Jennsen wollte nicht wieder zurück in das Gasthaus, doch angesichts von Kälte und Dunkelheit wußte sie nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Latheas Weigerung, ihnen eine Antwort auf ihre Fragen zu geben, war über die Maßen entmutigend, dabei hatte Jennsen doch ihre ganze Hoffnung auf die Hilfe dieser Frau gesetzt.
»Wie sollen wir morgen weiter vorgehen?«, wollte Sebastian wissen.
»Morgen?«
»Nun ja, wollt Ihr noch immer, daß ich Euch helfe, D’Hara zu verlassen, wie Ihr und Eure Mutter mich gebeten habt?«
Sie hatte noch gar nicht richtig darüber nachgedacht. Angesichts der spärlichen Informationen, die Lathea ihnen gegeben hatte, war Jennsen unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollten. Gedankenverloren starrte sie in die menschenleere Nacht, während sie durch den verharschten Schnee stapften.
»Angenommen, wir gingen zum Palast des Volkes, würde ich dort bestimmt die eine oder andere Antwort bekommen«, überlegte sie laut. »Und mit ein wenig Glück auch Altheas Hilfe.«
Ein Besuch im Palast des Volkes war bei weitem die gefahrvollste Alternative. Aber wohin sie auch floh, wo sie sich auch versteckte – der Magie des Lord Rahl würde sie sich nirgendwo entziehen können. Vielleicht konnte Althea ja tatsächlich helfen. Vielleicht wäre sie im Stande, Jennsen vor ihm zu verstecken, damit sie ihr eigenes Leben leben konnte.
Sebastian hatte sich ihre Worte offenbar ernsthaft durch den Kopf gehen lassen. »Also abgemacht, Wir gehen zum Palast des Volkes und versuchen diese Althea ausfindig zu machen«, sagte er schließlich zu Jennsen.
Als ihr klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, irgendwelche Einwände zu erheben oder es ihr auszureden, beschlich sie ein leichtes Unbehagen. »Der Palast des Volkes ist das Herzstück D’Haras, und nicht nur das, er ist auch der Wohnsitz des Lord Rahl.«
»Dann wird er wohl kaum erwarten, daß Ihr Euch dort blicken laßt, oder?«
Ob man sie dort erwartete oder nicht – sie würden sich geradewegs in die Höhle des Löwen begeben. Jennsen warf einen flüchtigen Blick auf die schattenhafte Gestalt, die neben ihr herging. »Was tut Ihr eigentlich in D’Hara, Sebastian? Ihr scheint das Land nicht sonderlich zu mögen. Warum bereist Ihr ein Land, das Euch nicht gefällt?«
Sie sah ihn unter seiner Kapuze schmunzeln. »Merkt man mir das so deutlich an?«
Jennsen zuckte mit den Achseln. »Ich bin schon früher Reisenden begegnet. Sie erzählen von den Orten, wo sie gewesen sind, von den Sehenswürdigkeiten, die sie sich angesehen haben, von erstaunlichen Dingen, wunderschönen Tälern und atemberaubenden Gebirgen, von faszinierenden Städten. Ihr dagegen erwähnt mit keinem Wort, wo Ihr gewesen seid oder was Ihr gesehen habt.«
»Wollt Ihr die Wahrheit hören?«, fragte er, sein Gesicht plötzlich sehr ernst.
Jennsen wandte den Blick ab, wurde plötzlich verlegen und kam sich neugierig vor – besonders in Anbetracht dessen, was sie ihm alles verschwieg.
»Entschuldigt. Es steht mir nicht zu, solche Fragen zu stellen. Vergeßt, daß ich davon angefangen habe.«
»Mir macht das nichts aus.« Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht sah er zu ihr hinüber. »Ich glaube, Ihr würdet mich wohl kaum an die d’Haranischen Soldaten verraten.«
Sie erschrak bereits bei dem bloßen Gedanken. »Natürlich nicht.«
»Lord Rahl und sein Reich D’Hara haben es sich zum Ziel gesetzt, die Weltherrschaft zu übernehmen, doch genau das versuche ich zu verhindern. Wie ich Euch bereits sagte, stamme ich von südlich D’Haras. Ich wurde von unserem Führer ausgesandt, dem Kaiser der Alten Welt – Jagang dem Gerechten. Ich bin Kaiser Jagangs Oberster Stratege.«
»Dann seid Ihr ein sehr mächtiger Mann«, entfuhr es ihr staunend. »Ein Mann von hohem Rang.« Das Staunen wich rasch nervöser Schüchternheit. Sie scheute davor zurück, Vermutungen über seine Wichtigkeit, seine Stellung anzustellen, die in ihrer Fantasie mit jedem Augenblick wuchsen. »Und wie soll ich einen Mann Eures Ranges ansprechen?«
»Mit meinem Namen, Sebastian.«
»Aber Ihr seid ein bedeutender Mann, ich dagegen bin bloß ein Niemand.«
»Oh, Ihr seid durchaus jemand, Jennsen Daggett. Wer von Lord Rahl höchstpersönlich verfolgt wird, kann kein Niemand sein.«
Ein ebenso seltsames wie unerwartetes Gefühl von Unbehagen überkam Jennsen. Zwar verband sie keine besonders innige Zuneigung mit D’Hara, trotzdem war ihr etwas unwohl bei dem Gedanken, daß der Grund für Sebastians Hiersein die Zerstörung ihres Landes war.
Diese Treuegefühle ihrem Land gegenüber verwirrten sie. Schließlich hatte Lord Rahl die Männer ausgesandt, die ihre Mutter ermordet hatten. Und Lord Rahl machte auch Jagd auf Jennsen und wollte ihren Tod.
Wohlgemerkt, es war Lord Rahl, der ihren Tod wollte, nicht notwendigerweise die Menschen ihres Landes. Die Berge und Flüsse, die unermeßlichen Ebenen, die Baume sowie die gesamte übrige Pflanzenwelt – all das hatte ihr stets ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen gegeben. In diesem Licht hatte sie es noch nie wirklich betrachtet – daß sie ihr Heimatland lieben und dennoch diejenigen hassen konnte, die es regierten.
Andererseits würde der Erfolg dieses Kaisers, Jagangs des Gerechten, sie von ihrem Verfolger erlösen, denn eine Niederlage D’Haras würde auch den Untergang des Lord Rahl besiegeln. Dann wäre sie endlich frei, ihr eigenes Leben zu leben.
Außerdem erschien es ihr angesichts seiner Offenheit ihr gegenüber töricht, Sebastian zu verschweigen, wer sie war und warum Lord Rahl sie verfolgte. Sie wußte das alles selbst nicht ganz genau, immerhin aber genug, um sich darüber im Klaren zu sein, daß Sebastian ihr Schicksal teilen würde, sollte man ihn zusammen mit ihr erwischen.
Während sie so darüber nachdachte, dämmerte ihr allmählich; warum er vielleicht gar nichts dagegen einzuwenden hätte, den Palast des Volkes aufzusuchen, warum er durchaus bereit sein könnte, eine so gefährliche Reise zu wagen. Als Oberstem Strategen Kaiser Jagangs käme ihm die Gelegenheit, einen Blick in die Höhle des Löwen werfen zu können, vielleicht gerade recht.
»Da wären wir«, meinte er.
Sie hob den Blick und gewahrte die weiße Schindelfassade des Gasthauses vor sich. Sebastian legte ihr beschützend einen Arm um die Schultern, als sie sich einen Weg durch den riesigen Schankraum bahnten, um sie vor den neugierigen Blicken in Schutz zu nehmen, während er sie zur Treppe auf der gegenüberliegenden Seite führte; Gedränge und Lärm in der Gaststube schienen erstaunlicherweise sogar noch zugenommen zu haben.
Ohne innezuhalten gingen die beiden die Treppe hinauf und ein Stück den dunklen Flur entlang. Rechter Hand entriegelte Sebastian eine Tür und drehte drinnen den Docht der auf dem kleinen Tisch stehenden Öllampe hoch. Neben der Lampe gab es einen Wasserkrug mit Waschschüssel und gleich beim Tisch eine Bank. An der Seitenwand des Zimmers stand ein in seiner Wuchtigkeit bedrohlich wirkendes Bett, das schlampig mit einer dunkelbraunen Decke zugedeckt war.
Das Zimmer machte einen besseren Eindruck als ihr Zuhause, das sie aufgegeben hatte, doch Jennsen gefiel es trotzdem nicht. Eine Wand war mit einem gelblich braunen, bemalten Leinenstoff bezogen. Die verputzten Wände waren schmutzig und voller Flecken. Da sich das Zimmer im ersten Stock befand, führte der einzige Weg nach unten wieder zurück durch die Gaststube. Sie fand den Gestank im Zimmer widerlich – eine säuerliche Mischung aus Pfeifenrauch und Urin.
Während Jennsen ein paar Dinge aus ihrem Rucksack nahm und zum Tisch hinüberging, um sich das Gesicht zu waschen, überließ Sebastian sie ihrem Tun und ging wieder nach unten. Sie war gerade mit Waschen fertig und hatte sich das Haar gebürstet, als er mit zwei Schalen Lammeintopf zurückkehrte; außerdem hatte er braunes Brot sowie zwei Krüge Bier mitgebracht. Sie aßen, auf der kurzen Bank eng beieinander sitzend, über den Tisch gebeugt, ganz nah beim Schein der flackernden Öllampe.
Der Eintopf schmeckte längst nicht so gut, wie er aussah. Sie pickte sich die Fleischstücke heraus, das farb- und geschmacklose verkochte Gemüse dagegen rührte sie nicht an. Einen Teil der Flüssigkeit tunkte sie mit dem harten Brot auf, doch ihr Bier überließ sie Sebastian und trank statt dessen Wasser. Das Bier hatte für sie einen ebenso unangenehmen Geruch wie das Lampenöl, Sebastian schien es allerdings zu mögen.
Als sie fertig war mit Essen, lief Jennsen in der engen Kammer auf und ab wie Betty in ihrem Verschlag. Sebastian setzte sich rittlings auf die Bank und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Seine blauen Augen folgten ihr vom Bett zur Wand und wieder zurück.
»Warum legt Ihr Euch nicht hin und schlaft ein wenig«, schlug er mit sanfter Stimme vor. »Ich passe schon auf Euch auf.«
Mit einem Mal fühlte sie sich wie ein Tier in der Falle. Sie sah ihn fragend an, während er einen kräftigen Schluck Bier aus seinem Krug nahm. »Und wie gehen wir morgen weiter vor?«
Es war nicht nur ihre Abneigung gegen das Gasthaus und das Zimmer, auch ihr schlechtes Gewissen machte ihr zu schaffen. Deshalb wartete sie seine Antwort nicht ab, sondern fügte hinzu, »Sebastian, ich muß Euch darüber aufklären, wer ich bin, da Ihr mir gegenüber auch stets aufrichtig wart. Ich kann Euch unmöglich weiter begleiten und Eure Mission gefährden, denn ich weiß nichts über die wichtigen Dinge, die Ihr tut. Aber wenn Ihr weiter bei mir bleibt, bringt Ihr Euch in große Gefahr. Ihr habt mir bereits mehr geholfen, als ich mir erhofft hatte und darüber hinaus erwarten konnte.«
»Jennsen, ich bin allein schon durch mein Hiersein in Gefahr, denn ich befinde mich in Feindesland.«
»Und Ihr seid ein Mann von hohem Rang, ein wichtiger Mann.« Sie versuchte sich ein wenig Wärme in ihre eiskalten Finger zu reiben. »Wenn man Euch gefangen nähme, nur weil Ihr mich begleitet habt... also, ich könnte das nicht ertragen.«
»Es war meine Entscheidung, hierher zu kommen.«
»Aber ich war nicht aufrichtig zu Euch – ich habe Euch zwar nicht angelogen, habe Euch aber etwas verschwiegen, das ich Euch längst hätte sagen sollen. Ihr seid ein zu wichtiger Mann, um mich zu begleiten, ohne zu wissen, weshalb man mich verfolgt oder worum es bei dem Überfall in unserem Haus ging.« Mühsam versuchte sie, den schmerzhaften Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. »Und weshalb meine Mutter ihr Leben lassen mußte.«
Er erwiderte nichts, sondern ließ ihr einfach Zeit, sich zu sammeln und es ihm in ihren eigenen Worten zu erklären. Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an war er ihr niemals zu nahe gekommen, nachdem er ihre Angst bemerkt hatte, und hatte ihr stets den Raum gelassen, den sie brauchte, um sich sicher zu fühlen. Dafür hatte er mehr verdient, als sie ihm bislang gegeben hatte.
Schließlich blieb Jennsen stehen und betrachtete ihn, seine blauen Augen – blaue Augen, ganz wie ihre und die ihres Vaters.
»Sebastian, Lord Rahl – der letzte Lord Rahl, Darken Rahl – war mein Vater.«
Er nahm die Neuigkeit ohne erkennbare Regung auf. so daß sie unmöglich wissen konnte, was er dachte.
»Meine Mutter arbeitete im Palast des Volkes, sie gehörte zum Palastpersonal. Darken Rahl ... er hatte ein Auge auf sie geworfen. Es ist das Privileg des Lord Rahl, sich jede Frau zu nehmen, die sein Begehren weckt.«
»Jennsen, Ihr müßt nicht...«
Sie hob eine Hand und brachte ihn so zum Schweigen, denn sie wollte dies alles loswerden, bevor sie der Mut verließ.
»Sie war damals vierzehn«, begann Jennsen ihre Geschichte so ruhig wie nur möglich. »Zu jung, um wirklich zu begreifen, wie es in der Welt zugeht was es mit Männern auf sich hat. Ihr habt selbst gesehen, wie schön sie war. Bereits in diesem zarten Alter war ihre Schönheit unübertroffen, zumal sie früher als die meisten ihres Alters zur Frau herangereift war. Sie besaß ein strahlendes Lächeln und war geradezu beseelt von einer unbefangenen Lebensfreude.
Aber sie hielt sich für einen derartigen Niemand, daß sie es aufregend fand, von einem so mächtigen Mann bemerkt – begehrt – zu werden, der jede Frau haben konnte, die er wollte. Das war natürlich dumm, doch für jemanden ihres Alters und ihres Ranges eben auch schmeichelhaft, und in ihrer Gutgläubigkeit muß es ihr geradezu wie ein Märchen vorgekommen sein.
Von älteren Frauen des Palastpersonals wurde sie gebadet und umsorgt, ihr Haar wurde zurechtgemacht wie das einer richtigen Dame. Für ihre Begegnung mit dem großen Mann wurde sie mit einem prachtvollen Abendkleid herausgeputzt. Als man sie zu ihm brachte, verneigte er sich vor ihr und gab ihr einen Kuß auf den Handrücken – ihr, einer Bediensteten seines prunkvollen Palastes!
Sie speiste mit ihm zu Abend, probierte all die seltenen und exotischen Speisen, die sie nie zuvor gekostet hatte. Nur die beiden, ganz allein an einer langen Tafel, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben von anderen bedient wurde.
Er war charmant und machte ihr Komplimente über ihre Schönheit, ihre Anmut. Er schenkte ihr Wein ein – Lord Rahl höchstpersönlich.
Als sie schließlich mit ihm allein war. wurde sie mit dem wahren Grund ihres Dortseins konfrontiert. Sie war zu verängstigt, um sich zu wehren. Natürlich hätte er auch dann mit ihr getan, was immer ihm beliebte, wenn sie sich ihm nicht voller Unterwürfigkeit hingegeben hätte. Seine Grausamkeit stand seinem Charme nämlich in nichts nach, und er wäre ohne die geringste Schwierigkeit mit jeder Frau fertig geworden. Er brauchte es nur zu befehlen, und schon wurde jeder der sich seinem Willen widersetzte, zu Tode gefoltert.
Aber sie kam überhaupt nicht auf die Idee, Widerstand zu leisten. Vermutlich erschien ihr die Welt im Zentrum all dieser Herrlichkeit und Macht, ihren dunklen Ahnungen zum Trotz, aufregend. Als sie sich dann für sie zum Alptraum entwickelte, ließ sie alles wortlos über sich ergehen.«
Jennsen wandte ihren Blick von Sebastians blauen Augen ab. »Eine Zeit lang nahm er meine Mutter zu sich ins Bett, bis er ihrer schließlich überdrüssig wurde und sich beliebig anderen Frauen zuwandte. Trotz ihrer jungen Jahre gab sich meine Mutter nicht der törichten Illusion hin, daß sie ihm etwas bedeutete. Sie wußte, daß er sich einfach nur nahm, was er begehrte und solange er es begehrte, und daß sie, sobald er mit ihr fertig wäre, schon bald vergessen sein würde. Also verhielt sie sich ganz wie eine Bedienstete, eine Bedienstete, der man geschmeichelt hatte, aber dennoch wie eine verängstigte, gutgläubige junge Bedienstete, die trotz allem klug genug war, sich einem Mann, der keinen Gesetzen außer seinen eigenen gehorchte, nicht zu widersetzen.
Ich war das Ergebnis dieser kurzen, schweren Prüfung in ihrem Leben, und der Beginn einer noch viel schwereren.«
Jennsen hatte diese entsetzliche Geschichte, die fürchterliche Wahrheit, noch nie zuvor jemandem erzählt. Sie fror, fühlte sich schmutzig. Und ihr war schlecht. Mehr als alles andere empfand sie einen tiefen Schmerz über das, was ihre Mutter durchgemacht haben mußte.
Ihre Mutter hatte die Geschichte nie in allen Einzelheiten geschildert, so wie Jennsen dies soeben getan hatte. Jennsen hatte ihr Leben lang Bruchstücke aneinander gefügt, bis sich in ihrem Kopf daraus schließlich ein vollständiges Bild ergab. Auch Sebastian hatte sie nicht sämtliche Einzelheiten – das ganze Ausmaß der grauenvollen Mißhandlung ihrer Mutter durch Darken Rahl – geschildert. Es erfüllte Jennsen zutiefst mit Scham, daß sie geboren werden mußte, um ihre Mutter tagein, tagaus an Geschehnisse zu erinnern, die zu entsetzlich waren, um sie je im Zusammenhang erzählen zu können.
Als Jennsen mit tränennassen Augen aufblickte, stand Sebastian ganz dicht vor ihr und strich ihr dann mit den Fingerspitzen ganz sacht über das Gesicht. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr fort, »Die Frauen und ihre Kinder bedeuten ihm nichts. Lord Rahl merzt alle nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen aus. Da er sich viele Frauen nimmt, sind Kinder aus diesen Verbindungen nichts Ungewöhnliches. Er hat es nur auf einen Einzigen abgesehen, seinen Erben, das einzige Kind aus seiner Nachkommenschaft, das die Gabe in sich trägt.«
»Richard Rahl«, meinte Sebastian.
»Richard Rahl«, bestätigte sie. »Mein Halbbruder.«
Ihr Halbbruder Richard Rahl, der sie verfolgte, wie sie sein Vater vor ihm verfolgt hatte; ihr Halbbruder Richard Rahl, der die Quadronen ausgesandt hatte, die sie töten sollten; ihr Halbbruder Richard Rahl, der die Quadronen ausgesandt hatte, die ihre Mutter umgebracht hatten.
Aber aus welchem Grund? Sie konnte doch unmöglich eine Gefahr für Darken Rahl gewesen sein, viel weniger noch für den neuen Lord Rahl. Er war ein mächtiger Zauberer, der ganze Armeen befehligte, Legionen mit der Gabe Gesegnete sowie zahllose andere, ihm treu ergebene Untertanen. Und sie? Sie war nichts weiter als eine einsame Frau, die kaum einen Menschen kannte und lediglich in Frieden ihr einfaches Leben leben wollte. Wie sollte sie seiner Herrschaft jemals gefährlich werden?
Selbst ihre wahre Geschichte würde kaum Erstaunen hervorrufen, wußte doch jeder, daß ein Lord Rahl ausschließlich nach seinen eigenen Gesetzen lebte. Niemand würde ihre Geschichte auch nur im Entferntesten in Zweifel ziehen, aber sie würde auch niemanden wirklich interessieren.
Plötzlich schien Jennsens ganzes Leben auf diese eine alles entscheidende Frage hinauszulaufen, Warum hatte ihr Vater, ein Mann, den sie nie kennen gelernt hatte, so verzweifelt ihren Tod gewollt? Und warum sollte sein Sohn, Richard Rahl, ihr Halbbruder und der derzeitige Lord Rahl, wie er die Absicht haben, sie zu töten? Das ergab keinen Sinn. Was konnte sie schon tun, um einem der beiden Schaden zuzufügen?
Jennsen steckte das Messer mit dem Emblem des Hauses Rahl in ihren Gürtel, schnappte sich ihren Umhang vom Bett und warf ihn sich um die Schultern. Sebastian fuhr mit der Hand durch seine weißen Haarstoppeln, während er ihr zusah, wie sie mit hastigen Bewegungen den Umhang verschnürte. »Wo wollt Ihr hin?«
»Bin gleich wieder zurück. Ich gehe nur kurz aus.«
Er griff nach seiner Waffe und seinem Umhang. »Einverstanden, ich werde...«
»Nein. Überlaßt das mir, Sebastian. Ihr habt meinetwegen schon genug riskiert. Ich möchte allein gehen. Sobald ich fertig bin, komme ich zurück.«
»Fertig womit?«
Sie ging zur Tür. »Mit dem, was ich zu erledigen habe.«
Er stand mitten im Zimmer, die geballten Fäuste in den Hüften und sichtlich unschlüssig, ob er ihrem ausdrücklichen Wunsch zuwiderhandeln sollte. Jennsen zog die Tür rasch hinter sich ins Schloß, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. Sie sprang die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter, darauf bedacht, das Gasthaus so schnell wie möglich zu verlassen und fort zu sein, bevor er es sich anders überlegte und ihr folgte.
Ein Stockwerk tiefer ging es nach wie vor ausgelassen derb zu. Ohne all die Männer eines Blickes zu würdigen, hielt sie schnurstracks auf die Tür zu. Sie hatte diese noch nicht ganz erreicht, als ihr ein bärtiger Kerl den Arm um die Hüfte schlang und sie zurück in das Gedränge riß; ihr verhaltener Schrei ging im Sturm allgemeiner Ausgelassenheit unter. Der Kerl wirbelte sie herum, fing sie mit seiner rechten Hand auf und tanzte mit ihr über die Dielen.
Jennsen versuchte ihre Hand nach oben zu bringen und ihre Kapuze zurückzuschlagen, ihre rote Mähne zu befreien und ihm dadurch einen Schrecken einzujagen, bekam ihren Arm aber nicht frei. Und so konnte sie vor allem auch nicht ihr Messer ziehen, um sich zu verteidigen; ihr Atem war ein ängstliches Keuchen.
Der Kerl stimmte in das Gelächter seiner Kumpane ein, wirbelte sie zur Musik herum und hielt sie fest, um sie nicht mitten im Tanz zu verlieren. Seine Augen glänzten vor Vergnügen und hatten nichts Bedrohliches, was jedoch – dessen war sie sich bewußt – nur daran lag, daß sie noch nicht energisch Widerstand geleistet hatte. Sobald er ihren Widerwillen spürte, wäre es mit seiner Freundlichkeit gewiß vorbei.
Er ließ ihre Hüfte los und wirbelte sie herum. Jetzt, da nur noch eine Hand in seinen schwieligen Fingern gefangen war, hoffte sie, sich von ihm losreißen zu können. Tastend suchte sie mit der linken Hand ihr Messer, doch befand sich dieses unter ihrem Umhang und war somit für ihre freie Hand unerreichbar. Die Menge klatschte zum Rhythmus der Melodie von Flöten und Trommeln. Als sie sich umwandte und sich einen Schritt entfernte, bekam ein anderer Mann sie an der Hüfte zu fassen und schnappte sich ihre andere Hand; dabei stieß er so hart gegen sie, daß ihr der Atem ächzend aus den Lungen gepreßt wurde. Die Gelegenheit, ihre Kapuze zurückzuschlagen, war vertan, weil sie statt dessen versucht hatte, an ihr Messer heranzukommen!
Sie fühlte sich der wogenden Masse von Männern hilflos ausgeliefert. Die wenigen anderen Frauen, größtenteils Schankmädchen, waren entweder willig oder hatten den Bogen raus, sich kurz mit den Männern einzulassen, um sich gleich darauf wieder zu entfernen. Jennsen verstand nicht, wie sie dieses Kunststück vollbrachten, lief sie selbst doch ständig Gefahr, in der wogenden Masse aus Männern unterzugehen, die sie von einem zum nächsten weiterreichten.
Als sie kurz die Tür erblickte, riß sie sich kurzerhand los und befreite sich aus dem Griff des Mannes, der sie gerade hielt. Der Bursche, dem sie entwischt war, sah sich dem heiteren Spott der anderen ausgesetzt, und wie erwartet war es mit seiner Fröhlichkeit schlagartig vorbei, die anderen Männer jedoch bejubelten ihr Entkommen mit einem Bravoruf. Daraufhin verbeugte sich der Mann, dem sie entwischt war, und sagte, »Danke für den entzückenden Tanz, mein wunderhübsches Fräulein. Ihr habt einem alten Grobian wie mir damit einen großen Gefallen erwiesen.«
Sein Lächeln kehrte zurück und er zwinkerte ihr zu, bevor er sich umdrehte, um gemeinsam mit seinen Kumpanen weiter zum Rhythmus der Musik in die Hände zu klatschen.
Jennsen war wie vom Donner gerührt, als sie merkte, daß die Situation längst nicht so gefährlich war wie erwartet. Da packte sie abermals ein Arm um die Hüfte, doch fing Jennsen augenblicklich an, sich zu wehren und sich loszureißen.
»Ich wußte gar nicht, daß Ihr gerne tanzt.«
Es war Sebastian, Gott sei Dank. Erleichtert ließ sie sich von ihm aus der Gaststube führen.
Die kalte Luft der dunklen Nacht draußen war eine Wohltat. Sie atmete tief durch und war froh, den ungewohnten Geruch von Bier. Pfeifenrauch und schwitzenden Männern und auch den Lärm so vieler Menschen hinter sich lassen zu können.
»Ich sagte doch, Ihr sollt das mir überlassen«, meinte sie vorwurfsvoll.
»Was soll ich Euch überlassen?«
»Ich werde jetzt zu Latheas Haus gehen. Bleibt bitte hier, Sebastian, ja?«
»Aber nur. wenn Ihr mir verratet, warum ich Euch nicht begleiten soll.«
Sie hob eine Hand, ließ sie dann aber kraftlos sinken. »Ihr seid ein zu wichtiger Mann, Sebastian. Das ist meine Angelegenheit, nicht Eure. Mein Leben ist ... ich weiß nicht, eigentlich habe ich gar kein Leben. Aber Ihr habt eins, und ich möchte nicht, daß Ihr über Gebühr in mein Durcheinander verstrickt werdet.«
Sie stapfte los durch den verharschten Schnee. Er stopfte seine Hände in die Taschen und lief neben ihr her. »Ich bin ein erwachsener Mann, Jennsen. Erklärt mir bitte nicht was ich zu tun habe.«
Ohne etwas darauf zu erwidern, bog sie an einer Ecke in eine dunkle Seitenstraße ein.
»Verratet mir jetzt bitte, warum Ihr Lathea aufsuchen wollt, ja?«
Daraufhin blieb sie am Straßenrand stehen, in der Nähe eines unbewohnten Gebäudes unweit der Ecke, wo die Straße zu Latheas Haus abging.
»Ich war mein ganzes Leben lang auf der Flucht, Sebastian. Ich bin es leid. Mein ganzes Leben besteht nur aus Fliehen, Angst und Sichverstecken. Nie tue ich etwas anderes, nie habe ich einen anderen Gedanken im Kopf, als vor einem Mann wegzulaufen, der mich töten will, als ihm stets einen Schritt voraus zu sein, um am Leben zu bleiben.«
Er widersprach ihr nicht. »Und warum wollt Ihr nun diese Hexenmeisterin besuchen?«
Jennsen schob die Hände unter den Umhang, um sie zu wärmen, und blickte die dunkle Straße hinunter zu Latheas Haus.
»Vorhin bin ich sogar vor Lathea davongelaufen. Ich weiß nicht, warum Lord Rahl hinter mir her ist, aber sie. Ich hatte Angst darauf zu bestehen, daß sie es mir sagt, wollte mich auf den weiten Weg bis zum Palast des Volkes machen, um ihre Schwester Althea zu finden, in der Hoffnung, sie würde sich vielleicht, wenn ich ganz bescheiden an ihre Tür klopfe, dazu herablassen, es mir zu verraten und mir zu helfen.
Aber wenn nicht? Was, wenn auch sie mich wieder fortschickt? Was dann? Könnte es etwas Gefährlicheres für mich geben, als den Palast des Volkes aufzusuchen? Und wozu das alles? Nur für die vage Hoffnung, daß sich irgend jemand endlich aus freien Stücken dazu herabläßt, einer einsamen Frau beizustehen, die von den mächtigen Streitkräften eines von dem mörderischen Bankert eines Ungeheuers regierten Volkes verfolgt wird?
Begreift Ihr nicht? Wenn ich ein ›Nein‹ nicht länger als Antwort akzeptierte und darauf bestünde, daß Lathea mir den Grund verrät, könnte ich mir womöglich die gefährliche Reise in das noch gefährlichere Herz D’Haras ersparen und statt dessen von hier fortgehen. Zum allerersten Mal in meinem Leben könnte ich in Freiheit leben, doch war ich drauf und dran, die Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen, nur weil ich mich sogar vor Lathea fürchtete. Ich habe es so abgrundtief satt. Angst zu haben.«
Er stand im trüben Licht und überlegte, welche Möglichkeiten sie hatten.
»Dann gehen wir doch einfach fort. Laßt Euch von mir aus D’Hara wegbringen, wenn Ihr das wirklich wollt.«
»Nein. Nicht, solange ich nicht herausgefunden habe, warum Lord Rahl mich töten will.«
»Welchen Unterschied macht es. Jennsen, ob,..«
»Nein!« Sie ballte die Fäuste. »Nicht, solange ich nicht herausgefunden habe, warum meine Mutter sterben mußte!«
Sie spürte, wie ihr Tranen bitterer Wut über die Wangen liefen.
Schließlich nickte Sebastian. »Verstehe. Gehen wir also zu Lathea. Ich werde Euch helfen, eine Antwort von ihr zu bekommen. Vielleicht laßt Ihr Euch dann von mir aus D’Hara fortbringen, an einen Ort, wo Ihr in Sicherheit seid.«
Sie wischte ihre Tränen ab. »Danke, Sebastian. Aber habt Ihr hier nicht auch Dinge zu erledigen? Ich kann nicht zulassen, daß meine Probleme Euch noch länger in die Quere kommen. Ihr müßt Euer eigenes Leben leben.«
Daraufhin lächelte er. »Das geistige Oberhaupt unseres Volkes, Bruder Narev, sagt immer, unsere wichtigste Aufgabe im Leben ist es, denen beizustehen, die unserer Hilfe bedürfen.«
Diese Gesinnung machte ihr wieder Mut, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. »Das klingt, als sei er ein wundervoller Mann.«
»Das ist er.«
»Aber nichtsdestoweniger steht Ihr noch immer in der Pflicht Eures Führers, Jagangs des Gerechten, oder nicht?«
»Bruder Narev ist gleichzeitig enger Freund und geistiger Ratgeber Kaiser Jagangs. Bestimmt würden beide wollen, daß ich Euch helfe, da bin ich ganz sicher, schließlich ist Lord Rahl auch unser Feind. Diese beiden Männer, Bruder Narev und Kaiser Jagang, würden geradezu darauf bestehen, daß ich Euch helfe. Und das ist die Wahrheit.«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt vor lauter Rührung, und sie brachte kein Wort heraus. Sie erlaubte ihm, seinen Arm um ihre Hüfte zu legen, und ließ sich von ihm die Straße hinunterführen. Während sie mit ihm zusammen die Stille und die Dunkelheit genoß, lauschte Jennsen auf das leise Knirschen ihrer Stiefel im verharschten Schnee.
Lathea mußte ihr ganz einfach helfen. Jennsen war fest entschlossen, dafür zu sorgen.