Hatte bereits oben, in der trostlosen Ebene, eine alles verdorrende Hitze geherrscht, so war es jetzt, als sie sich den Pfad hinunterwagten, so, als kletterte man hinunter in einen Schmelzofen. Mit jedem Atemzug, mit dem sie die brennend heiße Luft in ihre Lungen sog, glaubte Jennsen innerlich gegart zu werden. Die über den steilen Talwänden aufsteigende Luft flirrte wie die Hitze über einem Lagerfeuer.
Es gab Stellen, wo der Pfad sich einfach inmitten loser Gesteinsbrocken verlor; an anderen wies ihnen eine ausgetretene Vertiefung im weichen Sandstein den Weg. Dann wieder folgte der Pfad einem natürlichen Verlauf, so daß er im Großen und Ganzen gut zu erkennen war und man kaum Gelegenheit hatte, Fehler zu machen. Manchmal mußten sie einen durch einen Erdrutsch entstandenen Geröllhang überqueren, der den Pfad spurlos unter sich begraben hatte, und darauf hoffen, ihn ein Stück weiter wieder aufnehmen zu können.
Nichts vermochte die sengende Hitze zu lindern, trotzdem waren die schwarzen Burnusse, die ihnen die Händler zur Verfügung gestellt hatten, eine eindeutige Verbesserung. Der schwarze Stoff rund um ihre Augen linderte das schmerzhafte Gleißen, nahm die strahlende Helligkeit auf und erleichterte so das Sehen. Jennsen empfand den Schatten spendenden, dunklen Stoff um ihr Gesicht geradezu als Wohltat. Statt den Hitzestau noch zu vergrößern, wie sie angenommen hatte, verhinderte der dünne, ihre nackte Haut an Armen und Hals bedeckende Stoff, daß die Sonne sie verbrannte.
Sebastian und sie folgten dem stets abfallenden Pfad mit eiligen Schritten; nach einer Weile jedoch mußte Jennsen zu ihrer Verwunderung feststellen, daß er sie über einen der sich quer hinunter ins Tal erstreckenden Grate hinweg erneut nach oben führte. Der felsige Boden war so zerklüftet, daß ein direkter Abstieg schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre; sie hatten keine andere Wahl, als ihm auf seinem quälend steilen Auf und Ab zu folgen.
Jennsen erinnerte sich noch gut, wie Sebastian ihr erzählt hatte, daß kein Mensch sich allein in das Tal hinunterwagte, in dem die Säulen der Schöpfung standen; jetzt verstand sie auch, warum. Die Unberührtheit des Pfades bestätigte dies zusätzlich – zumindest, was diese eine Stelle anbetraf. Zudem war ihr seine Bemerkung noch gut in Erinnerung, kein Mensch, der in das Tal hinabgestiegen sei. sei je zurückgekehrt, um davon zu berichten. Aber darüber mußte sie sich jetzt vermutlich nicht den Kopf zerbrechen.
Weiter unten taten sich in dem schroffen Gelände klaffende Spalten und tiefe Einschnitte auf. Einige der so durch Erosion entstandenen Felstürme reichten vom Talgrund bis herauf zu ihnen am Oberrand des Tales; von oben war der Blick auf diese emporstrebenden Steintürme schwindelerregend. An manchen Stellen mußten sie und Sebastian mit einem Sprung über die Spalten hinwegsetzen, dann wieder sah man tief unten den weiteren Verlauf des Pfades – ein Anblick, bei dem einem das Herz stehen bleiben konnte.
Schwester Perdita war auf einem der vorspringenden Felssimse stehen geblieben, um auf sie zu warten, und beobachtete sie mit einem Ausdruck stummen Mißfallens, der sich für immer in die Züge ihres unversöhnlichen Gesichts gegraben zu haben schien. Die immer länger werdenden Schatten, die sich über die Landschaft legten, verliehen dem Ort eine seltsam neue Dimension. Das Licht der untergehenden Sonne betonte die Schroffheit der Landschaft auf eine Weise, die noch unterstrich, wie gewaltig dieses Land tatsächlich war. Sebastian legte Jennsen eine Hand auf den Rücken und drängte sie über ein offenes, ebenes Teilstück des Pfades, bis sie von einem Wald aus unheimlichen Felssäulen aufgenommen wurden, die – eindrucksvollen, ihrer Wipfel und aller Äste beraubten toten Baumstämmen gleich – den Pfad auf beiden Seiten säumten.
Seit ihrem Abschied von den Händlern hatte Jennsen das Gefühl, daß etwas nicht stimme, doch Sebastian hielt sie ständig auf Trab, so daß sie kaum Gelegenheit fand, darüber nachzudenken, was sie eigentlich so beunruhigte. Schwester Perdita erwartete sie mit verdrießlicher Miene.
»Sebastian ...«, sagte sie, als eine dunkle Vorahnung sie plötzlich ergriff und ihr bewußt wurde, daß sie sich nie richtig von ihm verabschiedet hatte; vor Schwester Perdita mochte sie es nicht tun. Sie blieb stehen, drehte sich herum und befreite ihren Mund von dem schwarzen Schal. »Sebastian, ich möchte dir ganz einfach für alles danken, was du für mich getan hast.«
Er lachte verhalten hinter seiner Maske aus schwarzem Stoff. »Das klingt ja fast, als hättest du Angst, jeden Moment zu sterben, Jenn.«
Wie sollte sie ihm erklären, daß es sich exakt so verhielt? Was war bloß auf einmal los mit ihr?
»Kein Mensch kann die Zukunft sehen.«
»Sei unbesorgt«, meinte er gut gelaunt. »Es wird alles gut gehen. Die Schwestern haben dir mit ihrer Magie geholfen, als sie mich heilten, und jetzt wird dir Schwester Perdita zur Seite stehen. Abgesehen davon bin ich auch noch da. Du wirst deine Mutter endlich rächen können.«
Er kannte den Preis nicht, den die Schwestern für ihre Hilfe und Jennsens Rache verlangt hatten, und Jennsen brachte es nicht über sich, es ihm zu sagen; sie hatte überhaupt größte Mühe, ein Wort hervorzubringen.
»Falls mir etwas zustoßen sollte, Sebastian ...«
»Jenn«, unterbrach er sie, faßte sie bei den Armen und sah ihr in die Augen, »so darfst du nicht reden.« Plötzlich überkam ihn ein Anfall von Gram. »Sag so etwas niemals, Jenn. Der Gedanke, ohne dich leben zu müssen, wäre mir unerträglich. Ich liebe dich, dich allein. Du weißt ja gar nicht, was du mir bedeutest, wie sehr du mein Leben verändert hast! – Bitte quäle mich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder auf dich verzichten zu müssen.«
Unfähig, ein Wort der Erklärung hervorzubringen, ihre Gefühle zu beschreiben, ihm zu sagen, daß er sie verlieren würde und sein Leben allein meistern mußte, starrte Jennsen verblüfft in seine blauen Augen, die angeblich ebenso blau waren wie die ihres mörderischen Vaters. Sie nickte nur, wandte sich wieder zum Pfad herum und schlug den schwarzen Schal vors Gesicht.
»Beeil dich«, sagte sie. »Schwester Perdita wartet schon.«
Die Frau stand auf einem breiten flachen Felsvorsprung im Wind und wartete; Jennsen sah, daß der Pfad hinter ihr zwischen den Schatten, wo es hinunter ins Tal der Säulen der Schöpfung ging, steil abfiel. Schwester Perdita blickte finster an Jennsen vorbei auf den Weg, den sie gekommen waren.
Kurz bevor sie ebenfalls den flachen Felsvorsprung erreichten, wo ihr schwarzes Gewand im glühend heißen Wind flatterte, drehte auch sie sich um, um zu sehen, was die Schwester so sehr fesselte. Von ihrem hohen Ausguck aus konnte Jennsen sehen, daß der anstrengende Aufstieg sie auf den höchsten Punkt einer Wasserscheide geführt hatte, von der aus der Pfad rasch abfiel, um sie bis auf den Boden der Senke zu führen. Ein Blick zurück auf die breiten Schluchten und felsigen Grate, die sie bereits überquert hatten, ergab jedoch, daß sie fast wieder auf der Höhe des oberen Talrandes angelangt waren. Sie konnte dort die kleine Ansammlung gedrungener Gebäude erkennen. Der Reiter, der, in einer pfeilgeraden Route auf den Pfad zuhaltend, auf seinem Pferd herangaloppiert kam, hatte sie jetzt fast erreicht. Der tausend Mann starke Trupp hatte sich unweit des Pfadanfangs in breiter Front versammelt, um ihn zu empfangen.
Kurz bevor das schweißbedeckte, in gestrecktem Galopp dahinfliegende Tier die Soldaten erreichte, bemerkte Jennsen ein kurzes Zögern in seinem Bewegungsablauf; völlig unvermittelt knickten die Vorderlaufe des Tieres ein. Das arme Tier geriet ins Straucheln und brach vor Erschöpfung auf dem felsigen Grund tot zusammen.
Der Mann auf seinem Rücken ließ sich mit einer fließenden Bewegung von seinem Rücken gleiten, als es unter ihm zusammenbrach. Scheinbar ohne an Schwung zu verlieren oder aus dem Tritt zu kommen, setzte er seinen Weg Richtung Pfad fort. Er war dunkel gekleidet, wenn auch nicht nach Art der nomadischen Händler. Hinter ihm blähte sich ein goldenes Cape im Wind, außerdem schien er von erheblich kräftigerer Statur zu sein als die Kaufleute.
Als er schnurstracks auf den Pfad zuhielt, rief der Kommandant der Kavallerie ihm zu, er solle stehenbleiben. Der Mann machte weder eine provozierende Geste noch schien er überhaupt ein Wort zu sagen, er ignorierte sie schlicht, während er unbeirrbar seinen Weg vorbei an den Gebäuden und zum Pfad fortsetzte. Die tausend Soldaten stießen wie ein Mann ihren schrillen Schlachtruf aus und griffen an.
Als die Kavallerie der Imperialen Ordnung auf ihn zuraste, streckte der Mann, der keinerlei Waffen bei sich zu tragen schien, ihnen schlicht einen Arm entgegen, so als wollte er ihnen dringend raten, stehen zu bleiben. Weder Sebastians Befehle noch ihre Art, auf den einzelnen Mann zuzurasen, ließen Jennsen im Zweifel darüber, daß sie erst anhalten würden, wenn sie seinen Kopf erbeutet hatten.
Völlig unvermittelt erstrahlte der Oberrand des Tales unter dem Lichtblitz einer krachenden Explosion. Jennsen hielt überrascht den Atem an und mußte trotz des dunklen Tuches die Hand schützend vor die Augen halten. Das gewaltige Lichtband des Blitzes und sein fürchterliches Gegenstück waren ineinander verschlungen – ein gleißender, weiß glühender Lichtblitz, umschlungen von einem knisternden schwarzen Band, das ein Riß in der Materie der Weit zu sein schien, gewaltige Kräfte, die sich in einem einzigen explosionsartigen Augenblick verbanden und entluden.
Es schien, als wären die gleißende Helligkeit der trostlosen Ebene sowie die brüllende Hitze der Säulen der Schöpfung für die Spanne eines Herzschlags in einem einzigen Punkt vereint und unmittelbar darauf wieder entladen worden. Im nu hatte die Zündung dieses explosiven Lichtblitzes die tausend Mann starke Streitmacht in einer strahlend aufleuchtenden roten Wolke vernichtet. Nach dem ebenso plötzlichen Abklingen des krachenden Donners und der heftigen Erschütterung waren die eintausend Mann nicht mehr zu sehen.
Ein einzelner Mann setzte inmitten der rauchenden Überreste von Pferden und Reitern unbeirrt seinen Weg in Richtung Pfad fort; es schien, als wäre er nicht mal aus dem Tritt gekommen.
Nicht so sehr die Art und Weise, eine derartige Verheerung anzurichten, sondern die entschlossenen Bewegungen des Mannes waren es, die Jennsen das wahre Ausmaß seines fürchterlichen Zorns erkennen ließen.
»Bei den Gütigen Seelen«, meinte Jennsen leise. »Was mag da nur geschehen sein?«
»Nur durch Selbstaufopferung gelangt man zum Seelenheil«, lautete Schwester Perditas trockener Kommentar. »Diese Männer sind in Diensten der Imperialen Ordnung und somit des Schöpfers gestorben; das ist die höchste Berufung des Schöpfers. Es ist absolut unnötig, um sie zu trauern – durch ihre Ergebenheit und Treue haben sie ihr Seelenheil erreicht.«
Jennsen konnte sie nur verblüfft anstarren.
»Wer mag das sein?«, fragte Sebastian, während er beobachtete, wie der einsame Mann den Rand des Tales der Säulen der Schöpfung erreichte und ohne anzuhalten den Abstieg begann. »Habt Ihr eine Ahnung?«
»Das ist ohne Bedeutung.« Schwester Perdita wandte sich um. »Wir haben einen Auftrag zu erfüllen.«
»Dann sollten wir uns besser beeilen«, meinte Sebastian besorgt, den Blick immer noch auf die ferne Gestalt gerichtet, die sich ihnen mit schnellen, gleichmäßigen und unerbittlichen Schritten auf dem Pfad näherte.