sie in ein Gebiet aus flachen Hügeln, Senken, mit spärlicher Vegetation und verkrüppelten Bäumen. Die ausgehungerten Pferde rupften im Vorübergehen am dornigen Gestrüpp und den dicken Büscheln vertrockneter Gräser, und obwohl die Tiere eine Trense im Maul hatten, brachte Jennsen es nicht übers Herz, ihnen einen Bissen zu verwehren. Sie war selbst hungrig; dank der Fleischpasteten hatten sie zwar ausgezeichnet gefrühstückt, aber eine neuerliche Portion wäre mittlerweile durchaus willkommen gewesen.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Ausläufer des eigentlichen Gebirges, die in schrofferes Gelände hinaufführten, wo sie schließlich im Schutz eines zu Tage tretenden Felsens ihr Lager aufschlugen. Am Fuß einer glatt abgesprengten Felswand entdeckte Jennsen eine Stelle, wo sie vor dem Wind geschützt waren und es genug Grün für die Pferde gab, um zu grasen. Kaum waren die Pferde abgesattelt, begannen sie auch schon gierig an den Büscheln zu knabbern.

Jennsen packte einen Teil ihrer Ausrüstung und der Vorräte aus, während Sebastian sich auf die Suche machte und die Überreste einiger verkrüppelter, längst abgestorbener und zu silbrigem Grau vertrockneter Baume heranschaffte. Er zerhackte das trockene Holz mit seiner Streitaxt und richtete dicht an der Felswand, wo es nicht ohne Weiteres gesehen werden konnte, ein Feuer an. Während sie darauf wartete, daß das Feuer endlich Wärme spendete, legte er ihr eine Decke um die Schultern. Vor dem Feuer hockend, Sebastian unmittelbar neben sich, spießte Jennsen gepökeltes Schweinefleisch auf kleine Spieße, die sie über die Steine legte, damit das Fleisch über den Flammen garen konnte.

»War es schwierig, bis zu Altheas Haus zu gelangen?«, brach er endlich das Schweigen.

Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie, ganz von den Geschehnissen in Anspruch genommen, kaum etwas über die Dinge erzählt hatte, die sich während seiner Gefangenschaft zugetragen hatten.

»Ich mußte durch einen Sumpf, aber ich hab’s geschafft.«

Im Grunde genommen widerstrebte es ihr, sich über ihre Schwierigkeiten zu beklagen, über ihre Ängste, ihren Kampf mit der Schlange und daß sie fast ertrunken wäre. Das alles gehörte der Vergangenheit an – sie hatte überlebt. Sebastian hatte während dieser ganzen Zeit mit dem Bewußtsein im Gefängnis gesessen, jeden Augenblick getötet oder gefoltert werden zu können. Althea war für immer im Sumpf gefangen. Anderen erging es weit schlechter als ihr.

»Ein Sumpf, das klingt wunderbar, muß angenehmer gewesen sein als diese scheußliche Kälte. So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht erlebt.«

»Soll das heißen, dort, wo Ihr herkommt, in der Alten Welt, wird es niemals kalt?«

»Nein. Sicher, im Winter gibt es manchmal Kälteperioden – natürlich nicht so wie hier – und manchmal regnet es auch, aber diesen verheerenden Schnee und die elende Kälte wie in der Neuen Welt kennen wir bei uns nicht. Ich weiß wirklich nicht, warum jemand den Wunsch verspüren sollte, hierzu leben.«

Ein Winter ohne Schnee und Kälte war eine erschreckende Vorstellung für sie; schon allein der Gedanke bereitete ihr größte Schwierigkeiten.

»Wo sollten wir sonst leben? Wir haben keine andere Wahl.«

»Vermutlich«, räumte er seufzend ein.

»Der Winter geht vorüber, und bevor Ihr Euch recht verseht, ist es schon wieder Frühling, Ihr werdet sehen.«

»Hoffentlich. Da wäre ich ja noch lieber an diesem Ort, den Ihr irgendwann einmal erwähnt habt, dem Glutofen des Hüters, als hier in dieser zu Eis erstarrten Ödnis.«

Jennsen runzelte die Stirn. »Den Ort, den ich einmal erwähnt habe? Ich habe nie von einem Ort gesprochen, der Glutofen des Hüters genannt wird.«

»Doch, habt Ihr, ganz bestimmt.« Sebastian schob die Scheite mit seinem Schwert zusammen, damit das Feuer auflodern konnte. Funken stoben in die Dunkelheit. »Es ist noch gar nicht lange her, im Palast.«

Jennsen streckte die Hände vor, um ihre Finger in der strahlenden Hitze zu wärmen. »Daran erinnere ich mich gar nicht.«

»Ihr sagtet, Althea sei dort gewesen.«

»Wo?«

»Bei den Säulen der Schöpfung.«

Jennsen zog ihre Hände wieder unter ihren Umhang und starrte ihn entgeistert an. »Nein, das habe ich nie behauptet. Sie meinte damit etwas völlig anderes – keinen Ort, den sie einmal aufgesucht hat.«

»Und was hat sie dann damit gemeint?«

Jennsen tat die Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Das war nur leeres Gerede; es ist unwichtig.« Sie strich sich eine rote Haarlocke aus dem Gesicht. »Die Säulen der Schöpfung sind ein Ort?«

Er nickte. »Ich sagte es bereits, der Glutofen des Hüters.«

Sie verschränkte gereizt die Arme. »Und was soll das heißen?«

Verwirrt über ihren Tonfall sah er auf. »Ihr wißt schon, heiß eben. Wie wenn man sagt, ›Heute ist es so heiß wie im Glutofen des Hüters.‹ Deswegen nennen die Leute diesen Ort manchmal so, sein richtiger Name aber lautet die Säulen der Schöpfung.«

»Und dort seid Ihr gewesen?«

»Ihr scherzt wohl? Ich kenne nicht mal jemanden, der dort gewesen ist. Die Menschen haben Angst vor diesem Ort. Manche glauben, daß er bereits zum Einflußbereich des Hüters gehört und es dort nichts als Tod und Verderben gibt.«

»Wo liegt er?«

Er wies mit seinem Schwert Richtung Süden. »In einer verlassenen Gegend unten in der Alten Welt. Ihr wißt ja, wie das ist – abgelegene Orte wecken in den Menschen oft abergläubische Gedanken.«

Jennsen richtete den Blick wieder in die Flammen und versuchte, dies alles in ihrem Kopf in Einklang zu bringen. Irgend etwas an der Geschichte schien nicht recht zu stimmen, irgend etwas daran beunruhigte sie.

»Wieso wird er so genannt? Die Säulen der Schöpfung?«

Abermals irritiert über ihren Ton, zuckte Sebastian mit den Achseln. »Das sagte ich doch schon, es handelt sich um einen verlassenen Ort, an dem es heiß ist wie im Glutofen des Hüters, und dem die Menschen eben wegen dieser Hitze diesen Namen gegeben haben. Und was den richtigen Namen anbetrifft...«

»Wenn niemand dort hingeht, wieso ist dann so viel über diesen Ort bekannt?«

»Natürlich sind im Laufe der Zeit einige Leute dorthin gekommen, oder besser, in seine Nähe, die wieder anderen dann davon berichtet haben. So etwas spricht sich rum, das Wissen mehrt sich. Er liegt in einer Gegend ganz ähnlich der Ebene hier...«

»Der Azrith-Ebene?«

»Ja, die Gegend ist ebenso menschenleer wie die Azrith-Ebene, nur sehr viel weitläufiger. Außerdem herrscht dort ständig eine große Hitze, Trockenheit sowie eine geradezu mörderische Hitze. Nur ein paar Handelsstraßen streifen diese Gegend an ihrem äußersten, unfruchtbaren Rand. Ohne angemessene Kleidung, die einen gegen die glühende Sonne und den brennenden Wind schützt, würde man in kürzester Zeit bei lebendigem Leib verdorren. Und ohne ausreichende Wasservorräte überlebt man dort erst recht nicht lange.«

»Und dieser Ort wird Säulen der Schöpfung genannt?«

»Nein, das ist nur das Gebiet, das man vorher durchqueren muß. Ungefähr in der Mitte dieses endlosen weiten Landes gibt es angeblich eine Senke, ein weites Tal, in dem es noch viel heißer ist – mörderisch heiß, heiß wie im Glutofen des Hüters eben. Das sind die Säulen der Schöpfung.«

»Aber warum wird der Ort so genannt?«

Sebastian schob mit seinem Stiefel etwas Sand zusammen, um zu verhindern, daß die rot glühenden Holzstücke, die von den Scheiten in die flirrende Hitze fielen, sich überall verteilten. »Es heißt, unterhalb der Klippen, unterhalb der umliegenden zerklüfteten Felswände und Steilhänge, tief unten inmitten des weiten Tals, stünden gewaltige Felsensäulen. Diese in den Himmel ragenden Gesteinsformationen haben dem Ort seinen Namen gegeben.«

Jennsen wendete die Spieße mit dem Pökelfleisch. »Das wäre durchaus passend, Säulen aus Stein.«

»Ganz ähnliche Felsensäulen habe ich auch schon woanders gesehen; dort hatten sich die Steine wie in einem durcheinander geratenen Stapel Münzen übereinandergeschichtet. Es heißt, diese hier seien besonders ungewöhnlich, so als reckte sich die Welt aus Ehrfurcht vor dem Schöpfer dem Himmel entgegen, weshalb manche diesen Ort für heilig halten. Nun herrscht dort aber eine lebensbedrohliche Hitze; während einige also vom Glutofen des Schöpfers sprechen, bringen ihn andere mit dem Hüter in Verbindung – und nennen ihn eben Glutofen des Hüters. Aber auch von der Hitze abgesehen gibt es genug Gründe, diesen Ort zu fürchten, denn für viele ist es ein Ort der Kämpfe und Auseinandersetzungen mit dem Jenseits, in die man sich besser nicht einmischt.«

»Schöpfung und Zerstörung – Leben und Tod –, das alles vereint an einem einzigen Ort?«

Der Schein des Feuers tanzte in seinen Augen, als er zu ihr hinübersah. »So erzählt man sich.«

»Wollt Ihr damit andeuten, manche Menschen glauben, an diesem Ort versuche der Tod die Welt des Lebens zu vernichten?«

»Der Tod hat es immer auf die Lebenden abgesehen. Bruder Narev lehrt, daß es das Böse im Menschen selbst ist, das dem Schatten des Hüters gleich die Welt verdunkelt. Geben wir dem Bösen nach, verleihen wir ihm damit in der Welt des Lebens Macht; das versetzt den Hüter in den Stand, die Säulen der Schöpfung umzustürzen, was wiederum das Ende der Welt bedeuten würde.«

Seine Worte ließen Jennsen bis ins Mark frösteln, so als hatte die kalte Hand des Todes sie gestreift. Es mochte durchaus typisch sein für eine Hexenmeisterin, mit geschickten Wortverdrehungen ihr Spiel zu treiben. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, daß Hexenmeisterinnen einem nie verrieten, was sie tatsachlich wußten, und wichtige Dinge oftmals für sich behielten.

Aber was hatte Althea wirklich damit beabsichtigt, als sie Jennsen ganz beiläufig als »Säule der Schöpfung« bezeichnete? Obwohl Jennsen es nicht verstand, schien jetzt kein Zweifel mehr zu bestehen, daß Althea insgeheim einen bestimmten Zweck damit verfolgt hatte, ihr diesen Namen in den Kopf zu setzen.

»Und was war nun mit Althea? Wieso konnte sie Euch nicht helfen?«

Seine Stimme riß Jennsen aus ihren Überlegungen. Sie sah, daß die kleinen Spieße mit dem Pökelfleisch noch weiter garen mußten, drehte sie um und überlegte währenddessen, wie sich seine Frage möglichst einfach beantworten ließe.

»Sie erklärte mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, hätte sie mir schon einmal geholfen. Darken Rahl kam dahinter und machte sie deswegen zum Krüppel. Außerdem entstellte er ihre Gabe, so daß sie ihre eigene Magie nicht mehr benutzen kann. Sie hätte also selbst dann keinen Bann mehr für mich sprechen können, wenn sie gewollt hätte.«

»Vielleicht hat Darken Rahl damit, ohne es zu wissen, das Werk des Schöpfers getan.«

Jennsen runzelte erstaunt die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Die Imperiale Ordnung hat es sich zum Ziel gesetzt, die Magie in der Welt auszumerzen. Bruder Narev sagt, auf diese Weise verrichten wir das Werk des Schöpfers, denn Magie ist böse.«

»Und wie denkt Ihr darüber? Glaubt Ihr wirklich, die Gabe des Schöpfers könnte böse sein?«

»Wozu wird Magie denn benutzt?« Er maß sie unter halb geöffneten Lidern mit einem Blick, dem seine Verärgerung deutlich anzusehen war. »Wird sie dazu benutzt, Menschen – den Kindern des Schöpfers – in diesem Leben beizustehen? Nein. Sie wird ausschließlich aus eigennützigen Motiven eingesetzt. Seht Euch doch nur das Haus Rahl an. Seit Tausenden von Jahren bedient man sich dort der Gabe, um die Herrschaft über D’Hara auszuüben. Und wie sah diese Herrschaft aus? Hat sie den Menschen dort jemals geholfen oder genützt? Oder war es stets nur eine Herrschaft der Folter und des Todes?«

Die letzte Bemerkung war nicht etwa eine Frage, sondern eine Feststellung, zudem eine, der Jennsen schlecht widersprechen konnte.

»Vielleicht«, fügte Sebastian hinzu, »hat der Schöpfer durch Darken Rahl bewirkt, daß der Makel der Magie von Althea genommen und sie gnädigerweise von ihm befreit wurde.«

Jennsen stützte ihr Kinn auf die Knie und beobachtete das brutzelnde Fleisch. Althea hatte gesagt, ihr sei nur die Gabe der Prophezeiung geblieben, und sich beklagt, diese sei nichts als eine Qual.

Ihre Mutter hatte ihr beigebracht eine Huldigung zu zeichnen, und ihr erklärt, die Gabe sei ein Geschenk des Schöpfers. In den richtigen Händen war eine Huldigung Magie. Obwohl Jennsen selbst keine magischen Kräfte besaß, hatte das magische Symbol sie bei mehreren Gelegenheiten beschützt. Sie wußte zwar, daß Menschen im Stande waren, Böses zu tun, trotzdem behagte ihr die Vorstellung nicht, daß die Gabe schlecht sein sollte.

Behutsam versuchte sie sich dem Thema von einer anderen Seite her zu nähern. »Ihr sagtet, Kaiser Jagang habe Hexenmeisterinnen in seinen Reihen, die Schwestern des Lichts, die mir vielleicht helfen könnten. Sie benutzen doch ebenfalls Magie. Wenn aber Magie böse ist...«

»Sie bedienen sich der Magie für die Erreichung unseres Ziels, damit die Magie eines Tages in der ganzen Welt ausgemerzt werden kann.«

»Wie soll das einen Sinn ergeben? Wenn Ihr tatsächlich überzeugt seid, daß Magie böse ist, wieso kommt Ihr dann auf die Idee. Euch mit etwas zu verbünden, das Ihr in aller Öffentlichkeit als böse brandmarkt?«

Als sie ihm einen der Spieße hinhielt, begutachtete Sebastian das Pökelfleisch, ehe er mit der Spitze seines Messers ein Stück herunterzog. Er fuchtelte ihr mit dem Messer vor dem Gesicht herum.

»Die Menschen bringen sich mit Messern und Schwertern gegenseitig um. Wollten wir diese Waffen ausmerzen, mit dem Ziel, dem Morden ein Ende zu machen, wäre dies mit Worten allein wohl kaum zu schaffen. Wir müßten den Menschen ihre Messer und Schwerter mit Gewalt wegnehmen, um dem Wahnsinn der Gewalt zum Wohle aller Einhalt zu gebieten. Die Menschen sind nicht bereit, das Böse so ohne Weiteres aufzugeben. Im Kampf um die Erlösung der Welt von diesem Übel waren wir geradezu gezwungen, Messer und Schwerter zu benutzen. Dann erst würde die Welt ihren Frieden finden. Gabe es diese Mordwerkzeuge nicht mehr würden die Leidenschaften der Menschen abkühlen und der Hüter würde aus den Herzen der Menschen fliehen.«

Jennsen schnitt sich ein brutzelndes Stück Fleisch ab und blies darauf, um es ein wenig abzukühlen. »Und deshalb bedient Ihr Euch auf diese Weise der Magie?«

»So ist es.« Sebastian kaute und ließ ein anerkennendes Brummen über den Geschmack vernehmen, bevor er das Stück hinunterschluckte und fortfuhr. »Wir wollen das Übel der Magie ausmerzen, müssen uns in diesem Kampf aber der Magie bedienen, da sonst das Böse obsiegen würde.«

Jennsen biß ein saftiges Stück Fleisch ab und pflichtete seiner Ansicht über den Geschmack mit einem zufriedenen Stöhnen bei. Es war herrlich, etwas Warmes in den Magen zu bekommen.

»Und sind Bruder Narev und Kaiser Jagang auch der Meinung, daß Messer und Schwerter schlecht sind?«

»Selbstverständlich, denn ihr einziger Zweck besteht im Verstümmeln und Morden; natürlich sprechen wir hier nicht von Werkzeugen wie Brotmessern und Ähnlichem, aber Waffen sind zweifellos von Übel. Eines Tages werden die Menschen jedoch von dieser Geißel befreit sein, und die Plage des Mordens und Tötens wird der Vergangenheit angehören.«

»Wollt Ihr damit sagen, daß nicht einmal mehr Soldaten Waffen tragen werden?«

»Nein, zur Verteidigung eines freien und friedliebenden Volkes werden Soldaten immer bewaffnet sein müssen.«

»Aber wie können die Menschen sich selbst schützen?«

»Wovor denn?«

Jennsen neigte tadelnd den Kopf in seine Richtung. »Ohne das Messer, das ich bei mir trage, hätten die Soldaten mich ohne Weiteres zusammen mit meiner Mutter töten können.«

»Diese Soldaten waren böse, unsere dagegen kämpfen nur für das Gute, für den Schutz und die Sicherheit des Volkes und nicht, um es zu unterwerfen. Wir werden die d’Haranischen Streitkräfte vernichtend schlagen, und dann wird Friede herrschen.«

»Aber selbst wenn ...«

Er beugte sich zu ihr. »Begreift Ihr denn nicht? Ist die Magie erst einmal ausgemerzt, werden schon bald keine Waffen mehr erforderlich sein. Es sind die fehlgeleiteten leidenschaftlichen Gefühle der Menschen, die zur tödlichen Gefahr werden, solange ihnen Waffen zur Verfügung stehen, mit denen sie Mord und Totschlag begehen können.«

»Soldaten haben auch leidenschaftliche Gefühle.«

Er tat den Gedanken mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Nicht, wenn sie entsprechend ausgebildet sind und unter der Aufsicht rechtschaffener Offiziere stehen.«

Jennsen blickte in den funkelnden Sternenhimmel. Seine Vorstellung von einer idealen Welt klang zweifellos verlockend. Aber wenn es tatsächlich stimmte, was er sagte, diente die Magie, so wie diese Leute sie einsetzten, einem guten Zweck, was wiederum bedeutete, daß sie weder gut noch schlecht sein konnte; vielmehr würde der moralische Wert einer Handlung, genau wie im Fall ihres Messers, von der Absicht der Person bestimmt, die sich der Magie bediente, und nicht von der Magie selbst. Doch diesen Gedanken behielt sie für sich und stellte statt dessen eine weitere Frage.

»Wie sähe eine Welt ohne Magie aus?«

Ein Lächeln verklärte Sebastians Züge. »Alle Menschen wären gleich; niemand besäße mehr einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber anderen.« Er spießte noch ein Stück Fleisch auf. »Die Menschen würden alle Hand in Hand arbeiten, denn es gäbe keine Unterschiede mehr. Der ungerechte Einsatz von Magie wäre verboten, und es wäre unmöglich, seine Mitmenschen auszunutzen. Ihr, zum Beispiel, wäret frei, Euer Leben zu leben, ohne daß Lord Rahl Euch mit seiner Magie verfolgt.«

Althea hatte ihr erzählt, Richard Rahl sei von Geburt an mit Kräften der Gabe ausgestattet gewesen, wie sie viele Jahrtausende lang nicht beobachtet worden waren. Schließlich war er ihr näher gekommen, als Darken Rahl dies jemals gelungen war, und er hatte die Männer beauftragt, die ihre Mutter ermordet hatten. Althea hatte andererseits aber auch behauptet, Jennsen sei für die mit der Gabe Gesegneten eine Lücke in der Welt; Lord Rahl könne sie zwar verfolgen, aber nicht mit Mitteln der Magie.

»Ihr werdet nie in Freiheit leben können, solange Ihr Richard Rahl nicht beseitigt.«

Sie sah ihn an. »Warum eigentlich ich? Wieso sprecht Ihr ausgerechnet jetzt, da so viele gegen ihn kämpfen, davon, ich müsse ihn ausschalten?«

Sie hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, als ihr bereits die erschreckende Antwort dämmerte.

»Nun«, meinte er, sich zurücklehnend, »ich denke, was ich wirklich damit sagen wollte, war, daß Ihr nicht frei sein werdet, solange Lord Rahl nicht beseitigt ist.«

Er drehte ihr den Rücken zu, um einen Wasserschlauch heranzuziehen. Sie schaute zu, wie er einen kräftigen Schluck trank, dann wechselte sie das Thema.

»Captain Lerner meinte, Lord Rahl sei verheiratet.«

»Mit der Mutter Konfessor«, bestätigte Sebastian. »Falls Richard Rahl die Absicht hatte, eine Frau zu finden, die ihm an Schlechtigkeit das Wasser reichen kann, dann hat er sie gefunden.«

»Ihr wißt also etwas über sie?«

»Nur das wenige, das ich von Kaiser Jagang gehört habe. Wenn Ihr wollt, kann ich es Euch gern erzählen.«

Jennsen nickte. Sie zog noch ein Stück Pökelfleisch mit Daumen und Zeigefinger von einem Spieß und verspeiste es, während sie dem Flackern des Feuerscheins in seinen Augen zusah, als er antwortete.

»Die Barriere zwischen der Alten Welt im Süden und der Neuen Welt im Norden hatte jahrtausendelang Bestand – bis Lord Rahl sie zerstörte, um unser Volk zu unterwerfen. Vermutlich nicht lange vor der Geburt Eurer Mutter wurde die Neue Welt schließlich selbst in drei Länder aufgeteilt; ganz im Westen entstand Westland, im Osten liegt D’Hara. Nach der Ermordung seines Vaters und der Machtübernahme zerstörte Richard Rahl dann die Grenzen, die diese drei Länder der Neuen Welt voneinander trennten.

Zwischen Westland und D’Hara liegen die Midlands, eine üble Gegend, wo angeblich die Magie vorherrscht und der Wohnsitz der Konfessoren liegt. Die Midlands werden von der Mutter Konfessor persönlich regiert. Kaiser Jagang erklärte mir, trotz ihrer jungen Jahre – sie dürfte etwa mein Alter haben – sei sie ebenso tödlich wie gerissen.«

Seine entmutigenden Ausführungen gaben Jennsen zu denken. »Wißt Ihr, was das ist, Konfessor? Was bedeutet dieser Titel?«

»Ich weiß nur daß sie mit furchterregenden Kräften ausgestattet ist. Eine bloße Berührung von ihr vermag den Verstand eines Mannes zu zerstören und ihn in einen willenlosen Sklaven zu verwandeln.«

Jennsen, schockiert über die Vorstellung, lauschte gespannt. »Und er tut tatsächlich alles, was sie von ihm verlangt – nur aufgrund einer simplen Berührung?«

Sebastian reichte ihr den Wasserschlauch. »Einer Berührung mit ihrer verdorbenen Magie. Kaiser Jagang erklärte mir, ihre Magie sei so unvorstellbar mächtig, daß sie einen auf diese Weise zum Sklaven gemachten Mann nur aufzufordern braucht, auf der Stelle zu sterben, und schon tut er es.«

»Soll das heißen ... er bringt sich vor ihren Augen um?«

»Nein. Ich will damit sagen, daß er auf ihren Befehl hin ganz einfach tot zusammenbricht. Vermutlich setzt sein Herz aus oder so. Er bricht einfach zusammen und stirbt.«

Jennsen fand die bloße Vorstellung so erschreckend, daß sie den Wasserschlauch zur Seite legte und sich in ihre Decke hüllte. Sie war hundemüde, außerdem war sie der ständig neuen Schreckensmeldungen über Lord Rahl überdrüssig. Jede neue Information schien die vorherige an Entsetzlichkeit zu übertreffen. Offenbar hatte ihr Halbbruder, dieses Ungetüm, nach der Ermordung ihres gemeinsamen Vaters keinen Augenblick gezögert, die Familientradition weiterzuführen und Jagd auf sie zu machen.

Nachdem sie gegessen und die Pferde versorgt hatten, rollte Jennsen sich unter einer Decke und ihrem Umhang zusammen. Da sie ein Feuer gemacht hatten, schlief Sebastian nicht mit dem Rücken an sie geschmiegt; sie vermißte diese beruhigende Geste. Ständig schoß ihr eine Flut beängstigender Gedanken durch den Kopf, so daß sie mit großen Augen in die Flammen starrte, während Sebastian einschlief.

Sie dachte lange über Sebastians Worte nach – daß sie niemals frei sein werde, solange sie Lord Rahl nicht beseitigte. Irgendwann später beobachtete Jennsen Sebastian im Schlaf. Er war völlig unerwartet in ihr Leben getreten und hatte ihr das Leben gerettet. Bei ihrer ersten Begegnung, oder auch an jenem ersten Abend, als sie ihm, nach dem Zeichnen der Huldigung am Höhleneingang, über das Feuer hinweg in die Augen gesehen hatte, hatte sie sich niemals vorstellen können, daß er sie eines Tages küssen würde.

Sein weißes Stoppelhaar schimmerte mattgolden im Schein des Feuers.

Was würde ihnen noch beschieden sein? Die Antwort darauf wußte sie nicht. Sie wußte auch nicht, was der Kuß bedeutet hatte und was daraus entstehen konnte – wenn überhaupt. Und sie war nicht einmal sicher, ob sie das überhaupt wollte – oder er. Sie befürchtete, daß ihm überhaupt nichts daran lag.

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