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Zu viert machten sie sich auf und marschierten den Pfad entlang, während Friedrich über die äußerst beunruhigende Tatsache nachsann, daß der Schleier zwischen der Welt des Lebens und dem Reich des Todes zerrissen worden war. Althea hatte sich in der letzten Phase ihres Lebens vorwiegend mit der Huldigung befaßt, die sie für ihre Weissagungen benutzte, daher war er über diesen Schleier bestens informiert. Sie hatte sich im Laufe der Jahre oft mit ihm darüber unterhalten und ihm vor allem kurz vor ihrem Tod noch einmal ausführlich dargelegt, zu welchen Überzeugungen sie mittlerweile bezüglich der Wechselwirkung zwischen den beiden Welten gelangt war.

»Lord Rahl«, meinte Friedrich schließlich, »ich glaube, was Ihr vorhin über den Riß im Schleier zwischen der Welt des Lebens und dem Reich der Toten sagtet, könnte sich durchaus mit dem Grund decken, weshalb Nathan es für so wichtig hielt, daß ich Euch dieses Buch bringe. Er will von Euch gar keine Hilfe – deswegen hat er mich nicht mit dem Buch hergeschickt –, es war vielmehr als Hilfe für Euch gedacht.«

Lord Rahl entfuhr ein höhnisches Lachen. »Genau. Exakt so dreht er es immer – daß er einem im Grunde nur helfen möchte.«

»Aber ich glaube, es geht um Eure Schwester.«

Alle blieben wie angewurzelt stehen.

»Ich habe eine Schwester?«, fragte Richard flüsternd.

»Aber ja, Lord Rahl«, erwiderte Friedrich, ganz überrascht, daß er nichts davon wußte. »Nun, eigentlich ist sie eher eine Halbschwester. Sie ist ebenfalls ein Nachkömmling Darken Rahls.«

Lord Rahl packte ihn am Arm. »Ich habe also tatsächlich eine Schwester? Könnt Ihr mir etwas über sie erzählen?«

»Na ja, ein wenig schon. Ich bin ihr sogar schon begegnet.«

»Wunderbar, Friedrich! Was ist sie für ein Mensch? Wie alt ist sie überhaupt?«

»Nur wenige Jahre jünger als Ihr, Lord Rahl. Anfang zwanzig, würde ich sagen.«

»Ist sie ein kluges Mädchen?«, erkundigte er sich grinsend.

»Klüger, als gut für sie ist, fürchte ich.«

Richard lachte vor Begeisterung. »Ich kann es gar nicht glauben! Ist das nicht großartig, Kahlan? Ich habe eine Schwester!«

»Ich kann daran nichts Großartiges finden«, brummte Cara mürrisch, bevor die Mutter Konfessor Gelegenheit hatte, darauf zu antworten. »Ganz und gar nichts Großartiges!«

»Wie könnt Ihr so etwas nur sagen, Cara?«, meinte die Mutter Konfessor tadelnd.

Cara beugte sich zu ihnen hinüber. »Muß ich Euch etwa an den Ärger erinnern, mit dem wir alle uns herumschlagen mußten, als Lord Rahls Bruder Drefan plötzlich auf der Bildfläche erschien?«

»Nein ...«, meinte Richard, dem die Erinnerung sichtlich Unbehagen bereitete.

Alles verfiel in Schweigen. »Was ist denn damals passiert?«, traute sich Friedrich schließlich zu fragen.

Er erschrak, als Cara ihn plötzlich am Kragen packte und ihn dicht vor ihre zornig funkelnden Augen zog. »Dieser Bankert Darken Rahls hatte die Mutter Konfessor um ein Haar getötet! Und Lord Rahl gleich mit! Mich hätte er auch fast umgebracht! Jedenfalls mußten seinetwegen eine ganze Menge anderer Menschen dran glauben; beinahe so ziemlich jeder. Ich hoffe, der Hüter der Toten hat ihn für alle Ewigkeit in ein finsteres, kaltes Loch gesperrt. Wenn Ihr wüßtet, was er der Mutter Konfessor angetan hat...«

»Es reicht, Cara«, meinte Kahlan mit ruhiger, beherrschter Stimme und legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie mit sanftem Nachdruck aufzufordern, Friedrichs Kragen loszulassen.

Cara fügte sich, in ihrer hitzigen Aufgebrachtheit allerdings nur äußerst widerstrebend. Friedrich konnte unschwer erkennen, wieso diese Frau die Bewacherin des Lord Rahl und der Mutter Konfessor war. Obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte, spürte er sogar im Dunkeln deutlich, daß sie ihn wie ein Falke beobachtete. Dank ihres scharfen Urteilsvermögens vermochte diese Frau bis auf den Grund der Seele eines Mannes zu blicken und sein Schicksal zu besiegeln. Sie besaß nicht nur die nötige Selbstsicherheit, sondern brachte auch die erforderlichen Fähigkeiten mit, eine einmal für richtig befundene Entscheidung durchzusetzen.

Friedrich wußte das, weil er im Palast des Volkes dieser Sorte Frauen oft begegnet war. Als sie ihre Hand unter dem Umhang hervorgezogen hatte, um ihn am Kragen zu packen, hatte er ihren Strafer an einem Kettchen am Handgelenk baumeln sehen. Sie war eine MordSith.

»Die Geschichte mit Eurem Halbbruder tut mir leid«, meinte Friedrich. »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß Jennsen Euch etwas Böses will.«

»Jennsen«. sagte er leise bei sich und prüfte dabei seine Reaktion auf den Namen dieses Menschen, von dessen Existenz er bisher nichts gewußt hatte.

»Um die Wahrheit zu sagen, Jennsen hat schreckliche Angst vor Euch, Lord Rahl.«

»Sie hat schreckliche Angst vor mir? Aber warum sollte sie sich vor mir fürchten?«

»Weil sie glaubt, daß Ihr sie verfolgt.«

Richard sah ihn verständnislos an. »Sie verfolgen? Wie hätte ich sie verfolgen können? Ich saß hier in der Alten Welt fest.«

»Sie glaubt, daß Ihr sie töten wollt und Soldaten auf sie angesetzt habt, die Jagd auf sie machen sollen.«

Einen Moment lang war er so verdutzt, daß es ihm die Sprache verschlug; jede Neuigkeit, die er erfuhr, schien noch unglaublicher zu sein als die vorhergehende. »Aber ... ich kenne sie doch nicht einmal. Warum sollte ich sie also töten wollen?«

»Weil sie nicht mit der Gabe gesegnet ist.«

Richard trat einen Schritt zurück und versuchte zu begreifen, was Friedrich ihm da erklärte. »Was spielt denn das für eine Rolle? Es gibt jede Menge Menschen, die nicht mit der Gabe gesegnet sind.«

Friedrich deutete auf das Buch in Richards Hand. »Ich denke, um das zu erklären, hat Nathan Euch das Buch geschickt.«

»Prophezeiungen erklären überhaupt nichts.«

»Nein, Lord Rahl. Ich glaube, hier geht es weniger um Prophezeiungen als vielmehr um die Frage des freien Willens. Ihr müßt wissen, daß ich durch meine Frau ein wenig über Prophezeiungen weiß. So wie Nathan es mir erklärte, sind Prophezeiungen abhängig von der Möglichkeit der freien Willensentscheidung; aus ebendiesem Grund reagiert Ihr mit so heftiger Ablehnung auf sie, denn Ihr seid ein Mann, der eine Ausgewogenheit herstellt zwischen dem freien Willen und der Magie der Prophezeiung. Er meinte, nicht etwa die Prophezeiungen hätten mich dazu bestimmt, Euch dieses Buch zu bringen, sondern ich müßte es aus freien Stücken tun.«

Richard starrte im Dunkeln auf das Buch; sein Ton wurde versöhnlicher. »Nathan kann manchmal eine ziemliche Plage sein, aber ich weiß, er ist ein Freund, der mir auch schon geholfen hat. Seine Hilfe hat mich gelegentlich in beträchtliche Schwierigkeiten gebracht, aber wenn ich auch mit seiner Handlungsweise nicht immer einverstanden bin, so weiß ich doch, daß er für sein Tun stets gute Gründe hat.«

»Ich habe den größten Teil meines Lebens eine Hexenmeisterin geliebt, Lord Rahl ich weiß, wie vielschichtig diese Dinge sein können. Und ich hätte diesen weiten Weg gewiß nicht auf mich genommen, wenn ich Nathan in diesem Punkt nicht glauben würde.«

Richard sah ihn einen Moment lang forschend an. »Hat Nathan gesagt, was in dem Buch steht?«

»Er erklärte mir, das Buch stamme aus der Zeit vor dem großen Krieg vor Tausenden von Jahren. Er habe es im Palast des Volkes gefunden, nach einer fieberhaften Suche unter den Tausenden von alten Bänden dort, und sei gleich anschließend damit zu mir gekommen, um mich zu bitten, es Euch zu bringen. Er meinte, die Angelegenheit sei so dringend, daß er nicht riskieren wollte, mit einer Übersetzung zusätzlich Zeit zu verlieren. Deswegen kannte er auch den Inhalt des Buches nicht.«

Richards Interesse an dem Buch schien beträchtlich gestiegen, als er es erneut betrachtete. »Nun, ich weiß nicht, wie viel es uns nützen wird, die Hunde haben es ziemlich stark beschädigt. Ich fürchte, allmählich begreife ich auch, warum.«

»Kannst du wenigstens entziffern, was auf dem Einband steht, Richard?«, fragte Kahlan.

»Ich habe es gerade lange genug im Hellen gesehen, um zu erkennen, daß es auf Hoch-D’Haran geschrieben ist, aber nicht versucht, es zu übersetzen; dort steht irgend etwas über Schöpfung.«

»Ganz recht, Lord Rahl. Das ist der Titel, den mir auch Nathan nannte.« Friedrich tippte auf das Buch. »Hier auf dem Einband steht Die Säulen der Schöpfung, in vergoldeten Lettern.«

»Großartig«, murmelte Richard, dem der Titel offenbar in unguter Erinnerung war. »Also schön, sehen wir zu, daß wir ein sicheres Plätzchen finden und dort unser Lager aufschlagen. Ich möchte nicht, daß die Herzhunde uns im Dunkeln unter freiem Himmel überraschen. Wir werden ein kleines Feuer machen; vielleicht kann ich herausfinden, ob das Buch uns etwas Nützliches mitzuteilen hat.«

»Dann sind Euch diese Säulen der Schöpfung bekannt?«, fragte Friedrich, den dreien hinterhergehend, die bereits wieder losmarschiert waren.

»Allerdings«, meinte Richard über die Schulter; seine Stimme klang besorgt. »Ich habe schon von ihnen gehört. Nathan stammt aus der Alten Welt, ich nehme also an, daß er sie ebenfalls kennt.«

Friedrich kratzte sich verwirrt am Kinn, als sie eine kleine Anhöhe auf dem Pfad erreichten. »Was haben die Säulen der Schöpfung mit der Alten Welt zu tun?«

»Diese Säulen der Schöpfung befinden sich inmitten einer menschenleeren Ödnis.« Richard wies nach vorne, Richtung Süden. »Sie befindet sich gar nicht mal so weit von hier, ungefähr in dieser Richtung. Wir sind vor kurzem daran vorbeigekommen, denn wir waren gezwungen, sie ganz am äußersten Rand zu durchqueren, weil uns ein paar ziemlich unangenehme Leute auf den Fersen waren.«

»Jetzt bleichen ihre verdammten Knochen dort in der Sonne«, warf Cara mit unverhohlener Freude ein.

»Leider«, fuhr Richard fort, »sind dabei auch unsere Pferde draufgegangen, deswegen sind wir zu Fuß unterwegs. Aber wenigstens sind wir mit dem Leben davongekommen.«

»Eine Ödnis ... aber Lord Rahl, nach Aussage meiner Frau handelt es sich dabei auch um ...«

Friedrich unterbrach sich, als ein neben dem Pfad liegender Gegenstand seine Aufmerksamkeit erregte. Selbst in dem dämmrigen Licht ließen ihn die gespenstisch vertrauten dunklen Umrisse, die sich gegen die helle Farbe des staubigen Pfades abzeichneten, jäh stehen bleiben.

Er ging in die Hocke, um ihn mit den Fingern zu berühren. Zu seiner Überraschung fühlte er sich genau so an, wie er vermutet hatte. Als er ihn aufhob, war er vollends sicher. Es wies dieselbe gewellte, mit einer Zugschnur zu verschließende Öffnung auf, dieselbe Kerbe im weichen Leder, wo ihm in der Eile ein scharfer Holzmeißel abgerutscht war.

»Was ist?«, fragte Richard argwöhnisch und ließ den Blick suchend über die in nahezu vollkommener Dunkelheit daliegende Landschaft schweifen. »Warum habt Ihr angehalten?«

»Habt Ihr etwas gefunden?«, fragte Kahlan. »Als ich an der Stelle vorbeikam, ist mir nichts aufgefallen.«

»Mir auch nicht«, bestätigte Richard.

Friedrich schluckte, als er ihnen den Lederbeutel zeigte. Er schien Münzen zu enthalten, und dem Gewicht nach waren sie aus Gold.

»Der gehört mir«, meinte Friedrich leise, völlig baff vor Staunen. »Wie ist es möglich, daß er hier liegt?«

Er konnte schlecht behaupten, daß das Gold ihm gehörte, obwohl es durchaus möglich war, den Beutel selbst aber hatte er jahrzehntelang beinahe jeden Tag in der Hand gehabt. Er hatte eines seiner Werkzeuge darin aufbewahrt – einen kleinen Hohlmeißel, den er oft benutzte.

»Ja, wie mag er nur hierher gekommen sein?«, meinte Cara, während sie den Blick suchend über das umliegende Gelände schweifen ließ. Sie hielt ihren Strafer fest mit der Faust umklammert.

Friedrich erhob sich wieder, den Blick noch immer verwundert auf seinen Werkzeugbeutel gerichtet. »Ich glaube, er wurde von dem Mann gestohlen, der auch für den Tod meiner Frau verantwortlich ist.«

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