An die Wurzeln geklammert, versuchte Jennsen unter Aufbietung aller Kräfte von der Schlange loszukommen. In panischer Angst langte sie hinter sich und versuchte, sich irgendwo anders festzuhalten; sie streckte die Hand aus, reckte sich erneut und bekam erst mit der einen, dann mit der anderen Hand eine dicke Wurzel zu fassen – gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß sie unter Wasser gezogen wurde.
Der mit grünlich schillernden Schuppen bedeckte Körper der Schlange schimmerte im dämmrigen Licht, sobald sich die Muskeln ihres kräftigen Leibes spannten; schwarze, über ihre grimmigen Augen nach hinten verlaufende Streifen bewirkten, daß sie aussah, als trüge sie eine Maske. Mit vorschnellender Zunge schob sich der dunkelgrüne Kopf zwischen Jennsens Brüsten hindurch bis unmittelbar vor ihr Gesicht, doch sie stieß ihn mit einem Aufschrei zur Seite. Als Antwort wand sich der kräftige Körper, zog sich zusammen, packte sie fester, um sie hinauszuziehen in tieferes Wasser. Jennsens Fingerspitzen krallten sich um die Wurzeln, und mit letzter Kraft versuchte sie, sich aus dem Wasser zu ziehen, doch die Schlange war viel zu schwer und auch zu kräftig.
Ihr Messer! Um an das Messer heranzukommen, müßte sie allerdings die Wurzeln loslassen. Und wenn sie losließe, würde das Ungetüm sie in den schwarzen Fluten unter Wasser ziehen und sie ertränken.
Und dann tauchte der gräßliche Kopf der Schlange aus dem Wasser auf! Mit dem Mut der Verzweiflung ließ Jennsen ihre rechte Hand los und zwängte sie unter ihren Umhang. Der nasse Stoff schob sich zusammen; sie zog den Bauch ein und versuchte ihre Finger unter die Schlange zu zwängen, doch der massige Leib legte sich mit lähmender Kraft der Länge nach um ihren Körper und verhinderte somit endgültig, daß sie unter ihren Umhang greifen konnte, um an ihr Messer zu gelangen.
Während sie es wie von Sinnen dennoch versuchte, ging plötzlich ein Ruck durch die Schlange; Jennsen hielt die Wurzel hinter sich immer noch mit einer Hand fest umklammert, mittlerweile drohte jedoch das Gewicht des Tieres ihr den Arm aus dem Gelenk zu reißen, wenn sie nicht losließ. Loslassen war das absolut Dümmste, was sie tun konnte, dessen war sie völlig sicher, doch das Gewicht ging allmählich über ihre Kräfte.
Ihrer übermenschlichen Anstrengung zum Trotz fühlte sie ihre Finger von der Wurzel abgleiten, und als ihr schließlich vor Schmerz die Tränen in den Augen brannten, hatte sie keine andere Wahl mehr – sie ließ die Wurzel los, tauchte in die düsteren Gefilde des tieferen Wassers ein, bis ihre Füße schließlich den Grund berührten. Sie ließ sich bereitwillig nach unten ziehen, winkelte die Beine an und stieß sich mit aus panischer Angst erwachsener Kraft von den unter Wasser liegenden Wurzeln ab; als ihr Körper herumschnellte, packte sie die Wurzeln am anderen Ufer.
Die Schlange wälzte sich mit ihr zusammen herum und drehte sie auf den Rücken. Jennsen schrie, als ihr die Schulter ausgerenkt wurde, doch inmitten all des Durcheinanders lockerte die Schlange für einen kurzen Augenblick ihren Griff. Das nutzte Jennsen aus und packte das silberne Heft.
Als der breite Kopf mit der züngelnden roten Zunge auf ihr Gesicht zuhielt, riß sie das Messer hoch und drückte der Schlange die Messerspitze unter den Kiefer. Die Schlange zögerte; offenbar war sie sich der Gefahr bewußt, die ihr von der rasiermesserscharfen Spitze drohte. Die beiden starrten einander in die Augen, verharrten regungslos. Jetzt, da sie endlich das Messer in der Hand hielt, überkam sie ein Gefühl übermütiger Erleichterung, auch wenn die Gefahr keineswegs überstanden war.
Die gelben Augen musterten sie. Jennsen fragte sich, ob die Schlange wohl giftig war; bislang hatte sie noch keine Fangzähne gesehen. Sie überlegte, ob sie wohl schnell genug wäre, sie aufzuhalten, wenn sie nach ihrem Gesicht schnappte.
»Tut mir leid, daß ich auf dich draufgetreten bin«, sagte sie. Sie glaubte allerdings nicht so recht daran, daß die Schlange sie verstand, eigentlich war es eher ein Selbstgespräch, ein lautes Nachdenken. »Wir haben uns wohl gegenseitig einen Schrecken eingejagt.«
Die Schlange verharrte reglos wie ein Stein, musterte sie weiterhin. Womöglich hielt sie die drohende Messerklinge für einen Fangzahn. Jennsen wußte es nicht, sie wußte nur, daß es besser wäre, nicht gegen ein solches Geschöpf kämpfen zu müssen.
Sie befand sich im Wasser, im Lebensraum der Schlange. Messer oder nicht, der Ausgang war ungewiß. Selbst wenn sie sie tötete, konnte das Gewicht des Tieres, das sie in tödlicher Umklammerung gefangen hielt, sie unter Wasser ziehen und ertränken. Am besten, man ging kampflos auseinander.
»Verschwinde jetzt«, sagte sie leise mit todernster Stimme. »Sonst muß ich versuchen, dich zu töten.« Sie hob die Messerspitze ein wenig an, um sich in einer Sprache verständlich zu machen, die die Schlange mit Sicherheit besser verstand.
Das Blut schoß augenblicklich in ihre Beine zurück, als sie spürte, wie die Umklammerung gelockert wurde. Zoll um Zoll zog sich der Kopf zurück, die schuppigen Windungen lösten sich und glitten von ihrem Körper und den Beinen herunter. Ihr war plötzlich, als ob sie schwebte. Die Messerspitze noch immer unter den Kiefer des Tieres gepreßt, um beim leisesten Anzeichen von Gefahr mit voller Kraft zuzustoßen, folgte Jennsen dem Schlangenkopf in seiner Rückwärtsbewegung. Schließlich glitt die Schlange zurück ins Wasser.
Kaum war sie von dem Gewicht befreit, krabbelte Jennsen auf festen Grund. Sie schnappte nach Luft, kam wieder zu Atem und wartete, bis ihre aufs Äußerste angespannten Nerven sich ein wenig beruhigt hatten. Dann sprach sie ein stilles Dankgebet an die Gütigen Seelen. Falls sie tatsächlich etwas mit ihrer Befreiung aus der tödlichschuppigen Umklammerung zu tun hatten, dann wollte sie auf keinen Fall versäumen, ihnen ihre Dankbarkeit zu zeigen.
Jennsen wischte sich mit dem Rücken ihrer zitternden Hand die Tränen der Angst aus dem Gesicht, bevor sie sich auf wackeligen Beinen erhob. Sie drehte sich um und betrachtete die vollkommen still daliegende schwarze Wasserfläche unter den überhängenden Bäumen und Moosen. Für den Rückweg nahm sie sich vor, sich einen Wanderstab abzuschneiden, um sich mit dessen Hilfe durch das seichte Gebiet zu tasten. Außerdem würde sie tunlichst darauf achten, nicht noch einmal auf eine Schlange zu treten.
Naß bis auf die Knochen setzte sie ihren Weg fort. Zum Glück war es trotz der winterlichen Jahreszeit warm im Sumpf, frieren würde sie also nicht. Sie mußte daran denken, wie naß sie auf ihrer Flucht mit Sebastian von ihrem Haus gewesen war. nachdem das Quadron ihre Mutter umgebracht hatte.
Obwohl der Erdboden nur wenig über den weiten Flächen stehenden Wassers lag, war er dank der vorstehenden Wurzeln, mit denen er durchsetzt war, fest genug, um ihr Gewicht zu tragen.
Alsbald gelangte sie in ein anderes Gebiet, wo Dampf aus Bodenspalten aufstieg. Farbige, meist gelbe Ablagerungen hatten rings um die Öffnungen, aus denen der Dampf entwich, eine Kruste gebildet; der Gestank raubte ihr fast den Atem, und sie war gezwungen, einen Umweg zu suchen, um nicht zu ersticken. Das Gestrüpp hier war dornig und überaus dicht, doch gelang es ihr, mit dem Messer mehrere dickere Äste zu entfernen und sich bis zu einem einer Felswand vorgelagerten Felsvorsprung durchzuschlagen. Dem schmalen Felsband folgend, umging sie ein Becken mit tiefdunklem Wasser. Als irgend etwas darin ihren Bewegungen folgte, ging ein leichtes Kräuseln über die Oberfläche. Das Messer griffbereit, versuchte sie darauf zu achten, wohin sie trat, und ein Auge auf alles zu halten, was sich aus dem Wasser auf sie stürzen könnte. Als sie sich festhalten wollte und das lose Gestein ihr unter der Hand wegbröckelte, so daß sie um ein Haar den Halt verloren hätte, schleuderte sie den Stein wütend auf das unsichtbare Wesen im Wasser. Es folgte ihr trotzdem, bis sie die gegenüberliegende Seite erreicht hatte, wo sie auf höhergelegenes Gelände klettern konnte und in ein dichtes Unterholz aus hoch gewachsenen Schößlingen mit riesigen Blättern gelangte.
Es war, als würde sie durch ein Maisfeld laufen. Weiter vorn konnte sie zwischen den Stengeln eine gemächliche Bewegung ausmachen. Sie hatte keine Ahnung, um was es sich handelte, aber hinsichtlich seiner Größe hatte sie auch keine Lust, es herauszufinden, und beschleunigte ihre Schritte. Wenig später lief sie, Stengeln ausweichend und sich unter Ästen hindurchduckend, durch dichtes Unterholz.
Der Wald wurde jetzt wieder dunkler, und bald darauf watete sie abermals durch dichtes Wurzelgewirr. Es schien endlos, und sie kam nur quälend langsam voran; der Tag zog sich dahin. Sobald sie offenes oder zumindest halbwegs offenes Gelände erreichte, ging sie sogleich schneller, um Zeit zu sparen. Sie befand sich jetzt schon seit Stunden in dem Sumpfgebiet. Gewiß war es längst kurz vor Mittag.
Was, wenn sie das Haus gar nicht fand? Was würde sie dann tun? Die Vorstellung, eine Nacht im Sumpf zu verbringen, behagte ihr ganz und gar nicht; der Gedanke, sich bei völliger Dunkelheit an diesem Ort aufzuhalten, ohne Hoffnung auf Mondschein oder Sternenlicht, erfüllte sie mit Angst.
Schließlich trat Jennsen am Ufer eines ausgedehnten Sees aus dem Wald hervor und machte Halt, um zu verschnaufen. Nach rechts hin erhob sich eine Felswand, die keinerlei Halt bot, geschweige denn eine Möglichkeit, sie zu erklimmen. Zum Wasser hin fiel sie steil ab, ein Anzeichen dafür, wie tief es an dieser Stelle höchstwahrscheinlich war.
Als sie die Uferzone zur linken Seite hin absuchte, stieß sie zu ihrer Bestürzung auf Fußspuren. Jennsen lief hin und ließ sich auf ein Knie hinunter, um die Abdrücke im weichen Boden zu untersuchen. Der Größe nach schienen sie von einem Mann zu stammen, frisch waren sie allerdings nicht. Ein Stück weiter entdeckte sie an einigen Stellen Fischschuppen; offenbar stammten sie von einem Fang, der gleich an Ort und Stelle gesäubert worden war. Die Fußspuren machten ihr neuen Mut.
Am gegenüberliegenden Ufer des stillen Sees folgte sie den Spuren über einen ausgetretenen Pfad durch ein dichtes Weidenwäldchen auf höher gelegenes Gelände. Als sie durch eine Lücke im Dickicht spähte, erblickte sie zwischen den Bäumen – jenseits des verflochtenen Gestrüpps und des Vorhangs aus Schlingpflanzen – auf einer kleinen Anhöhe ein Haus. Rauch stieg kräuselnd aus einem Kamin und verschmolz mit dem grauen Nebel, ganz so, als wäre es der Rauch, der den aschgrauen, bedeckten Himmel geschaffen hatte.
Der Anblick ihres Ziels, nach all der Todesangst und Trostlosigkeit, ließ ihr Tränen der Erleichterung in die Augen schießen. Jennsen lief den Pfad entlang, zwischen Weiden und Eichen hindurch, ließ das dichte Gestrüpp und den Vorhang aus Kletterpflanzen hinter sich und stand nur kurze Zeit später vor dem Haus. Es war auf einem steinernen, gewissenhaft mit Mörtel verputzten Fundament errichtet, die Wände waren aus Zedernstämmen gezimmert. Das Dach reichte bis über die schmale, seitlich um das Haus herumlaufende Veranda, deren Stufen auf der Rückseite zum nahen See hinunterführten, von dem sie gerade kam.
Jennsen sprang die zur schmalen Veranda führende Treppe hinauf, folgte dieser ums Haus und stand kurz darauf vor einer Tür; diese wurde flankiert von zwei Pfeilern aus mächtigen Baumstämmen, die ein schlichtes, aber einladendes Portal stützten. Von der Tür aus führte ein breiter, gepflegter Pfad über eine weite Treppe in das sich davor erstreckende Sumpfgebiet. Es war der Weg, den die Leute benutzten, wenn sie eine Einladung für einen Besuch bei der Hexenmeisterin hatten. Nach dem Weg, auf dem sie hergekommen war, erschien er ihr wie eine Straße.
Sie verschwendete keine Zeit und klopfte an; ungeduldig pochte sie gleich darauf noch einmal mit den Knöcheln gegen die Tür. Ihr Klopfen wurde unterbrochen, als die Tür nach innen aufgerissen wurde und ein älterer Mann sie verwundert anstarrte. Er war weder schlank noch untersetzt und von durchschnittlicher Statur, gekleidet nicht wie ein Fallensteller oder Sumpfbewohner, sondern wie ein Handwerker; seine braunen, sauberen und gut gepflegten Hosen waren nicht aus grobem Stoff, sondern aus einem teureren, fein gewobenen Tuch, das Hemd übersät mit kleinen, golden funkelnden Partikeln.
Der Vergolder Friedrich musterte sie mit hellwacher Miene genauer, vor allem ihr rotes Haar unter der Kapuze. »Was machst du hier?«, fragte er. Seine tiefe Stimme paßte gut zu seinem sonstigen Äußeren, aber übermäßig freundlich klang sie nicht.
»Ich bin gekommen, um Althea zu besuchen, wenn es genehm ist.«
Seine Augen wanderten zum Pfad, dann wieder zurück zu ihr. »Und wie bist du hergekommen?« Seine mißtrauische Miene nach dem prüfenden Blick verriet ihr, daß er eine Möglichkeit hatte, festzustellen, ob jemand über den Pfad gekommen war.
Jennsen wies um das Haus herum. »Ich bin über den anderen Weg hergekommen, hinten herum, von der anderen Seite des Sees.«
»Das Gebiet jenseits des Sees ist vollkommen unzugänglich, nicht einmal ich traue mich dort hin.« Seine drahtigen, grauschwarzen Brauen zogen sich zusammen, ohne daß er ihrer Bemerkung nähere Beachtung schenkte oder weiter nachfragte. »Du lügst.«
Jennsen war verblüfft. »Aber nein. Ich habe mich wirklich durch den Sumpf gekämpft, denn ich muß unbedingt mit Eurer Gemahlin Althea sprechen.«
»Man hat dich nicht eingeladen herzukommen. Du mußt wieder gehen, und diesmal solltest du – wenn ich den erbärmlichen Zustand deiner Kleidung richtig deute – nicht wieder vorn Weg abkommen, wenn du weißt, was gut für dich ist. Und jetzt verschwinde!«
»Aber es geht um Leben oder Tod. Ich muß unbedingt...«
Die Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen.